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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

für beide Länder etwas ungemein gekünsteltes. Ist ihre Sorge um den Frieden
Europas wirklich so groß, wie ihre Diplomatie behauptet, so wäre für England wie
für Frankreich das Gegebne und das Nächstliegende, ein enges Einvernehmen mit
Deutschland zu suchen. Wir würden von Frankreich nichts weiter verlangen als
einen wenn auch stillen, so doch endgiltigen Verzicht auf Elsaß-Lothringen; Wünsche,
die wir bei England hätten, wären doch wohl mir sehr unbedeutend und kolonialer
Natur. Freilich müßten sich dazu England und sein König von der kleinlichen Eifer¬
süchtelei freimachen, die sich gegenwärtig bis auf Kiautschou erstreckt und vielleicht
mit die Hand im Spiele hat, wenn die Japaner die erdenklichsten Anstrengungen
machen, gegen uns im Hinterkante von Kiautschou eine unübersteigliche Barriere
von japanischen Ansiedlungen aller Art zu errichten. Seitdem die Engländer Wei-
sel-wei vertragsmäßig an China zurückgegeben haben, scheint die deutsche Nieder¬
lassung ihnen besonders unbequem zu sein. Außerordentlich bezeichnend ist es, daß
ein nicht geringer Teil der englischen Presse in dem türkisch-ägyptischen Streit sofort
Deutschland hinter der Türkei witterte, während es sich in Wahrheit mehr um eine
Differenz des Scheich ni Islam mit dem Khedive handelte. Daß die Türken die
Sinai-Halbinsel nicht ohne weiteres dem Khedive, also England, überlassen wollen,
kann ihnen niemand verdenken, aber Deutschland hat mit diesen Dingen nichts weiter
zu tun, als in Konstantinopel zur Mäßigung zu raten.

Der Verlauf der Reichstagsdebatte über die Diätenvorlage hat insofern überrascht,
als die Regierung für diesen Schritt, der noch vor Jahresfrist als Unmöglichkeit galt, recht
wenig Dank geerntet hat. Es war sehr wesentlich, daß Graf Posadowsky bei der
Einbringung einer solchen Vorlage auf den Umstand verwiesen hat, daß ein großer
Teil unsrer Reichsgesetze der verfassungsmäßigen Grundlage entbehrt und weil auf
Minoritätsbeschlüssen beruhend eigentlich ungesetzlich ist. Den Lesern der Grenz¬
boten ist dieses Argument nicht neu. Bei solchen Beschlüssen wird bekanntlich die
Zahl der Anwesenden nicht festgestellt. Sollte es aber doch zum Betspiel von
Gegnern eines solchen Gesetzes einmal geschehn, so könnten wir den Fall erleben,
daß die Gerichte einem solchen, nicht auf der Annahme durch einen beschlußfähigen
Reichstag beruhenden Gesetze die Billigkeit absprechen. scherzhaft ist schon bemerkt
worden, man könne auf diese Weise eine ganze Menge unbequemer Gesetze wieder
loswerden. Von Rechts wegen müßte die Überweisung jeder im Reichstage angenommnen
Vorlage vom Präsidium des Reichstags an den Bundesrat mit einer protokollarischen
Feststellung begleitet sein, daß der Beschluß verfassungsgemäß rief zustande gekommen
ist. Ohne eine solche Bestätigung soll eine aus dem Reichstage zurückgekommne
Vorlage im Bundesrat gar nicht weiter in Behandlung genommen werden. Der
Vorsitzende des Bundesrath, der Reichskanzler, wäre sicherlich heute schon durchaus
gesetzmäßig in der Lage, vom Präsidenten des Reichstags eine Erklärung über die
verfassungsmäßige Rechtsgiltigkeit eines solchen Beschlusses zu verlangen. Es wäre
das auch vielleicht ein Mittel gewesen, dem Schwänzen der Sitzungen ein Ende zu
machen. Da in Zukunft ja jedenfalls eine gesetzliche Anwesenheitskontrolle statt¬
findet, so bestünde gar keine Schwierigkeit, das Verzeichnis der Fehlenden in jedem
Sitzungsbericht zu veröffentlichen. Die Abgeordneten haben sogar ein Anrecht auf
ein solches Verzeichnis, um daraus rechtzeitig zu erfahren, ob etwa ein Versehen
in der Kontrolle stattgefunden hat. Daß die Sozialdemokraten auf die Vorlage
schimpfen, ist selbstverständlich. Das machen sie mit jedem ihnen erwünschten Gesetz,
von dem sie wissen, daß es auch ohne sie angenommen wird. Es ist ihre besondre
Taktik, gegen Vorlagen zu sprechen und zu schimpfen, deren Annahme sie wünschen.

