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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Minnesangs Frühling in Frankreich

die lyrischen Liebeslieder, die im Mittelalter zumeist in höfischen Kreisen ent¬
standen sind. Wollen wir nun die Frühlingszeit dieser Dichtung bei unfern west¬
lichen Nachbarn betrachten, so müssen wir die Grundlagen des Minnesangs in
Frankreich und seine erste Entwicklung in den sonnigen Tälern der Provence
berücksichtigen. Es ist dies ein Gebiet, das lange Zeit völlig vernachlässigt
gelegen hat, das heute noch in allen seinen Teilen nicht gleichmäßig erforscht ist.
Trotz dem großen Interesse, das gerade diese Zeit der französischen Literatur
für Deutschland hätte in Anspruch nehmen müssen, beschränkte man sich auf
unbedachte, zum Teil völlig verfehlte Urteile über eine Lyrik, deren köstlichste
Blumen im Staube der Manuskripte einer unverdienten Vergessenheit anheim¬
gefallen waren, ob sie gleich an Duft und Frische nichts eingebüßt hatten.

Als Wackernagel im Jahre 1846 altfranzösische Lieder und Leiche nach
einer Berner Handschrift herausgab, betrat er ein jungfräuliches Land. Nun
aber begannen deutsche und französische Forscher in edelm Wetteifer dieses un¬
bekannte Gebiet der Wissenschaft zu erschließen. Der freilich, der -- neben
Diez -- vielleicht wie kein andrer berufen war, hier Licht zu verbreiten,
Julius Brakelmann, starb, für die Wissenschaft zu früh, im Todesritt bei
Mars-la-Tour den Heldentod. Erst in neuester Zeit sind wir dank den
Untersuchungen von G. Paris, K. Bartsch, H. Suchier in der Lage, ein be¬
gründetes Urteil über diese Zeit abzugeben, der die Minnedichtung der euro¬
päischen Kulturländer so unendlich viel verdankt.

Daß wir Liebeslieder schon in der ältesten Zeit der französischen Literatur
annehmen müssen, kann nicht befremden. Sie sind fast so alt wie die Sprache
selbst, wenn wir auch den Forschern nicht Recht geben, die -- allzu poetisch
gesinnt -- meinen, daß die Sprache überhaupt in der Zeit des Liebeslverbens
geboren sei. Der Groll der Geistlichkeit wandte sich frühzeitig gegen solche
Ergüsse liebender Menschenkinder, um so mehr, als der Inhalt der Lieder nicht
eben züchtig war. Schon der gute Bischof von Arles, Cäsarius, der 542
starb, klagt: ruulti rustioi, nuits-s rustieas iriuliorss Lautioa, cliabolioa, ö.mi>,-
toria, se turxis, ors ckölZÄntÄut. Daß man freilich auch in diesen Kreisen
Minnelieder zu würdigen verstand, beweisen die Carmina Burana, die von
Mönchshand am Rhein oder in Italien geschrieben sein mögen. Vielleicht
dürfen wir auch in Frankreich eine ähnliche Sammlung vermuten. Das Manu¬
skript ist aber -- wie so manches andre -- verloren gegangen, oder man hat
es noch nicht entdeckt; in den Katalogen der Büchereien pflegten ja ähnliche
Schriften nicht verzeichnet zu werden, obgleich sie, nach der Handschrift der
Beurener Lieder zu schließen, nicht eben selten gelesen wurden; denn die
frommen Klosterbrüder schützten neben dem,

auch den Niederschlag dieser Gefühle im Minneliede neuerer Zeit.

Nicht alle Provinzen Frankreichs dürfen sich rühmen, denselben Anteil


Minnesangs Frühling in Frankreich

die lyrischen Liebeslieder, die im Mittelalter zumeist in höfischen Kreisen ent¬
standen sind. Wollen wir nun die Frühlingszeit dieser Dichtung bei unfern west¬
lichen Nachbarn betrachten, so müssen wir die Grundlagen des Minnesangs in
Frankreich und seine erste Entwicklung in den sonnigen Tälern der Provence
berücksichtigen. Es ist dies ein Gebiet, das lange Zeit völlig vernachlässigt
gelegen hat, das heute noch in allen seinen Teilen nicht gleichmäßig erforscht ist.
Trotz dem großen Interesse, das gerade diese Zeit der französischen Literatur
für Deutschland hätte in Anspruch nehmen müssen, beschränkte man sich auf
unbedachte, zum Teil völlig verfehlte Urteile über eine Lyrik, deren köstlichste
Blumen im Staube der Manuskripte einer unverdienten Vergessenheit anheim¬
gefallen waren, ob sie gleich an Duft und Frische nichts eingebüßt hatten.

Als Wackernagel im Jahre 1846 altfranzösische Lieder und Leiche nach
einer Berner Handschrift herausgab, betrat er ein jungfräuliches Land. Nun
aber begannen deutsche und französische Forscher in edelm Wetteifer dieses un¬
bekannte Gebiet der Wissenschaft zu erschließen. Der freilich, der — neben
Diez — vielleicht wie kein andrer berufen war, hier Licht zu verbreiten,
Julius Brakelmann, starb, für die Wissenschaft zu früh, im Todesritt bei
Mars-la-Tour den Heldentod. Erst in neuester Zeit sind wir dank den
Untersuchungen von G. Paris, K. Bartsch, H. Suchier in der Lage, ein be¬
gründetes Urteil über diese Zeit abzugeben, der die Minnedichtung der euro¬
päischen Kulturländer so unendlich viel verdankt.

