Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Während jedoch die schöngeistige Literatur, indem sie ihren Siegeslauf antrat, Eine ähnliche Wirkung hatte auch die "Aufklärung," die zum allgemeinen Zunächst in ihren rein ethischen Zielen gelangte diese Bewegung, die alle Grenzboten 1t 1906 2
Während jedoch die schöngeistige Literatur, indem sie ihren Siegeslauf antrat, Eine ähnliche Wirkung hatte auch die „Aufklärung," die zum allgemeinen Zunächst in ihren rein ethischen Zielen gelangte diese Bewegung, die alle Grenzboten 1t 1906 2
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0019" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299060"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_31" prev="#ID_30"> Während jedoch die schöngeistige Literatur, indem sie ihren Siegeslauf antrat,<lb/> die Nachbarvölker überflügelte, behielten Engländer und Franzosen in den<lb/> Staatswissenschaften die Führung. „Denn die deutschen Leser brachten den<lb/> Publizisten wohl ein reicheres Maß an Geschichtskenntnisscn entgegen als jene,<lb/> aber keinen Schimmer von politischem Verständnis. . . . Unsrer klassischen<lb/> Literatur fehlte, um jenes vermitteln zu können, der Boden der nationalen<lb/> Macht. Die Nation lief Gefahr, einer krankhaften Überschätzung der geistigen<lb/> Güter zu verfallen, da ihr litterarisches Wesen so viel herrlicher war als das<lb/> politische. Der Patriotismus der Dichter blieb zu innerlich, um unmittelbar<lb/> auf das Volk zu wirken. Der edle, weltbürgerliche Zug, der die gesamte<lb/> Literatur des achtzehnten Jahrhunderts erfüllte, faud hier nicht wie in Frank¬<lb/> reich ein Gegengewicht an einem durchgebildeten Nationalstolze; er drohte die<lb/> Deutschen ihrem eignen Staate zu entfremden."</p><lb/> <p xml:id="ID_32"> Eine ähnliche Wirkung hatte auch die „Aufklärung," die zum allgemeinen<lb/> Losungsworte der Zeit geworden war. Deutsche waren es, die durch die<lb/> Reformation den ersten Anstoß gegeben hatten. Aber die Nation vermochte<lb/> die Früchte der eignen ersten Aussaat nicht zu ernten, weil politischer und<lb/> religiöser Hader das Land jahrhundertelang zum Tummelplatz fremder Be¬<lb/> gehrlichkeit, zur Dreschtenne Europas gemacht hatte. Wenn gleichwohl die<lb/> einmal gelegten Keime der Licht und Warme spendenden humanistischen Be¬<lb/> strebungen ihre Unverwüstlichkeit erwiesen und deshalb unter dem Schutte einer<lb/> zerstörten reichen Kultur verborgen weiter sprossen konnten, so blieb ihre Nutz¬<lb/> anwendung auf das politische und gesellschaftliche Gebiet nicht dem Ursprungs¬<lb/> lande vorbehalten, sondern einem Volke, dem in der nationalen Geschlossenheit<lb/> nur die Franzosen gleichkamen, während es an politischer Reife allen andern<lb/> voraus und überlegen war: den Engländern. So konnte es kommen, daß die<lb/> Aufklärung ruaclo in (^sring-n^ im achtzehnten Jahrhundert von der grünen<lb/> Insel über Frankreich und dort radikalisiert wieder zu uns zurückkam. Aber<lb/> die Deutschen, die bei ihrer Vielstaaterei nichts weniger als eine geschlossene<lb/> Nation mit gemeinsamem Nationalgefühl, politischen Interessen und Instinkten<lb/> oder gar nationaler Disziplin waren, erwiesen sich zu wenig widerstandsfähig,<lb/> den gerade ihnen so gefährlichen Auswüchsen verschwommner Weltbürgerlichkeit<lb/> zu begegnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_33" next="#ID_34"> Zunächst in ihren rein ethischen Zielen gelangte diese Bewegung, die alle<lb/> Mißstände in Staat, Kirche und Gesellschaft beseitigen wollte, zu eiuer bedauer¬<lb/> lichen Verflachung. Denn obwohl sie sich in Deutschland im großen und<lb/> ganzen viel edler gestaltete als bei den radikalen Franzosen, so krankte sie<lb/> wie dort auch bei uns sehr bald an der Unwahrheit einer zügellosen Frei¬<lb/> geisterei und Sittenlosigkeit. Die Anhänger der Aufklärung hatten weder den<lb/> ernsten Willen noch die innere Kraft, das Leben seinen hohem Zielen anzu¬<lb/> passen; und so wurde die Moral eine weichliche, dehnbare, ja „sie artete, sagt<lb/> Philippson, in ihren populären Schriften häufig in eine spießbürgerliche Nützlich¬<lb/> keitslehre aus. Gerade die Gebildeten lernten jede Handlung für erlaubt er¬<lb/> achten, die nicht der Allgemeinheit schadete und dabei seiner bürgerlichen Ehre<lb/> Eintrag tat. ... So ward die durch den Voltairianismus auf die höhern</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten 1t 1906 2</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0019]
