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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Erinnerungen einer Lehrerin

Anfänglich war ich im Prinzip gegen eine Differenzierung des Lehreriunen-
standes, die durch Gründung von Seminaren, die ausschließlich zur Vorbildung
von Volksschullehrerinnen bestimmt Würm, ebenso sicher eintreten würde, wie wir
sie schon zwischen den seminaristisch und den akademisch vorgebildeten Lehrern
haben. Hier ist es ein Bildungs- und ein Standesunterschied. Bis vor ganz
kurzer Zeit war es neben dem Schwesternberufe nur der der Lehrerin, der der
Tochter der höhern Stände offenstand. Ihre gesellschaftliche Stellung gab ihnen
das Vaterhaus, damit hatte die "Lehrerin" nichts zu tun. Viel weniger noch
das, ob sie an Volks-, an Mittel- oder an höhern Mädchenschulen tütig waren.
Deshalb gab es keinen Bildungs-, wohl aber einen Standesunterschied zwischen
den Lehrerinnen. Die Töchter der guten Familien schlössen und schließen sich
natürlich solidarisch zusammen. Man behauptet ja, daß Frauen noch viel mehr
Wert auf Stand legen als Männer. Es mag dies in dem feinern Empfinden
der Frau begründet liegen, das sich auch besonders in dem Empfinden darüber
äußert, was man "gute Kinderstube" nennt. Jetzt ist eine Spaltung des
Lehrerinnenstandcs doch unaushaltbar geworden, da die Frauenbewegung und
das damit verbundne Frauenstudium an Ausdehnung gewinnt, und seit man
an eine Reform der höhern Mädchenschulen denkt.

Die Töchter aus bessern Familien werden nicht mehr das Lehrerinnen-
examen, sondern das Abiturium und das erst ganz kürzlich dem Ministerium
abgerungne Examen pro taeultAts äoosiräi ablegen. Damit ist das "Obcr-
lehrerinnenexmnen," das seinerzeit mit ungeheuerm Jubel als wirklicher Fort¬
schritt begrüßt wurde, zu einem Examen zweiten Grades geworden. Diese Be¬
hauptung wird die Zukunft beweisen.

Die Volksschullehrerin braucht im Unterrichte keine Sprachkenntnisse, oder
ich will sagen nicht größere, als sie der Besuch einer höhern Mädchenschule,
sogar einer Mittelschule gewährt. Richtet man erst Volksschnllehrerinnenseminare
ein, so wird man wohl an die Stelle, die jetzt die Sprachen einnehmen, Gebiete
setzen, die im Lehrplane fehlen, und deren Fehlen die Volksschullehrerin bitter
empfindet. Ich nenne hier nur Volkswirtschaftskunde, Einführung in das soziale
Leben und seine Forderungen, etwas von Krankenpflege, Bekanntmachung mit
den wichtigsten Kinderkrankheiten und deren Vorboten, endlich auch Übungs-
schulcn an Volksschulen und nicht mehr wie bisher an Mittel- und an höhern
Mädchenschulen usw. Alles dies findet man ja schon sachgemäß ausgesprochen,
also brauche ich hier keine weitern Einzelheiten über Seminare zu geben. An
dieser Stelle möchte ich nur von einigen Erfahrungen und Beobachtungen aus
dem Unterrichte reden.

Wie bitter habe ich es in der Praxis empfunden, daß ich niemals vor dem
Examen in einer Volksschule auch nur mit einem Fuße gewesen war, geschweige
denn etwas von dem Unterrichte darin gesehen oder gehört hatte. Meine bittern
Erfahrungen sind mir einstimmig von andern Kolleginnen bestätigt worden. Ich
werde hier nun nicht auf pädagogische Einzelheiten eingehn, denn das würde in
eine Fachschrift gehören, aber ich muß kurz erwähnen, daß man, ob man nach
Herbart oder einem sonstigen pädagogischen Genie das Unterrichten gelernt hat,
in der Volksschule noch einmal von vorn mit Lernen anfangen muß. Man muß.


