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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Zur Reform des Armenwesens

Reiches haben in dem Jahrzehnt 1890 bis 1900 bedeutend zugenommen, und
zwar mit dem Resultat, daß der Bevölkerungsgewinn bestimmter Landesteile
und der Bevölkerungsverlust andrer Landesteile in fortwährender Zunahme be¬
griffen sind; so zum Beispiel betrug der Gewinn -- berechnet in Prozenten
der Gebnrtsbevölkerung -- für

Berlin........... 76 Prozent
Hamburg.......... os "
Bremen.......... 40 "
Lübeck........... 32 "
Westfalen......... 9
Königreich Sachsen...... 7
Rheinland......... 6 "

dagegen der Verlust für die Provinzen

Ostpreußen......... Is Prozent
Posen........... Is "
Pommern......... 12 "
Westpreußen......... 1l "

In diesen Zahlen tritt klar zutage, wie sich die Großstädte auf Kosten
andrer Landesteile mit solcher Rcischhcit vergrößern, daß bei einzelnen -- Berlin
und Hamburg -- die Zahl der Zugewanderten sogar schon größer ist als die
Zahl der am Orte gebornen Einwohner.

Es ist aber nicht die Quantität der Zu- und der Abwandernden allein,
die eine Benachteiligung des platten Landes ergibt, sondern das Bild stellt
sich noch viel ungünstiger, wenn man die Qualität der Bevölkerung, ihre Zu¬
gehörigkeit zu den arbeitsfähigen Altersklassen, in Betracht zieht. Dann ergibt
sich nämlich, daß in den Städten auf je 100 Arbeitsfähige nur je 72 Nicht¬
arbeitsfähige (Kinder und Greise) kommen, während auf dem Lande 100 Arbeits¬
fähige mit 96 Nichtarbeitsfähigen belastet sind. Diese Belastung beträgt in
Ostpreußen sogar je 109, während sie in Berlin mit je 51 Nichtarbeitsfähigen
am niedrigsten ist.

Hieraus ergibt sich eine doppelte Verschlechterung der Lage der meisten
Landgemeinden und kleinen Städte. Erstens werden sie durch die Abwanderung
ihrer arbeitsfähigsten Bevölkerungsteile wirtschaftlich geschwächt, da deren Arbeits¬
und Steucrkraft ihnen nicht mehr zugute kommt; sodann aber werden sie zu¬
gunsten der Abgewanderten, falls diese anderswo in Bedrängnis geraten, noch
eine Reihe von Jahren zu Unterstützungen genötigt, die ihnen vielfach zur
drückenden Belastung gereichen.

Aber neben diesen: durch die Zunahme der Binnenwanderung verschärften
Übelstande hat sich im Lauf der letzten Jahrzehnte noch ein andrer entwickelt.
Die rasche Fortentwicklung der Verkehrsmittel -- Straßenbahnen, Kleinbahnen,
Vorortsverkehr zu ermäßigten Preisen -- und die starke Zunahme des Rad-
fnhrens hat es mit sich gebracht, daß der Arbeiter nicht mehr an seinem Wohnort
allein, sondern auch in dessen näherer oder fernerer Umgebung Arbeit anzu¬
nehmen in der Lage ist. Arbeits- und Wohngemeinde brauchen sich nicht mehr


Grenzboten II 1906 38
Zur Reform des Armenwesens

Reiches haben in dem Jahrzehnt 1890 bis 1900 bedeutend zugenommen, und
zwar mit dem Resultat, daß der Bevölkerungsgewinn bestimmter Landesteile
und der Bevölkerungsverlust andrer Landesteile in fortwährender Zunahme be¬
griffen sind; so zum Beispiel betrug der Gewinn — berechnet in Prozenten
der Gebnrtsbevölkerung — für

Berlin........... 76 Prozent
Hamburg.......... os „
Bremen.......... 40 „
Lübeck........... 32 „
Westfalen......... 9
Königreich Sachsen...... 7
Rheinland......... 6 „

dagegen der Verlust für die Provinzen

Ostpreußen......... Is Prozent
Posen........... Is „
Pommern......... 12 „
Westpreußen......... 1l „

In diesen Zahlen tritt klar zutage, wie sich die Großstädte auf Kosten
andrer Landesteile mit solcher Rcischhcit vergrößern, daß bei einzelnen — Berlin
und Hamburg — die Zahl der Zugewanderten sogar schon größer ist als die
Zahl der am Orte gebornen Einwohner.

Es ist aber nicht die Quantität der Zu- und der Abwandernden allein,
die eine Benachteiligung des platten Landes ergibt, sondern das Bild stellt
sich noch viel ungünstiger, wenn man die Qualität der Bevölkerung, ihre Zu¬
gehörigkeit zu den arbeitsfähigen Altersklassen, in Betracht zieht. Dann ergibt
sich nämlich, daß in den Städten auf je 100 Arbeitsfähige nur je 72 Nicht¬
arbeitsfähige (Kinder und Greise) kommen, während auf dem Lande 100 Arbeits¬
fähige mit 96 Nichtarbeitsfähigen belastet sind. Diese Belastung beträgt in
Ostpreußen sogar je 109, während sie in Berlin mit je 51 Nichtarbeitsfähigen
am niedrigsten ist.

