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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

Noch eine! Aber er nahm sich zusammen und machte geduldig das Kreuzeszeichen
auch über dieses überzählige, verspätete Beichtkind. Möchte sie es kurz machen!

Fintje aber machte es nicht kurz. Sie sah von dem Priester nichts, nur
fühlte sie durch das Holzgitter seine Nähe, die ihr andächtige Schauer ins Herz
jagte, als ob der liebe Gott selbst ihr sein Ohr leihe. Denn zu Gott redete sie
ja. Treuherzig und ausführlich wie ein gewissenhaftes Kind beichtete sie ihr ganzes
bisheriges Leben herunter.

Der Beichtvater hörte ihr beklommen zu. Da er die große Jugend des
Mädchengesichts nicht deutlich zu erkennen vermochte durch das Gitter, befürchtete
er, die Beichte werde bis in die Nacht hinein dauern, wenn die Beichtende fort¬
fahre, ihr Leben mit dieser Ausführlichkeit weiter zu schildern. Doch jetzt war sie
schon bei dem Punkt angelangt, bei dem die beichtenden Mädchen alle in ihrer
flüssigen Rede stockten und leiser flüsterten: Weil ich ihn so lieb hatte. . .

Die alte Geschichte. Unzähligen"! hatte der Priester die tränenreiche innige
Beteuerung schon vernommen. So wollten sich die törichten kleinen Mädchen immer
herausreden: Weil ich ihn so lieb hatte! Als er noch jung und voll Eifer war,
hatte es ihm immer in die Seele gegriffen, und er hatte Fragen gestellt voll
brennenden Mitleids, menschlich neugierige Fragen. Jetzt war er längst abgestumpft
und unbestechlich ruhig geworden, wie sichs für einen Priester geziemte. Es ist
immer dieselbe Geschichte, und er hat dieselben Antworten und Mahnungen immer
bereit.

Du hast, meine arme Tochter, gesündigt gegen das Gebot der Keuschheit.
Du hast mit deinem Leben ein Ärgernis gegeben deinen Mitmenschen. Du hast
die leitende Hand der Kirche verlassen. Du hast Gott beleidigt und die christliche
Kirche. Bereuen mußt du und gutmachen. Die Schätze, die d" dir auf sündigen!
Wege erworben hast, sollst du zum Opfer bringen.

Nein xsrs, ich besitze keine Schätze mehr, flüsterte Fintjes gebrochne Stimme.
Nur was ich am Leibe trage und das Büchlein in meiner Tasche gehört mir
zu eigen.

Zeig mir das Büchlein, verlangte der Priester. Und Fintje reichte ihm das
Testamentchen durch das kleine Schiebfenster hinein.

Der Priester schüttelte den Kopf.

Hast du viel darin gelesen?

Ich habe nichts darin gelesen, raon xörs, als die Namen auf dem ersten Blatt.

Es ist gut, meine Tochter. Das Büchlein ist nicht für Laien geschrieben. Ich
werde es dir gegen eins unsrer Gebetbücher umtauschen.

Mein Buch? Sie wollen mir mein Buch nicht wiedergeben?

Fintje vergaß den Ort, an dem sie kniete, und die ganze Feierlichkeit des
Augenblicks. Laut, mit erregter Stimme hatte sie die Frage getan.

Geben Sie mir mein Buch zurück, bitte, mon Mr"z, es ist mir sehr lieb!

Warum dieser Eifer? Du bekommst das Buch nicht zurück, es ginge Wider
mein Gewissen, dir das Büchlein der Ketzer wieder in die Hand zu geben.

Ich will aber mein Buch wieder haben! rief Fintje hart und grell. Sie
wußte auf einmal, wie ihrer Großmutter zumute gewesen sein mußte, als sie ihr
das Haus, das doch ihr Eigentum war, abrissen.

Geben Sie mir das Buch! Ich Habs in Ehren geschenkt bekommen, es ist
mein Eigentum! Das Buch will ich wieder haben, incmsiour 1<z ours, schrie sie
böse. Alles andre können Sie dafür behalten, meine ganze Seligkeit meinetwegen,
aber mein Buch, das will ich zurück haben!

Die feiste weiße Priesterhand reichte das Testament durch die Lücke zurück. Die
Andächtigen waren aufmerksam geworden durch Fintjes unheiliges Gekreisch und
sahen neugierig zu dem Beichtstuhl herüber. Der Priester zog die Stirn kraus.

Geh jetzt! Verstockt und eigensinnig bist du, keine sühnende und Bereuende!
Ich kann dir die Absolution nicht erteilen. Geh hin und bessere dich.


