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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Minnesangs Frühling in Frankreich

bedroht, und auch ein neuer Hut, deu er ihr verspricht, bringt keine Wir¬
kung hervor.

Winkt jedoch dem Liebenden der Minnesold im verschwiegnen Kümmer¬
lein oder in blühender Laube, dann trennt allzufrüh des Wächters Ruf, des
Hahnen Schrei, der Lerche Ruf die beiden.

Deutsch etwa:

Es ist ein langer Weg von diesen ältesten Tagcliedern bis zu Shakespeares
Romeo und Juliet:


Du willst schon zehn, der Tag ist noch so fern,
Es war die Nachtigall und nicht die Lerche.

Alle diese Liedergattungen, denen sich bald neue anschlössen, sollten sich
nun im Süden Frankreichs überraschend schnell verbreiten und unter den
Händen der Spielleute und Ritter den eigentlichen Minnesang heraufführen.
Der Norden stand der lyrischen Dichtung zunächst fern. Hier blühte die rauhe,
ungefüge germanische Epik, die von den Taten der Paladine Karls des
Großen sang. Somit besteht im ganzen Uhlands Wort noch heute zu Recht:

"In dem südlichen Frankreich, jenem von der Natur wunderbar be¬
günstigten, von alter Kultur getränkten, durch das Mittelmeer dem Verkehr
mit Italien, Griechenland und dem Orient geöffneten Lande, hatte sich früher
als anderswo mit gesteigertem Wohlstand eine Verfeinerung der Lebensgenusse
und in deren Gefolge feinere Sitte und Bildung eingefunden" (ten Brink,
Engl. Lid.). Dort wurden die sovs poitovws, die volkstümlichen Frühlings¬
liebeslieder des Poitou in eigentümlicher Weife ausgebildet und umgestaltet.

Was der berühmteste provenzalische Dichter der Gegenwart Freden Mistral
von der heutigen Provence sagt, das mag schon für die Minnesingerzeit zu¬
treffend gewesen sein:


Minnesangs Frühling in Frankreich

bedroht, und auch ein neuer Hut, deu er ihr verspricht, bringt keine Wir¬
kung hervor.

Winkt jedoch dem Liebenden der Minnesold im verschwiegnen Kümmer¬
lein oder in blühender Laube, dann trennt allzufrüh des Wächters Ruf, des
Hahnen Schrei, der Lerche Ruf die beiden.

Deutsch etwa:

Es ist ein langer Weg von diesen ältesten Tagcliedern bis zu Shakespeares
Romeo und Juliet:


Du willst schon zehn, der Tag ist noch so fern,
Es war die Nachtigall und nicht die Lerche.

Alle diese Liedergattungen, denen sich bald neue anschlössen, sollten sich
nun im Süden Frankreichs überraschend schnell verbreiten und unter den
Händen der Spielleute und Ritter den eigentlichen Minnesang heraufführen.
Der Norden stand der lyrischen Dichtung zunächst fern. Hier blühte die rauhe,
ungefüge germanische Epik, die von den Taten der Paladine Karls des
Großen sang. Somit besteht im ganzen Uhlands Wort noch heute zu Recht:

„In dem südlichen Frankreich, jenem von der Natur wunderbar be¬
günstigten, von alter Kultur getränkten, durch das Mittelmeer dem Verkehr
mit Italien, Griechenland und dem Orient geöffneten Lande, hatte sich früher
als anderswo mit gesteigertem Wohlstand eine Verfeinerung der Lebensgenusse
und in deren Gefolge feinere Sitte und Bildung eingefunden" (ten Brink,
Engl. Lid.). Dort wurden die sovs poitovws, die volkstümlichen Frühlings¬
liebeslieder des Poitou in eigentümlicher Weife ausgebildet und umgestaltet.

Was der berühmteste provenzalische Dichter der Gegenwart Freden Mistral
von der heutigen Provence sagt, das mag schon für die Minnesingerzeit zu¬
treffend gewesen sein:


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[0210] Minnesangs Frühling in Frankreich bedroht, und auch ein neuer Hut, deu er ihr verspricht, bringt keine Wir¬ kung hervor. Winkt jedoch dem Liebenden der Minnesold im verschwiegnen Kümmer¬ lein oder in blühender Laube, dann trennt allzufrüh des Wächters Ruf, des Hahnen Schrei, der Lerche Ruf die beiden. Deutsch etwa: Es ist ein langer Weg von diesen ältesten Tagcliedern bis zu Shakespeares Romeo und Juliet: Du willst schon zehn, der Tag ist noch so fern, Es war die Nachtigall und nicht die Lerche. Alle diese Liedergattungen, denen sich bald neue anschlössen, sollten sich nun im Süden Frankreichs überraschend schnell verbreiten und unter den Händen der Spielleute und Ritter den eigentlichen Minnesang heraufführen. Der Norden stand der lyrischen Dichtung zunächst fern. Hier blühte die rauhe, ungefüge germanische Epik, die von den Taten der Paladine Karls des Großen sang. Somit besteht im ganzen Uhlands Wort noch heute zu Recht: „In dem südlichen Frankreich, jenem von der Natur wunderbar be¬ günstigten, von alter Kultur getränkten, durch das Mittelmeer dem Verkehr mit Italien, Griechenland und dem Orient geöffneten Lande, hatte sich früher als anderswo mit gesteigertem Wohlstand eine Verfeinerung der Lebensgenusse und in deren Gefolge feinere Sitte und Bildung eingefunden" (ten Brink, Engl. Lid.). Dort wurden die sovs poitovws, die volkstümlichen Frühlings¬ liebeslieder des Poitou in eigentümlicher Weife ausgebildet und umgestaltet. Was der berühmteste provenzalische Dichter der Gegenwart Freden Mistral von der heutigen Provence sagt, das mag schon für die Minnesingerzeit zu¬ treffend gewesen sein:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/210>, abgerufen am 23.07.2024.