Hieraus ergibt sich eine doppelte Verschlechterung der Lage der meisten
Landgemeinden und kleinen Städte. Erstens werden sie durch die Abwanderung
ihrer arbeitsfähigsten Bevölkerungsteile wirtschaftlich geschwächt, da deren Arbeits¬
und Steucrkraft ihnen nicht mehr zugute kommt; sodann aber werden sie zu¬
gunsten der Abgewanderten, falls diese anderswo in Bedrängnis geraten, noch
eine Reihe von Jahren zu Unterstützungen genötigt, die ihnen vielfach zur
drückenden Belastung gereichen.

Aber neben diesen: durch die Zunahme der Binnenwanderung verschärften
Übelstande hat sich im Lauf der letzten Jahrzehnte noch ein andrer entwickelt.
Die rasche Fortentwicklung der Verkehrsmittel — Straßenbahnen, Kleinbahnen,
Vorortsverkehr zu ermäßigten Preisen — und die starke Zunahme des Rad-
fnhrens hat es mit sich gebracht, daß der Arbeiter nicht mehr an seinem Wohnort
allein, sondern auch in dessen näherer oder fernerer Umgebung Arbeit anzu¬
nehmen in der Lage ist. Arbeits- und Wohngemeinde brauchen sich nicht mehr


Grenzboten II 1906 38
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[0309] Zur Reform des Armenwesens Reiches haben in dem Jahrzehnt 1890 bis 1900 bedeutend zugenommen, und zwar mit dem Resultat, daß der Bevölkerungsgewinn bestimmter Landesteile und der Bevölkerungsverlust andrer Landesteile in fortwährender Zunahme be¬ griffen sind; so zum Beispiel betrug der Gewinn — berechnet in Prozenten der Gebnrtsbevölkerung — für Berlin........... 76 Prozent Hamburg.......... os „ Bremen.......... 40 „ Lübeck........... 32 „ Westfalen......... 9 Königreich Sachsen...... 7 Rheinland......... 6 „ dagegen der Verlust für die Provinzen Ostpreußen......... Is Prozent Posen........... Is „ Pommern......... 12 „ Westpreußen......... 1l „ In diesen Zahlen tritt klar zutage, wie sich die Großstädte auf Kosten andrer Landesteile mit solcher Rcischhcit vergrößern, daß bei einzelnen — Berlin und Hamburg — die Zahl der Zugewanderten sogar schon größer ist als die Zahl der am Orte gebornen Einwohner. Es ist aber nicht die Quantität der Zu- und der Abwandernden allein, die eine Benachteiligung des platten Landes ergibt, sondern das Bild stellt sich noch viel ungünstiger, wenn man die Qualität der Bevölkerung, ihre Zu¬ gehörigkeit zu den arbeitsfähigen Altersklassen, in Betracht zieht. Dann ergibt sich nämlich, daß in den Städten auf je 100 Arbeitsfähige nur je 72 Nicht¬ arbeitsfähige (Kinder und Greise) kommen, während auf dem Lande 100 Arbeits¬ fähige mit 96 Nichtarbeitsfähigen belastet sind. Diese Belastung beträgt in Ostpreußen sogar je 109, während sie in Berlin mit je 51 Nichtarbeitsfähigen am niedrigsten ist. Hieraus ergibt sich eine doppelte Verschlechterung der Lage der meisten Landgemeinden und kleinen Städte. Erstens werden sie durch die Abwanderung ihrer arbeitsfähigsten Bevölkerungsteile wirtschaftlich geschwächt, da deren Arbeits¬ und Steucrkraft ihnen nicht mehr zugute kommt; sodann aber werden sie zu¬ gunsten der Abgewanderten, falls diese anderswo in Bedrängnis geraten, noch eine Reihe von Jahren zu Unterstützungen genötigt, die ihnen vielfach zur drückenden Belastung gereichen. Aber neben diesen: durch die Zunahme der Binnenwanderung verschärften Übelstande hat sich im Lauf der letzten Jahrzehnte noch ein andrer entwickelt. Die rasche Fortentwicklung der Verkehrsmittel — Straßenbahnen, Kleinbahnen, Vorortsverkehr zu ermäßigten Preisen — und die starke Zunahme des Rad- fnhrens hat es mit sich gebracht, daß der Arbeiter nicht mehr an seinem Wohnort allein, sondern auch in dessen näherer oder fernerer Umgebung Arbeit anzu¬ nehmen in der Lage ist. Arbeits- und Wohngemeinde brauchen sich nicht mehr Grenzboten II 1906 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/309>, abgerufen am 24.07.2024.