Während jedoch die schöngeistige Literatur, indem sie ihren Siegeslauf antrat,
die Nachbarvölker überflügelte, behielten Engländer und Franzosen in den
Staatswissenschaften die Führung. „Denn die deutschen Leser brachten den
Publizisten wohl ein reicheres Maß an Geschichtskenntnisscn entgegen als jene,
aber keinen Schimmer von politischem Verständnis. . . . Unsrer klassischen
Literatur fehlte, um jenes vermitteln zu können, der Boden der nationalen
Macht. Die Nation lief Gefahr, einer krankhaften Überschätzung der geistigen
Güter zu verfallen, da ihr litterarisches Wesen so viel herrlicher war als das
politische. Der Patriotismus der Dichter blieb zu innerlich, um unmittelbar
auf das Volk zu wirken. Der edle, weltbürgerliche Zug, der die gesamte
Literatur des achtzehnten Jahrhunderts erfüllte, faud hier nicht wie in Frank¬
reich ein Gegengewicht an einem durchgebildeten Nationalstolze; er drohte die
Deutschen ihrem eignen Staate zu entfremden."
Eine ähnliche Wirkung hatte auch die „Aufklärung," die zum allgemeinen
Losungsworte der Zeit geworden war. Deutsche waren es, die durch die
Reformation den ersten Anstoß gegeben hatten. Aber die Nation vermochte
die Früchte der eignen ersten Aussaat nicht zu ernten, weil politischer und
religiöser Hader das Land jahrhundertelang zum Tummelplatz fremder Be¬
gehrlichkeit, zur Dreschtenne Europas gemacht hatte. Wenn gleichwohl die
einmal gelegten Keime der Licht und Warme spendenden humanistischen Be¬
strebungen ihre Unverwüstlichkeit erwiesen und deshalb unter dem Schutte einer
zerstörten reichen Kultur verborgen weiter sprossen konnten, so blieb ihre Nutz¬
anwendung auf das politische und gesellschaftliche Gebiet nicht dem Ursprungs¬
lande vorbehalten, sondern einem Volke, dem in der nationalen Geschlossenheit
nur die Franzosen gleichkamen, während es an politischer Reife allen andern
voraus und überlegen war: den Engländern. So konnte es kommen, daß die
Aufklärung ruaclo in (^sring-n^ im achtzehnten Jahrhundert von der grünen
Insel über Frankreich und dort radikalisiert wieder zu uns zurückkam. Aber
die Deutschen, die bei ihrer Vielstaaterei nichts weniger als eine geschlossene
Nation mit gemeinsamem Nationalgefühl, politischen Interessen und Instinkten
oder gar nationaler Disziplin waren, erwiesen sich zu wenig widerstandsfähig,
den gerade ihnen so gefährlichen Auswüchsen verschwommner Weltbürgerlichkeit
zu begegnen.
Zunächst in ihren rein ethischen Zielen gelangte diese Bewegung, die alle
Mißstände in Staat, Kirche und Gesellschaft beseitigen wollte, zu eiuer bedauer¬
lichen Verflachung. Denn obwohl sie sich in Deutschland im großen und
ganzen viel edler gestaltete als bei den radikalen Franzosen, so krankte sie
wie dort auch bei uns sehr bald an der Unwahrheit einer zügellosen Frei¬
geisterei und Sittenlosigkeit. Die Anhänger der Aufklärung hatten weder den
ernsten Willen noch die innere Kraft, das Leben seinen hohem Zielen anzu¬
passen; und so wurde die Moral eine weichliche, dehnbare, ja „sie artete, sagt
Philippson, in ihren populären Schriften häufig in eine spießbürgerliche Nützlich¬
keitslehre aus. Gerade die Gebildeten lernten jede Handlung für erlaubt er¬
achten, die nicht der Allgemeinheit schadete und dabei seiner bürgerlichen Ehre
Eintrag tat. ... So ward die durch den Voltairianismus auf die höhern
Grenzboten 1t 1906 2
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |