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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Die magyarische Frage

auf gütlichem Wege fertig zu werden und schlug zu diesem Zweck eine Politik
ein, die aber nicht zu dem gewünschten Ergebnisse führte, sondern im Gegen¬
teil zunächst die Zersetzung der Regierungspartei und in weiterer Folge den
Sturz des Kabinetts und schließlich den Ausbruch der letzten noch nicht be¬
endeten großen Parlamcntskrise bewirkte. Ein altes Mitglied der liberalen
Partei, Graf Alexander Teleki, faßte in einem Gespräch, das ich im Herbst 1903
mit ihm hatte, seine Kritik der Politik Szells in den Satz zusammen: "Herr
von Szell regierte mit der liberalen Partei für die Opposition und ruinierte
dadurch jene, ohne diese zu gewinnen." Unter Koloman von Szell sah sich
die alte liberale Garde in die zweite Linie gedrängt. Seitdem durch das
Inkompatibilitätsgesetz die Möglichkeit beseitigt war, daß strebsame Mitglieder
der Regierungspartei für ihre Mühen von der Negierung durch einträgliche
Verwaltungsratsstellen belohnt werden, war ohnehin ein starkes Band zwischen
der liberalen Partei und der Regierung zerschnitten worden, jedoch Herr
von Szell trug auch noch ein übriges dazu bei, die Klammern zu lösen, die
die Regierungspartei zusammengehalten hatten. Weil er das Anschwellen der
staatsrechtlichen Opposition merkte, suchte er durch verdoppelte Rücksicht auf
ihre Führer im eignen Lager und in dem der Opposition diesem Prozesse
Einhalt zu tuu.

Graf Apponyi und Franz Kossuth hatten zunächst sein Ohr, und zähne¬
knirschend mußte die alte liberale Partei Bewegungen ausführen, von denen sie
wußte, daß der Ministerpräsident sie hinter ihrem Rücken mit den Führern der
Opposition vereinbart hatte. Das Wohlwollen dieser war Herrn von Szell mehr
wert als die Konsolidierung der Regierungspartei, und als er endlich die
Forderungen der Opposition nicht mehr erfüllen konnte, ohne seine Verpflichtungen
gegenüber der Krone zu verletzen, und als darum die Opposition mit der Ob¬
struktion begann, da fand Herr von Szell, daß die Regierungspartei ihm in¬
folge ihrer Zersetzung nicht mehr den festen Boden bot, von dem aus der Kampf
gegen die obstruierende Opposition mit Erfolg hätte eröffnet werden können.
Trotzdem konnte Herr von Szell sich nicht von seinen? Amte trennen. Er er¬
fand und empfahl der Krone die "passive Resistenz," und nun begann der
klägliche letzte Abschnitt des Regiments Szells, indem das Kabinett von Tag zu
Tag, von Monat zu Monat wartete, daß die Opposition zu einer "bessern
Einsicht" kommen werde. Wertvolle Konzessionen wurden der Opposition ge¬
boten, jedoch sie befriedigten sie nicht, sondern reizten ihren Appetit und be¬
wirkten, daß die folgenden Ministerien, Khuen und Tisza, schon mit dem
schweren Gepäck der unter Szell gebotnen Zugeständnisse ins Amt treten mußten,
ohne daß die Opposition auch nur um Haaresbreite aus ihren Stellungen
zurückgegangen wäre.

Die Erbschaft Szells war nicht leicht, aber Graf Stephan Tisza, der nach
dem verunglückten Versuche, unter dem Ministerium Khueu Ordnung zu machen,
mit der Leitung der Geschäfte betraut worden war, warf sich mit dem ganzen
Ungestüm seines Naturells auf die Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Es ist
heute kein Geheimnis mehr, daß die Krone nur unwillig und nach langem
Zögern Tisza mit der Kabiuettsbildung betraut hatte. Der kalvinistischen Gentry


Die magyarische Frage

auf gütlichem Wege fertig zu werden und schlug zu diesem Zweck eine Politik
ein, die aber nicht zu dem gewünschten Ergebnisse führte, sondern im Gegen¬
teil zunächst die Zersetzung der Regierungspartei und in weiterer Folge den
Sturz des Kabinetts und schließlich den Ausbruch der letzten noch nicht be¬
endeten großen Parlamcntskrise bewirkte. Ein altes Mitglied der liberalen
Partei, Graf Alexander Teleki, faßte in einem Gespräch, das ich im Herbst 1903
mit ihm hatte, seine Kritik der Politik Szells in den Satz zusammen: „Herr
von Szell regierte mit der liberalen Partei für die Opposition und ruinierte
dadurch jene, ohne diese zu gewinnen." Unter Koloman von Szell sah sich
die alte liberale Garde in die zweite Linie gedrängt. Seitdem durch das
Inkompatibilitätsgesetz die Möglichkeit beseitigt war, daß strebsame Mitglieder
der Regierungspartei für ihre Mühen von der Negierung durch einträgliche
Verwaltungsratsstellen belohnt werden, war ohnehin ein starkes Band zwischen
der liberalen Partei und der Regierung zerschnitten worden, jedoch Herr
von Szell trug auch noch ein übriges dazu bei, die Klammern zu lösen, die
die Regierungspartei zusammengehalten hatten. Weil er das Anschwellen der
staatsrechtlichen Opposition merkte, suchte er durch verdoppelte Rücksicht auf
ihre Führer im eignen Lager und in dem der Opposition diesem Prozesse
Einhalt zu tuu.