Erinnerungen einer Lehrerin

Anfänglich war ich im Prinzip gegen eine Differenzierung des Lehreriunen-
standes, die durch Gründung von Seminaren, die ausschließlich zur Vorbildung
von Volksschullehrerinnen bestimmt Würm, ebenso sicher eintreten würde, wie wir
sie schon zwischen den seminaristisch und den akademisch vorgebildeten Lehrern
haben. Hier ist es ein Bildungs- und ein Standesunterschied. Bis vor ganz
kurzer Zeit war es neben dem Schwesternberufe nur der der Lehrerin, der der
Tochter der höhern Stände offenstand. Ihre gesellschaftliche Stellung gab ihnen
das Vaterhaus, damit hatte die „Lehrerin" nichts zu tun. Viel weniger noch
das, ob sie an Volks-, an Mittel- oder an höhern Mädchenschulen tütig waren.
Deshalb gab es keinen Bildungs-, wohl aber einen Standesunterschied zwischen
den Lehrerinnen. Die Töchter der guten Familien schlössen und schließen sich
natürlich solidarisch zusammen. Man behauptet ja, daß Frauen noch viel mehr
Wert auf Stand legen als Männer. Es mag dies in dem feinern Empfinden
der Frau begründet liegen, das sich auch besonders in dem Empfinden darüber
äußert, was man „gute Kinderstube" nennt. Jetzt ist eine Spaltung des
Lehrerinnenstandcs doch unaushaltbar geworden, da die Frauenbewegung und
das damit verbundne Frauenstudium an Ausdehnung gewinnt, und seit man
an eine Reform der höhern Mädchenschulen denkt.

Die Töchter aus bessern Familien werden nicht mehr das Lehrerinnen-
examen, sondern das Abiturium und das erst ganz kürzlich dem Ministerium
abgerungne Examen pro taeultAts äoosiräi ablegen. Damit ist das „Obcr-
lehrerinnenexmnen," das seinerzeit mit ungeheuerm Jubel als wirklicher Fort¬
schritt begrüßt wurde, zu einem Examen zweiten Grades geworden. Diese Be¬
hauptung wird die Zukunft beweisen.

Die Volksschullehrerin braucht im Unterrichte keine Sprachkenntnisse, oder
ich will sagen nicht größere, als sie der Besuch einer höhern Mädchenschule,
sogar einer Mittelschule gewährt. Richtet man erst Volksschnllehrerinnenseminare
ein, so wird man wohl an die Stelle, die jetzt die Sprachen einnehmen, Gebiete
setzen, die im Lehrplane fehlen, und deren Fehlen die Volksschullehrerin bitter
empfindet. Ich nenne hier nur Volkswirtschaftskunde, Einführung in das soziale
Leben und seine Forderungen, etwas von Krankenpflege, Bekanntmachung mit
den wichtigsten Kinderkrankheiten und deren Vorboten, endlich auch Übungs-
schulcn an Volksschulen und nicht mehr wie bisher an Mittel- und an höhern
Mädchenschulen usw. Alles dies findet man ja schon sachgemäß ausgesprochen,
also brauche ich hier keine weitern Einzelheiten über Seminare zu geben. An
dieser Stelle möchte ich nur von einigen Erfahrungen und Beobachtungen aus
dem Unterrichte reden.

Wie bitter habe ich es in der Praxis empfunden, daß ich niemals vor dem
Examen in einer Volksschule auch nur mit einem Fuße gewesen war, geschweige
denn etwas von dem Unterrichte darin gesehen oder gehört hatte. Meine bittern
Erfahrungen sind mir einstimmig von andern Kolleginnen bestätigt worden. Ich
werde hier nun nicht auf pädagogische Einzelheiten eingehn, denn das würde in
eine Fachschrift gehören, aber ich muß kurz erwähnen, daß man, ob man nach
Herbart oder einem sonstigen pädagogischen Genie das Unterrichten gelernt hat,
in der Volksschule noch einmal von vorn mit Lernen anfangen muß. Man muß.