Die Erledigung der Vorlage scheint übrigens noch manche Schwierigkeiten zu
enthüllen. Vor allem ist die dadurch berührte preußische Verfassungsfrage nicht so
einfach zu ordnen. Die preußische Verfassung ist vom Könige und von beiden Häusern
des Landtags beschworen worden, und ihre Bestimmungen können durch Reichs¬
gesetz nicht ohne weiteres außer Kraft gesetzt werden. Das könnte unter Umständen
weit führen. Reichsrecht bricht Landesrecht auf den der Reichsgesetzgebung unter¬
stellten Gebieten, zu denen Verfassungen aber doch nicht ohne weiteres gehören. Es


Maßgebliches und Unmaßgebliches

für beide Länder etwas ungemein gekünsteltes. Ist ihre Sorge um den Frieden
Europas wirklich so groß, wie ihre Diplomatie behauptet, so wäre für England wie
für Frankreich das Gegebne und das Nächstliegende, ein enges Einvernehmen mit
Deutschland zu suchen. Wir würden von Frankreich nichts weiter verlangen als
einen wenn auch stillen, so doch endgiltigen Verzicht auf Elsaß-Lothringen; Wünsche,
die wir bei England hätten, wären doch wohl mir sehr unbedeutend und kolonialer
Natur. Freilich müßten sich dazu England und sein König von der kleinlichen Eifer¬
süchtelei freimachen, die sich gegenwärtig bis auf Kiautschou erstreckt und vielleicht
mit die Hand im Spiele hat, wenn die Japaner die erdenklichsten Anstrengungen
machen, gegen uns im Hinterkante von Kiautschou eine unübersteigliche Barriere
von japanischen Ansiedlungen aller Art zu errichten. Seitdem die Engländer Wei-
sel-wei vertragsmäßig an China zurückgegeben haben, scheint die deutsche Nieder¬
lassung ihnen besonders unbequem zu sein. Außerordentlich bezeichnend ist es, daß
ein nicht geringer Teil der englischen Presse in dem türkisch-ägyptischen Streit sofort
Deutschland hinter der Türkei witterte, während es sich in Wahrheit mehr um eine
Differenz des Scheich ni Islam mit dem Khedive handelte. Daß die Türken die
Sinai-Halbinsel nicht ohne weiteres dem Khedive, also England, überlassen wollen,
kann ihnen niemand verdenken, aber Deutschland hat mit diesen Dingen nichts weiter
zu tun, als in Konstantinopel zur Mäßigung zu raten.