Daß wir Liebeslieder schon in der ältesten Zeit der französischen Literatur
annehmen müssen, kann nicht befremden. Sie sind fast so alt wie die Sprache
selbst, wenn wir auch den Forschern nicht Recht geben, die — allzu poetisch
gesinnt — meinen, daß die Sprache überhaupt in der Zeit des Liebeslverbens
geboren sei. Der Groll der Geistlichkeit wandte sich frühzeitig gegen solche
Ergüsse liebender Menschenkinder, um so mehr, als der Inhalt der Lieder nicht
eben züchtig war. Schon der gute Bischof von Arles, Cäsarius, der 542
starb, klagt: ruulti rustioi, nuits-s rustieas iriuliorss Lautioa, cliabolioa, ö.mi>,-
toria, se turxis, ors ckölZÄntÄut. Daß man freilich auch in diesen Kreisen
Minnelieder zu würdigen verstand, beweisen die Carmina Burana, die von
Mönchshand am Rhein oder in Italien geschrieben sein mögen. Vielleicht
dürfen wir auch in Frankreich eine ähnliche Sammlung vermuten. Das Manu¬
skript ist aber — wie so manches andre — verloren gegangen, oder man hat
es noch nicht entdeckt; in den Katalogen der Büchereien pflegten ja ähnliche
Schriften nicht verzeichnet zu werden, obgleich sie, nach der Handschrift der
Beurener Lieder zu schließen, nicht eben selten gelesen wurden; denn die
frommen Klosterbrüder schützten neben dem,

auch den Niederschlag dieser Gefühle im Minneliede neuerer Zeit.

Nicht alle Provinzen Frankreichs dürfen sich rühmen, denselben Anteil


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[0208] Minnesangs Frühling in Frankreich die lyrischen Liebeslieder, die im Mittelalter zumeist in höfischen Kreisen ent¬ standen sind. Wollen wir nun die Frühlingszeit dieser Dichtung bei unfern west¬ lichen Nachbarn betrachten, so müssen wir die Grundlagen des Minnesangs in Frankreich und seine erste Entwicklung in den sonnigen Tälern der Provence berücksichtigen. Es ist dies ein Gebiet, das lange Zeit völlig vernachlässigt gelegen hat, das heute noch in allen seinen Teilen nicht gleichmäßig erforscht ist. Trotz dem großen Interesse, das gerade diese Zeit der französischen Literatur für Deutschland hätte in Anspruch nehmen müssen, beschränkte man sich auf unbedachte, zum Teil völlig verfehlte Urteile über eine Lyrik, deren köstlichste Blumen im Staube der Manuskripte einer unverdienten Vergessenheit anheim¬ gefallen waren, ob sie gleich an Duft und Frische nichts eingebüßt hatten. Als Wackernagel im Jahre 1846 altfranzösische Lieder und Leiche nach einer Berner Handschrift herausgab, betrat er ein jungfräuliches Land. Nun aber begannen deutsche und französische Forscher in edelm Wetteifer dieses un¬ bekannte Gebiet der Wissenschaft zu erschließen. Der freilich, der — neben Diez — vielleicht wie kein andrer berufen war, hier Licht zu verbreiten, Julius Brakelmann, starb, für die Wissenschaft zu früh, im Todesritt bei Mars-la-Tour den Heldentod. Erst in neuester Zeit sind wir dank den Untersuchungen von G. Paris, K. Bartsch, H. Suchier in der Lage, ein be¬ gründetes Urteil über diese Zeit abzugeben, der die Minnedichtung der euro¬ päischen Kulturländer so unendlich viel verdankt. Daß wir Liebeslieder schon in der ältesten Zeit der französischen Literatur annehmen müssen, kann nicht befremden. Sie sind fast so alt wie die Sprache selbst, wenn wir auch den Forschern nicht Recht geben, die — allzu poetisch gesinnt — meinen, daß die Sprache überhaupt in der Zeit des Liebeslverbens geboren sei. Der Groll der Geistlichkeit wandte sich frühzeitig gegen solche Ergüsse liebender Menschenkinder, um so mehr, als der Inhalt der Lieder nicht eben züchtig war. Schon der gute Bischof von Arles, Cäsarius, der 542 starb, klagt: ruulti rustioi, nuits-s rustieas iriuliorss Lautioa, cliabolioa, ö.mi>,- toria, se turxis, ors ckölZÄntÄut. Daß man freilich auch in diesen Kreisen Minnelieder zu würdigen verstand, beweisen die Carmina Burana, die von Mönchshand am Rhein oder in Italien geschrieben sein mögen. Vielleicht dürfen wir auch in Frankreich eine ähnliche Sammlung vermuten. Das Manu¬ skript ist aber — wie so manches andre — verloren gegangen, oder man hat es noch nicht entdeckt; in den Katalogen der Büchereien pflegten ja ähnliche Schriften nicht verzeichnet zu werden, obgleich sie, nach der Handschrift der Beurener Lieder zu schließen, nicht eben selten gelesen wurden; denn die frommen Klosterbrüder schützten neben dem, auch den Niederschlag dieser Gefühle im Minneliede neuerer Zeit. Nicht alle Provinzen Frankreichs dürfen sich rühmen, denselben Anteil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/208>, abgerufen am 23.07.2024.