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[0222] Erinnerungen einer Lehrerin Anfänglich war ich im Prinzip gegen eine Differenzierung des Lehreriunen- standes, die durch Gründung von Seminaren, die ausschließlich zur Vorbildung von Volksschullehrerinnen bestimmt Würm, ebenso sicher eintreten würde, wie wir sie schon zwischen den seminaristisch und den akademisch vorgebildeten Lehrern haben. Hier ist es ein Bildungs- und ein Standesunterschied. Bis vor ganz kurzer Zeit war es neben dem Schwesternberufe nur der der Lehrerin, der der Tochter der höhern Stände offenstand. Ihre gesellschaftliche Stellung gab ihnen das Vaterhaus, damit hatte die „Lehrerin" nichts zu tun. Viel weniger noch das, ob sie an Volks-, an Mittel- oder an höhern Mädchenschulen tütig waren. Deshalb gab es keinen Bildungs-, wohl aber einen Standesunterschied zwischen den Lehrerinnen. Die Töchter der guten Familien schlössen und schließen sich natürlich solidarisch zusammen. Man behauptet ja, daß Frauen noch viel mehr Wert auf Stand legen als Männer. Es mag dies in dem feinern Empfinden der Frau begründet liegen, das sich auch besonders in dem Empfinden darüber äußert, was man „gute Kinderstube" nennt. Jetzt ist eine Spaltung des Lehrerinnenstandcs doch unaushaltbar geworden, da die Frauenbewegung und das damit verbundne Frauenstudium an Ausdehnung gewinnt, und seit man an eine Reform der höhern Mädchenschulen denkt. Die Töchter aus bessern Familien werden nicht mehr das Lehrerinnen- examen, sondern das Abiturium und das erst ganz kürzlich dem Ministerium abgerungne Examen pro taeultAts äoosiräi ablegen. Damit ist das „Obcr- lehrerinnenexmnen," das seinerzeit mit ungeheuerm Jubel als wirklicher Fort¬ schritt begrüßt wurde, zu einem Examen zweiten Grades geworden. Diese Be¬ hauptung wird die Zukunft beweisen. Die Volksschullehrerin braucht im Unterrichte keine Sprachkenntnisse, oder ich will sagen nicht größere, als sie der Besuch einer höhern Mädchenschule, sogar einer Mittelschule gewährt. Richtet man erst Volksschnllehrerinnenseminare ein, so wird man wohl an die Stelle, die jetzt die Sprachen einnehmen, Gebiete setzen, die im Lehrplane fehlen, und deren Fehlen die Volksschullehrerin bitter empfindet. Ich nenne hier nur Volkswirtschaftskunde, Einführung in das soziale Leben und seine Forderungen, etwas von Krankenpflege, Bekanntmachung mit den wichtigsten Kinderkrankheiten und deren Vorboten, endlich auch Übungs- schulcn an Volksschulen und nicht mehr wie bisher an Mittel- und an höhern Mädchenschulen usw. Alles dies findet man ja schon sachgemäß ausgesprochen, also brauche ich hier keine weitern Einzelheiten über Seminare zu geben. An dieser Stelle möchte ich nur von einigen Erfahrungen und Beobachtungen aus dem Unterrichte reden. Wie bitter habe ich es in der Praxis empfunden, daß ich niemals vor dem Examen in einer Volksschule auch nur mit einem Fuße gewesen war, geschweige denn etwas von dem Unterrichte darin gesehen oder gehört hatte. Meine bittern Erfahrungen sind mir einstimmig von andern Kolleginnen bestätigt worden. Ich werde hier nun nicht auf pädagogische Einzelheiten eingehn, denn das würde in eine Fachschrift gehören, aber ich muß kurz erwähnen, daß man, ob man nach Herbart oder einem sonstigen pädagogischen Genie das Unterrichten gelernt hat, in der Volksschule noch einmal von vorn mit Lernen anfangen muß. Man muß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/222>, abgerufen am 22.12.2024.