Im alten Brüssel

Noch eine! Aber er nahm sich zusammen und machte geduldig das Kreuzeszeichen
auch über dieses überzählige, verspätete Beichtkind. Möchte sie es kurz machen!

Fintje aber machte es nicht kurz. Sie sah von dem Priester nichts, nur
fühlte sie durch das Holzgitter seine Nähe, die ihr andächtige Schauer ins Herz
jagte, als ob der liebe Gott selbst ihr sein Ohr leihe. Denn zu Gott redete sie
ja. Treuherzig und ausführlich wie ein gewissenhaftes Kind beichtete sie ihr ganzes
bisheriges Leben herunter.

Der Beichtvater hörte ihr beklommen zu. Da er die große Jugend des
Mädchengesichts nicht deutlich zu erkennen vermochte durch das Gitter, befürchtete
er, die Beichte werde bis in die Nacht hinein dauern, wenn die Beichtende fort¬
fahre, ihr Leben mit dieser Ausführlichkeit weiter zu schildern. Doch jetzt war sie
schon bei dem Punkt angelangt, bei dem die beichtenden Mädchen alle in ihrer
flüssigen Rede stockten und leiser flüsterten: Weil ich ihn so lieb hatte. . .

Die alte Geschichte. Unzähligen»! hatte der Priester die tränenreiche innige
Beteuerung schon vernommen. So wollten sich die törichten kleinen Mädchen immer
herausreden: Weil ich ihn so lieb hatte! Als er noch jung und voll Eifer war,
hatte es ihm immer in die Seele gegriffen, und er hatte Fragen gestellt voll
brennenden Mitleids, menschlich neugierige Fragen. Jetzt war er längst abgestumpft
und unbestechlich ruhig geworden, wie sichs für einen Priester geziemte. Es ist
immer dieselbe Geschichte, und er hat dieselben Antworten und Mahnungen immer
bereit.

Du hast, meine arme Tochter, gesündigt gegen das Gebot der Keuschheit.
Du hast mit deinem Leben ein Ärgernis gegeben deinen Mitmenschen. Du hast
die leitende Hand der Kirche verlassen. Du hast Gott beleidigt und die christliche
Kirche. Bereuen mußt du und gutmachen. Die Schätze, die d» dir auf sündigen!
Wege erworben hast, sollst du zum Opfer bringen.

Nein xsrs, ich besitze keine Schätze mehr, flüsterte Fintjes gebrochne Stimme.
Nur was ich am Leibe trage und das Büchlein in meiner Tasche gehört mir
zu eigen.

Zeig mir das Büchlein, verlangte der Priester. Und Fintje reichte ihm das
Testamentchen durch das kleine Schiebfenster hinein.

Der Priester schüttelte den Kopf.

Hast du viel darin gelesen?

Ich habe nichts darin gelesen, raon xörs, als die Namen auf dem ersten Blatt.

Es ist gut, meine Tochter. Das Büchlein ist nicht für Laien geschrieben. Ich
werde es dir gegen eins unsrer Gebetbücher umtauschen.

Mein Buch? Sie wollen mir mein Buch nicht wiedergeben?

Fintje vergaß den Ort, an dem sie kniete, und die ganze Feierlichkeit des
Augenblicks. Laut, mit erregter Stimme hatte sie die Frage getan.

Geben Sie mir mein Buch zurück, bitte, mon Mr«z, es ist mir sehr lieb!

Warum dieser Eifer? Du bekommst das Buch nicht zurück, es ginge Wider
mein Gewissen, dir das Büchlein der Ketzer wieder in die Hand zu geben.

Ich will aber mein Buch wieder haben! rief Fintje hart und grell. Sie
wußte auf einmal, wie ihrer Großmutter zumute gewesen sein mußte, als sie ihr
das Haus, das doch ihr Eigentum war, abrissen.

Geben Sie mir das Buch! Ich Habs in Ehren geschenkt bekommen, es ist
mein Eigentum! Das Buch will ich wieder haben, incmsiour 1<z ours, schrie sie
böse. Alles andre können Sie dafür behalten, meine ganze Seligkeit meinetwegen,
aber mein Buch, das will ich zurück haben!

Die feiste weiße Priesterhand reichte das Testament durch die Lücke zurück. Die
Andächtigen waren aufmerksam geworden durch Fintjes unheiliges Gekreisch und
sahen neugierig zu dem Beichtstuhl herüber. Der Priester zog die Stirn kraus.

Geh jetzt! Verstockt und eigensinnig bist du, keine sühnende und Bereuende!
Ich kann dir die Absolution nicht erteilen. Geh hin und bessere dich.