Der Verlauf der Reichstagsdebatte über die Diätenvorlage hat insofern überrascht,
als die Regierung für diesen Schritt, der noch vor Jahresfrist als Unmöglichkeit galt, recht
wenig Dank geerntet hat. Es war sehr wesentlich, daß Graf Posadowsky bei der
Einbringung einer solchen Vorlage auf den Umstand verwiesen hat, daß ein großer
Teil unsrer Reichsgesetze der verfassungsmäßigen Grundlage entbehrt und weil auf
Minoritätsbeschlüssen beruhend eigentlich ungesetzlich ist. Den Lesern der Grenz¬
boten ist dieses Argument nicht neu. Bei solchen Beschlüssen wird bekanntlich die
Zahl der Anwesenden nicht festgestellt. Sollte es aber doch zum Betspiel von
Gegnern eines solchen Gesetzes einmal geschehn, so könnten wir den Fall erleben,
daß die Gerichte einem solchen, nicht auf der Annahme durch einen beschlußfähigen
Reichstag beruhenden Gesetze die Billigkeit absprechen. scherzhaft ist schon bemerkt
worden, man könne auf diese Weise eine ganze Menge unbequemer Gesetze wieder
loswerden. Von Rechts wegen müßte die Überweisung jeder im Reichstage angenommnen
Vorlage vom Präsidium des Reichstags an den Bundesrat mit einer protokollarischen
Feststellung begleitet sein, daß der Beschluß verfassungsgemäß rief zustande gekommen
ist. Ohne eine solche Bestätigung soll eine aus dem Reichstage zurückgekommne
Vorlage im Bundesrat gar nicht weiter in Behandlung genommen werden. Der
Vorsitzende des Bundesrath, der Reichskanzler, wäre sicherlich heute schon durchaus
gesetzmäßig in der Lage, vom Präsidenten des Reichstags eine Erklärung über die
verfassungsmäßige Rechtsgiltigkeit eines solchen Beschlusses zu verlangen. Es wäre
das auch vielleicht ein Mittel gewesen, dem Schwänzen der Sitzungen ein Ende zu
machen. Da in Zukunft ja jedenfalls eine gesetzliche Anwesenheitskontrolle statt¬
findet, so bestünde gar keine Schwierigkeit, das Verzeichnis der Fehlenden in jedem
Sitzungsbericht zu veröffentlichen. Die Abgeordneten haben sogar ein Anrecht auf
ein solches Verzeichnis, um daraus rechtzeitig zu erfahren, ob etwa ein Versehen
in der Kontrolle stattgefunden hat. Daß die Sozialdemokraten auf die Vorlage
schimpfen, ist selbstverständlich. Das machen sie mit jedem ihnen erwünschten Gesetz,
von dem sie wissen, daß es auch ohne sie angenommen wird. Es ist ihre besondre
Taktik, gegen Vorlagen zu sprechen und zu schimpfen, deren Annahme sie wünschen.

Die Erledigung der Vorlage scheint übrigens noch manche Schwierigkeiten zu
enthüllen. Vor allem ist die dadurch berührte preußische Verfassungsfrage nicht so
einfach zu ordnen. Die preußische Verfassung ist vom Könige und von beiden Häusern
des Landtags beschworen worden, und ihre Bestimmungen können durch Reichs¬
gesetz nicht ohne weiteres außer Kraft gesetzt werden. Das könnte unter Umständen
weit führen. Reichsrecht bricht Landesrecht auf den der Reichsgesetzgebung unter¬
stellten Gebieten, zu denen Verfassungen aber doch nicht ohne weiteres gehören. Es


