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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

Ich stehn, deren betäubender Duft ihr zu Kopfe stieg. Wie die andern Damen
hier oben steckte auch sie in einer eleganten Toilette, und ein großer kleidsamer
Hut überschattete ihr Haar und ihre Stirn, und aus diesem Schatten leuchteten
ihre übergroßen Augen doppelt geheimnisvoll hervor. Sie konnte sich vor all den
schönen reichen Menschen sehen lassen, keiner sah ihr die gewesene Kellerratte an.
Der feine Rene" brauchte sich ihrer nicht zu schämen, auch vor seinen vornehmen
adlichen Freunden nicht. Er ließ Champagner kommen. Fintje sah in freudiger
Aufregung zu, wie der kostbare goldne Wein in den Sektbechern schäumte. Ver¬
stohlen schaute sie sich um. Ja, die andern Damen hatten auch Champagner vor
sich stehn. Vorsichtig nippte sie an dem unbekannten Getränk. Reuss Augen be¬
obachteten sie in lächelndem Interesse.

Nun, Josephine, behagt dir der Wein? Nur mutig getrunken!

Lachend gehorchte sie. Josephine hieß sie jetzt, Fintje war nicht mehr vor¬
nehm genug für sie. Natürlich nicht, so wie sie jetzt aussah! Es tat ihr leid,
daß nicht große Spiegel vom Himmel herunterhingen, in denen sie sich sehen
konnte in ihrem weißen Kleid und dem großen kostbaren Hut.

Das gute Essen schmeckte der kleinen Kellerratte, ebenso der Champagner. Zu
sprechen wußte sie nicht viel, Rene' verlangte das auch nicht, er hatte es lieber,
wenn sie ihm zuhörte. Sie tat das auch, wenigstens mit den Augen, die hörten
ihm anscheinend voll Andacht zu. Aber die logen. Fintje verstand immer weniger
von dem, was er zu ihr sprach, sie hörte gar nicht darauf. Sie hörte nur noch
auf die Musik. Denn die Musik ist das schönste in diesem Märchenreich der
Laiterie. Es sind Zigeuner, die hier in den warmen Sommernächten spielen.
Fintje konnte den kleinen Musiktempel sehen, wo die Zigeunerkapelle spielte. Der
Kapellmeister schwang keinen Taktstock, er spielte selbst die Geige, nur mit den
Augen und den katzenhaften Schwingungen seines geschmeidigen Körpers dirigierte
er die andern.

Die Geigen der Zigeuner klagten und höhnten und kicherten. Solche Musik
hatte Fintje noch niemals vernommen. In rasendem Laufe klommen die Töne un¬
sichtbare Leitern hinauf, bis in den fernen, blauschwarzen Nachthimmel hinein, und
leise kamen sie wieder herunter getröpfelt wie klare Tränen; sie fielen ins Herz
hinein und machten es erschauern in unerklärlichen Weh. Und die Töne stiegen
wieder und jagten einander und hasteten sich ab und spielten Verstecken mit dem
bebenden, silbern von der Erde her beleuchteten Laubwerk der Bäume, und sie er¬
schütterten die Luft, daß ein geheimnisvolles Brausen entstand, das sich verbreitete
und anschwoll und den ganzen Wald in Aufruhr brachte und die armen ein¬
geschnürten Menschenherzen zu sprengen drohte.

Fintje atmete auf, tief auf, wie nach einem schweren Traum, als die Geigen
der Zigeuner endlich schwiegen.

Auch Rene war still geworden.

Von einem der benachbarten Tische kam ein Herr mit seiner Dame zu dem
schweigsamen Pärchen herüber. Der Elegant war ein Freund Reuss. Reus gab
viel auf das Urteil des jungen, schwerverschuldeten Duc. Der kniff sein Glas ins
Auge und betrachtete aufmerksam die neue Erscheinung der Laiterieterrasse. Seine
Begleiterin, eine auffallend gekleidete Dame mit schönen, ausdruckslosen Gesichts¬
zügen, wie sie in Wachsfigurenkabinetts herumstehu, unterhielt sich mit Rent, während
ihre Augen dabei unausgesetzt mit kritischem, mißgünstigem Blick auf Fintje ruhten,
an die sie dann wie gelangweilt einige Worte richtete, auf die diese keine Antwort
zu geben wußte. Der Duc aber klopfte seinen bürgerlichen Freund wohlwollend
auf die Schulter und sagte halblaut: Donnerwetter, Rene', hast du einen Dusel!
Ich gratuliere. Wo hast du die seltne Perle nur aufgefischt? Die meiden wir
dir alle, da hast du Geschmack bewiesen, Neun!

Bei dem Lob errötete Renü vor Vergnügen wie ein Mädchen.