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[0412] Im alten Brüssel Noch eine! Aber er nahm sich zusammen und machte geduldig das Kreuzeszeichen auch über dieses überzählige, verspätete Beichtkind. Möchte sie es kurz machen! Fintje aber machte es nicht kurz. Sie sah von dem Priester nichts, nur fühlte sie durch das Holzgitter seine Nähe, die ihr andächtige Schauer ins Herz jagte, als ob der liebe Gott selbst ihr sein Ohr leihe. Denn zu Gott redete sie ja. Treuherzig und ausführlich wie ein gewissenhaftes Kind beichtete sie ihr ganzes bisheriges Leben herunter. Der Beichtvater hörte ihr beklommen zu. Da er die große Jugend des Mädchengesichts nicht deutlich zu erkennen vermochte durch das Gitter, befürchtete er, die Beichte werde bis in die Nacht hinein dauern, wenn die Beichtende fort¬ fahre, ihr Leben mit dieser Ausführlichkeit weiter zu schildern. Doch jetzt war sie schon bei dem Punkt angelangt, bei dem die beichtenden Mädchen alle in ihrer flüssigen Rede stockten und leiser flüsterten: Weil ich ihn so lieb hatte. . . Die alte Geschichte. Unzähligen»! hatte der Priester die tränenreiche innige Beteuerung schon vernommen. So wollten sich die törichten kleinen Mädchen immer herausreden: Weil ich ihn so lieb hatte! Als er noch jung und voll Eifer war, hatte es ihm immer in die Seele gegriffen, und er hatte Fragen gestellt voll brennenden Mitleids, menschlich neugierige Fragen. Jetzt war er längst abgestumpft und unbestechlich ruhig geworden, wie sichs für einen Priester geziemte. Es ist immer dieselbe Geschichte, und er hat dieselben Antworten und Mahnungen immer bereit. Du hast, meine arme Tochter, gesündigt gegen das Gebot der Keuschheit. Du hast mit deinem Leben ein Ärgernis gegeben deinen Mitmenschen. Du hast die leitende Hand der Kirche verlassen. Du hast Gott beleidigt und die christliche Kirche. Bereuen mußt du und gutmachen. Die Schätze, die d» dir auf sündigen! Wege erworben hast, sollst du zum Opfer bringen. Nein xsrs, ich besitze keine Schätze mehr, flüsterte Fintjes gebrochne Stimme. Nur was ich am Leibe trage und das Büchlein in meiner Tasche gehört mir zu eigen. Zeig mir das Büchlein, verlangte der Priester. Und Fintje reichte ihm das Testamentchen durch das kleine Schiebfenster hinein. Der Priester schüttelte den Kopf. Hast du viel darin gelesen? Ich habe nichts darin gelesen, raon xörs, als die Namen auf dem ersten Blatt. Es ist gut, meine Tochter. Das Büchlein ist nicht für Laien geschrieben. Ich werde es dir gegen eins unsrer Gebetbücher umtauschen. Mein Buch? Sie wollen mir mein Buch nicht wiedergeben? Fintje vergaß den Ort, an dem sie kniete, und die ganze Feierlichkeit des Augenblicks. Laut, mit erregter Stimme hatte sie die Frage getan. Geben Sie mir mein Buch zurück, bitte, mon Mr«z, es ist mir sehr lieb! Warum dieser Eifer? Du bekommst das Buch nicht zurück, es ginge Wider mein Gewissen, dir das Büchlein der Ketzer wieder in die Hand zu geben. Ich will aber mein Buch wieder haben! rief Fintje hart und grell. Sie wußte auf einmal, wie ihrer Großmutter zumute gewesen sein mußte, als sie ihr das Haus, das doch ihr Eigentum war, abrissen. Geben Sie mir das Buch! Ich Habs in Ehren geschenkt bekommen, es ist mein Eigentum! Das Buch will ich wieder haben, incmsiour 1<z ours, schrie sie böse. Alles andre können Sie dafür behalten, meine ganze Seligkeit meinetwegen, aber mein Buch, das will ich zurück haben! Die feiste weiße Priesterhand reichte das Testament durch die Lücke zurück. Die Andächtigen waren aufmerksam geworden durch Fintjes unheiliges Gekreisch und sahen neugierig zu dem Beichtstuhl herüber. Der Priester zog die Stirn kraus. Geh jetzt! Verstockt und eigensinnig bist du, keine sühnende und Bereuende! Ich kann dir die Absolution nicht erteilen. Geh hin und bessere dich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/412>, abgerufen am 22.12.2024.