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[0294] Maßgebliches und Unmaßgebliches für beide Länder etwas ungemein gekünsteltes. Ist ihre Sorge um den Frieden Europas wirklich so groß, wie ihre Diplomatie behauptet, so wäre für England wie für Frankreich das Gegebne und das Nächstliegende, ein enges Einvernehmen mit Deutschland zu suchen. Wir würden von Frankreich nichts weiter verlangen als einen wenn auch stillen, so doch endgiltigen Verzicht auf Elsaß-Lothringen; Wünsche, die wir bei England hätten, wären doch wohl mir sehr unbedeutend und kolonialer Natur. Freilich müßten sich dazu England und sein König von der kleinlichen Eifer¬ süchtelei freimachen, die sich gegenwärtig bis auf Kiautschou erstreckt und vielleicht mit die Hand im Spiele hat, wenn die Japaner die erdenklichsten Anstrengungen machen, gegen uns im Hinterkante von Kiautschou eine unübersteigliche Barriere von japanischen Ansiedlungen aller Art zu errichten. Seitdem die Engländer Wei- sel-wei vertragsmäßig an China zurückgegeben haben, scheint die deutsche Nieder¬ lassung ihnen besonders unbequem zu sein. Außerordentlich bezeichnend ist es, daß ein nicht geringer Teil der englischen Presse in dem türkisch-ägyptischen Streit sofort Deutschland hinter der Türkei witterte, während es sich in Wahrheit mehr um eine Differenz des Scheich ni Islam mit dem Khedive handelte. Daß die Türken die Sinai-Halbinsel nicht ohne weiteres dem Khedive, also England, überlassen wollen, kann ihnen niemand verdenken, aber Deutschland hat mit diesen Dingen nichts weiter zu tun, als in Konstantinopel zur Mäßigung zu raten. Der Verlauf der Reichstagsdebatte über die Diätenvorlage hat insofern überrascht, als die Regierung für diesen Schritt, der noch vor Jahresfrist als Unmöglichkeit galt, recht wenig Dank geerntet hat. Es war sehr wesentlich, daß Graf Posadowsky bei der Einbringung einer solchen Vorlage auf den Umstand verwiesen hat, daß ein großer Teil unsrer Reichsgesetze der verfassungsmäßigen Grundlage entbehrt und weil auf Minoritätsbeschlüssen beruhend eigentlich ungesetzlich ist. Den Lesern der Grenz¬ boten ist dieses Argument nicht neu. Bei solchen Beschlüssen wird bekanntlich die Zahl der Anwesenden nicht festgestellt. Sollte es aber doch zum Betspiel von Gegnern eines solchen Gesetzes einmal geschehn, so könnten wir den Fall erleben, daß die Gerichte einem solchen, nicht auf der Annahme durch einen beschlußfähigen Reichstag beruhenden Gesetze die Billigkeit absprechen. scherzhaft ist schon bemerkt worden, man könne auf diese Weise eine ganze Menge unbequemer Gesetze wieder loswerden. Von Rechts wegen müßte die Überweisung jeder im Reichstage angenommnen Vorlage vom Präsidium des Reichstags an den Bundesrat mit einer protokollarischen Feststellung begleitet sein, daß der Beschluß verfassungsgemäß rief zustande gekommen ist. Ohne eine solche Bestätigung soll eine aus dem Reichstage zurückgekommne Vorlage im Bundesrat gar nicht weiter in Behandlung genommen werden. Der Vorsitzende des Bundesrath, der Reichskanzler, wäre sicherlich heute schon durchaus gesetzmäßig in der Lage, vom Präsidenten des Reichstags eine Erklärung über die verfassungsmäßige Rechtsgiltigkeit eines solchen Beschlusses zu verlangen. Es wäre das auch vielleicht ein Mittel gewesen, dem Schwänzen der Sitzungen ein Ende zu machen. Da in Zukunft ja jedenfalls eine gesetzliche Anwesenheitskontrolle statt¬ findet, so bestünde gar keine Schwierigkeit, das Verzeichnis der Fehlenden in jedem Sitzungsbericht zu veröffentlichen. Die Abgeordneten haben sogar ein Anrecht auf ein solches Verzeichnis, um daraus rechtzeitig zu erfahren, ob etwa ein Versehen in der Kontrolle stattgefunden hat. Daß die Sozialdemokraten auf die Vorlage schimpfen, ist selbstverständlich. Das machen sie mit jedem ihnen erwünschten Gesetz, von dem sie wissen, daß es auch ohne sie angenommen wird. Es ist ihre besondre Taktik, gegen Vorlagen zu sprechen und zu schimpfen, deren Annahme sie wünschen. Die Erledigung der Vorlage scheint übrigens noch manche Schwierigkeiten zu enthüllen. Vor allem ist die dadurch berührte preußische Verfassungsfrage nicht so einfach zu ordnen. Die preußische Verfassung ist vom Könige und von beiden Häusern des Landtags beschworen worden, und ihre Bestimmungen können durch Reichs¬ gesetz nicht ohne weiteres außer Kraft gesetzt werden. Das könnte unter Umständen weit führen. Reichsrecht bricht Landesrecht auf den der Reichsgesetzgebung unter¬ stellten Gebieten, zu denen Verfassungen aber doch nicht ohne weiteres gehören. Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/294>, abgerufen am 27.12.2024.