Graf Apponyi und Franz Kossuth hatten zunächst sein Ohr, und zähne¬
knirschend mußte die alte liberale Partei Bewegungen ausführen, von denen sie
wußte, daß der Ministerpräsident sie hinter ihrem Rücken mit den Führern der
Opposition vereinbart hatte. Das Wohlwollen dieser war Herrn von Szell mehr
wert als die Konsolidierung der Regierungspartei, und als er endlich die
Forderungen der Opposition nicht mehr erfüllen konnte, ohne seine Verpflichtungen
gegenüber der Krone zu verletzen, und als darum die Opposition mit der Ob¬
struktion begann, da fand Herr von Szell, daß die Regierungspartei ihm in¬
folge ihrer Zersetzung nicht mehr den festen Boden bot, von dem aus der Kampf
gegen die obstruierende Opposition mit Erfolg hätte eröffnet werden können.
Trotzdem konnte Herr von Szell sich nicht von seinen? Amte trennen. Er er¬
fand und empfahl der Krone die „passive Resistenz," und nun begann der
klägliche letzte Abschnitt des Regiments Szells, indem das Kabinett von Tag zu
Tag, von Monat zu Monat wartete, daß die Opposition zu einer „bessern
Einsicht" kommen werde. Wertvolle Konzessionen wurden der Opposition ge¬
boten, jedoch sie befriedigten sie nicht, sondern reizten ihren Appetit und be¬
wirkten, daß die folgenden Ministerien, Khuen und Tisza, schon mit dem
schweren Gepäck der unter Szell gebotnen Zugeständnisse ins Amt treten mußten,
ohne daß die Opposition auch nur um Haaresbreite aus ihren Stellungen
zurückgegangen wäre.

Die Erbschaft Szells war nicht leicht, aber Graf Stephan Tisza, der nach
dem verunglückten Versuche, unter dem Ministerium Khueu Ordnung zu machen,
mit der Leitung der Geschäfte betraut worden war, warf sich mit dem ganzen
Ungestüm seines Naturells auf die Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Es ist
heute kein Geheimnis mehr, daß die Krone nur unwillig und nach langem
Zögern Tisza mit der Kabiuettsbildung betraut hatte. Der kalvinistischen Gentry


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[0436] Die magyarische Frage auf gütlichem Wege fertig zu werden und schlug zu diesem Zweck eine Politik ein, die aber nicht zu dem gewünschten Ergebnisse führte, sondern im Gegen¬ teil zunächst die Zersetzung der Regierungspartei und in weiterer Folge den Sturz des Kabinetts und schließlich den Ausbruch der letzten noch nicht be¬ endeten großen Parlamcntskrise bewirkte. Ein altes Mitglied der liberalen Partei, Graf Alexander Teleki, faßte in einem Gespräch, das ich im Herbst 1903 mit ihm hatte, seine Kritik der Politik Szells in den Satz zusammen: „Herr von Szell regierte mit der liberalen Partei für die Opposition und ruinierte dadurch jene, ohne diese zu gewinnen." Unter Koloman von Szell sah sich die alte liberale Garde in die zweite Linie gedrängt. Seitdem durch das Inkompatibilitätsgesetz die Möglichkeit beseitigt war, daß strebsame Mitglieder der Regierungspartei für ihre Mühen von der Negierung durch einträgliche Verwaltungsratsstellen belohnt werden, war ohnehin ein starkes Band zwischen der liberalen Partei und der Regierung zerschnitten worden, jedoch Herr von Szell trug auch noch ein übriges dazu bei, die Klammern zu lösen, die die Regierungspartei zusammengehalten hatten. Weil er das Anschwellen der staatsrechtlichen Opposition merkte, suchte er durch verdoppelte Rücksicht auf ihre Führer im eignen Lager und in dem der Opposition diesem Prozesse Einhalt zu tuu. Graf Apponyi und Franz Kossuth hatten zunächst sein Ohr, und zähne¬ knirschend mußte die alte liberale Partei Bewegungen ausführen, von denen sie wußte, daß der Ministerpräsident sie hinter ihrem Rücken mit den Führern der Opposition vereinbart hatte. Das Wohlwollen dieser war Herrn von Szell mehr wert als die Konsolidierung der Regierungspartei, und als er endlich die Forderungen der Opposition nicht mehr erfüllen konnte, ohne seine Verpflichtungen gegenüber der Krone zu verletzen, und als darum die Opposition mit der Ob¬ struktion begann, da fand Herr von Szell, daß die Regierungspartei ihm in¬ folge ihrer Zersetzung nicht mehr den festen Boden bot, von dem aus der Kampf gegen die obstruierende Opposition mit Erfolg hätte eröffnet werden können. Trotzdem konnte Herr von Szell sich nicht von seinen? Amte trennen. Er er¬ fand und empfahl der Krone die „passive Resistenz," und nun begann der klägliche letzte Abschnitt des Regiments Szells, indem das Kabinett von Tag zu Tag, von Monat zu Monat wartete, daß die Opposition zu einer „bessern Einsicht" kommen werde. Wertvolle Konzessionen wurden der Opposition ge¬ boten, jedoch sie befriedigten sie nicht, sondern reizten ihren Appetit und be¬ wirkten, daß die folgenden Ministerien, Khuen und Tisza, schon mit dem schweren Gepäck der unter Szell gebotnen Zugeständnisse ins Amt treten mußten, ohne daß die Opposition auch nur um Haaresbreite aus ihren Stellungen zurückgegangen wäre. Die Erbschaft Szells war nicht leicht, aber Graf Stephan Tisza, der nach dem verunglückten Versuche, unter dem Ministerium Khueu Ordnung zu machen, mit der Leitung der Geschäfte betraut worden war, warf sich mit dem ganzen Ungestüm seines Naturells auf die Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Es ist heute kein Geheimnis mehr, daß die Krone nur unwillig und nach langem Zögern Tisza mit der Kabiuettsbildung betraut hatte. Der kalvinistischen Gentry

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/436>, abgerufen am 22.12.2024.