Die beiden gingen nun wieder zu ihrem Tisch zurück. Rene aber schenkte


Im alten Brüssel

Ich stehn, deren betäubender Duft ihr zu Kopfe stieg. Wie die andern Damen
hier oben steckte auch sie in einer eleganten Toilette, und ein großer kleidsamer
Hut überschattete ihr Haar und ihre Stirn, und aus diesem Schatten leuchteten
ihre übergroßen Augen doppelt geheimnisvoll hervor. Sie konnte sich vor all den
schönen reichen Menschen sehen lassen, keiner sah ihr die gewesene Kellerratte an.
Der feine Rene" brauchte sich ihrer nicht zu schämen, auch vor seinen vornehmen
adlichen Freunden nicht. Er ließ Champagner kommen. Fintje sah in freudiger
Aufregung zu, wie der kostbare goldne Wein in den Sektbechern schäumte. Ver¬
stohlen schaute sie sich um. Ja, die andern Damen hatten auch Champagner vor
sich stehn. Vorsichtig nippte sie an dem unbekannten Getränk. Reuss Augen be¬
obachteten sie in lächelndem Interesse.

Nun, Josephine, behagt dir der Wein? Nur mutig getrunken!

Lachend gehorchte sie. Josephine hieß sie jetzt, Fintje war nicht mehr vor¬
nehm genug für sie. Natürlich nicht, so wie sie jetzt aussah! Es tat ihr leid,
daß nicht große Spiegel vom Himmel herunterhingen, in denen sie sich sehen
konnte in ihrem weißen Kleid und dem großen kostbaren Hut.

Das gute Essen schmeckte der kleinen Kellerratte, ebenso der Champagner. Zu
sprechen wußte sie nicht viel, Rene' verlangte das auch nicht, er hatte es lieber,
wenn sie ihm zuhörte. Sie tat das auch, wenigstens mit den Augen, die hörten
ihm anscheinend voll Andacht zu. Aber die logen. Fintje verstand immer weniger
von dem, was er zu ihr sprach, sie hörte gar nicht darauf. Sie hörte nur noch
auf die Musik. Denn die Musik ist das schönste in diesem Märchenreich der
Laiterie. Es sind Zigeuner, die hier in den warmen Sommernächten spielen.
Fintje konnte den kleinen Musiktempel sehen, wo die Zigeunerkapelle spielte. Der
Kapellmeister schwang keinen Taktstock, er spielte selbst die Geige, nur mit den
Augen und den katzenhaften Schwingungen seines geschmeidigen Körpers dirigierte
er die andern.

Die Geigen der Zigeuner klagten und höhnten und kicherten. Solche Musik
hatte Fintje noch niemals vernommen. In rasendem Laufe klommen die Töne un¬
sichtbare Leitern hinauf, bis in den fernen, blauschwarzen Nachthimmel hinein, und
leise kamen sie wieder herunter getröpfelt wie klare Tränen; sie fielen ins Herz
hinein und machten es erschauern in unerklärlichen Weh. Und die Töne stiegen
wieder und jagten einander und hasteten sich ab und spielten Verstecken mit dem
bebenden, silbern von der Erde her beleuchteten Laubwerk der Bäume, und sie er¬
schütterten die Luft, daß ein geheimnisvolles Brausen entstand, das sich verbreitete
und anschwoll und den ganzen Wald in Aufruhr brachte und die armen ein¬
geschnürten Menschenherzen zu sprengen drohte.

Fintje atmete auf, tief auf, wie nach einem schweren Traum, als die Geigen
der Zigeuner endlich schwiegen.

Auch Rene war still geworden.

Von einem der benachbarten Tische kam ein Herr mit seiner Dame zu dem
schweigsamen Pärchen herüber. Der Elegant war ein Freund Reuss. Reus gab
viel auf das Urteil des jungen, schwerverschuldeten Duc. Der kniff sein Glas ins
Auge und betrachtete aufmerksam die neue Erscheinung der Laiterieterrasse. Seine
Begleiterin, eine auffallend gekleidete Dame mit schönen, ausdruckslosen Gesichts¬
zügen, wie sie in Wachsfigurenkabinetts herumstehu, unterhielt sich mit Rent, während
ihre Augen dabei unausgesetzt mit kritischem, mißgünstigem Blick auf Fintje ruhten,
an die sie dann wie gelangweilt einige Worte richtete, auf die diese keine Antwort
zu geben wußte. Der Duc aber klopfte seinen bürgerlichen Freund wohlwollend
auf die Schulter und sagte halblaut: Donnerwetter, Rene', hast du einen Dusel!
Ich gratuliere. Wo hast du die seltne Perle nur aufgefischt? Die meiden wir
dir alle, da hast du Geschmack bewiesen, Neun!

Bei dem Lob errötete Renü vor Vergnügen wie ein Mädchen.

Die beiden gingen nun wieder zu ihrem Tisch zurück. Rene aber schenkte


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[0300] Im alten Brüssel Ich stehn, deren betäubender Duft ihr zu Kopfe stieg. Wie die andern Damen hier oben steckte auch sie in einer eleganten Toilette, und ein großer kleidsamer Hut überschattete ihr Haar und ihre Stirn, und aus diesem Schatten leuchteten ihre übergroßen Augen doppelt geheimnisvoll hervor. Sie konnte sich vor all den schönen reichen Menschen sehen lassen, keiner sah ihr die gewesene Kellerratte an. Der feine Rene" brauchte sich ihrer nicht zu schämen, auch vor seinen vornehmen adlichen Freunden nicht. Er ließ Champagner kommen. Fintje sah in freudiger Aufregung zu, wie der kostbare goldne Wein in den Sektbechern schäumte. Ver¬ stohlen schaute sie sich um. Ja, die andern Damen hatten auch Champagner vor sich stehn. Vorsichtig nippte sie an dem unbekannten Getränk. Reuss Augen be¬ obachteten sie in lächelndem Interesse. Nun, Josephine, behagt dir der Wein? Nur mutig getrunken! Lachend gehorchte sie. Josephine hieß sie jetzt, Fintje war nicht mehr vor¬ nehm genug für sie. Natürlich nicht, so wie sie jetzt aussah! Es tat ihr leid, daß nicht große Spiegel vom Himmel herunterhingen, in denen sie sich sehen konnte in ihrem weißen Kleid und dem großen kostbaren Hut. Das gute Essen schmeckte der kleinen Kellerratte, ebenso der Champagner. Zu sprechen wußte sie nicht viel, Rene' verlangte das auch nicht, er hatte es lieber, wenn sie ihm zuhörte. Sie tat das auch, wenigstens mit den Augen, die hörten ihm anscheinend voll Andacht zu. Aber die logen. Fintje verstand immer weniger von dem, was er zu ihr sprach, sie hörte gar nicht darauf. Sie hörte nur noch auf die Musik. Denn die Musik ist das schönste in diesem Märchenreich der Laiterie. Es sind Zigeuner, die hier in den warmen Sommernächten spielen. Fintje konnte den kleinen Musiktempel sehen, wo die Zigeunerkapelle spielte. Der Kapellmeister schwang keinen Taktstock, er spielte selbst die Geige, nur mit den Augen und den katzenhaften Schwingungen seines geschmeidigen Körpers dirigierte er die andern. Die Geigen der Zigeuner klagten und höhnten und kicherten. Solche Musik hatte Fintje noch niemals vernommen. In rasendem Laufe klommen die Töne un¬ sichtbare Leitern hinauf, bis in den fernen, blauschwarzen Nachthimmel hinein, und leise kamen sie wieder herunter getröpfelt wie klare Tränen; sie fielen ins Herz hinein und machten es erschauern in unerklärlichen Weh. Und die Töne stiegen wieder und jagten einander und hasteten sich ab und spielten Verstecken mit dem bebenden, silbern von der Erde her beleuchteten Laubwerk der Bäume, und sie er¬ schütterten die Luft, daß ein geheimnisvolles Brausen entstand, das sich verbreitete und anschwoll und den ganzen Wald in Aufruhr brachte und die armen ein¬ geschnürten Menschenherzen zu sprengen drohte. Fintje atmete auf, tief auf, wie nach einem schweren Traum, als die Geigen der Zigeuner endlich schwiegen. Auch Rene war still geworden. Von einem der benachbarten Tische kam ein Herr mit seiner Dame zu dem schweigsamen Pärchen herüber. Der Elegant war ein Freund Reuss. Reus gab viel auf das Urteil des jungen, schwerverschuldeten Duc. Der kniff sein Glas ins Auge und betrachtete aufmerksam die neue Erscheinung der Laiterieterrasse. Seine Begleiterin, eine auffallend gekleidete Dame mit schönen, ausdruckslosen Gesichts¬ zügen, wie sie in Wachsfigurenkabinetts herumstehu, unterhielt sich mit Rent, während ihre Augen dabei unausgesetzt mit kritischem, mißgünstigem Blick auf Fintje ruhten, an die sie dann wie gelangweilt einige Worte richtete, auf die diese keine Antwort zu geben wußte. Der Duc aber klopfte seinen bürgerlichen Freund wohlwollend auf die Schulter und sagte halblaut: Donnerwetter, Rene', hast du einen Dusel! Ich gratuliere. Wo hast du die seltne Perle nur aufgefischt? Die meiden wir dir alle, da hast du Geschmack bewiesen, Neun! Bei dem Lob errötete Renü vor Vergnügen wie ein Mädchen. Die beiden gingen nun wieder zu ihrem Tisch zurück. Rene aber schenkte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/300>, abgerufen am 22.12.2024.