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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

und las. Bald mußte er die nötige Bildung zusammenstudiert haben, daß er die
versprochnen Stücke schreiben konnte. Und Fintje wollte auch lernen, denn sie hatte
das müßige Herumhocken im Pouchenellekeller satt, während die alte Großmutter
noch tätig und erfolgreich ihres schwierigen Amtes waltete. Sie wollte etwas
Feines werden. Später einmal viel Geld verdienen und dann lauter hübsche Dinge
an und um sich haben, hauptsächlich viel Blumen, scharfduftende Blumen wie
Hyazinthen und Narzissen. Doch daß etwas erreicht würde im Leben, mußte erst
gelernt werden, darin hatten die Großmutter und Ovale sicher Recht.

Sie war nun fünfzehn Jahre alt und ging in die Lehre zu Madame GLrard
in der Hoogstraat. Dort verfertigten sie die eleganten Korsetts, die dann in den
teuern Läden des schönen Brüssels an die vornehmen Damen verkauft wurden.

Fintje kam es in dem kleinen Hause Madame Görards ungemein reich und
großartig vor. Sie bekam zwar außer dem Atelier nur das anstoßende kleine
Empfangszimmer zu sehen, worin Madame mit ihren Kunden verhandelte, und in
diese ungelüftete, staubige Stube, die Fintje so sehr bewunderte, verirrten sich
manchmal sogar Damen. Da standen auf dem Kaminsims vergoldete Leuchter und
Vasen, zum Schutz gegen Staub und Fliegen in rosa Florkleider gehüllt. Und auf
einer wunderlich verschnörkelten Kommode thronte eine Standuhr aus buntem
Porzellan mit einer Gruppe von Schäfern und Hirtinnen und einem flügel¬
schlagenden Hahn mit ausgerecktem Hals. An der Wand aber hingen große Teller
aus demselben bunten Porzellan, und eine kupferne Mutter Gottes stand auf einem
Eckbrett, und weil sie nicht vergoldet war, wurde sie keines Florgewandes würdig
befunden und war nun schon bedenklich schwarz geworden. Auf dem Tische lag
eine neue Plüschdecke, deren schreiend bunte Farben Fintjes durstige Augen ent¬
zückten, mehr noch als die bunten Glasfenster mit den moderngewnndnen Wasser¬
rosen, die die untere Hälfte der ungeputzten Fenster verdeckten.

Es stand auch ein kleines Sofa in dem Zimmer, auf dem in genialer Un¬
ordnung die schillernden geblümten Seidenstoffe aufgebauscht lagen, aus denen
Madame Gepard ihre Korsetts herstellte. Fintje fühlte diese weiche, feine Seide
gern zwischen den Fingern, es erleichterte ihr die neue Tätigkeit. Sie war das
gebückte Sitzen so gar nicht gewohnt! Doch da die andern Mädchen es aushielten,
mußte auch sie sich daran gewöhnen können.

Zu sechsen saßen sie im Atelier vor ihren rasselnden Nähmaschinen. Hell war
es nicht, denn das einzige Fenster ging auf die breite Mauer eines mächtigen
Schornsteins hinaus, die neidisch dem kahlen Raum Luft und Licht verwehrte.
Hob Fintje mit einem Seufzer den Kopf von der Arbeit mit sehnsuchtsvollen
Augen, die nach einem Stückchen blauem Himmel verlangten, sah sie immer nur
diesen breiten, düstern Schornstein. Doch die andern sahen ja auch nicht mehr.

Auf dem dunkelsten Platz saß Belöke, die bucklige kleine Belöke mit dem alten
verschrumpelten Gesichtchen. Die war bescheiden und fleißig.

Hochmütig aber war Truitje, die große blonde Weinhändlerstochter, nur die
rothaarige Rosalie mit den kecken Augen und der schlagfertigen Zunge hatte sie sich
zur Freundin erwählt.

Und da war Nelke, die hübsche schwarze, faule Nelke, die ihre Arbeit hinwarf,
sobald Madame zur Tür hinaus war, und unaufgefordert alle Skandalgeschichten
ihrer Nachbarschaft zum besten gab; und Roosje, das magre, freundliche Geschöpf
mit den hektisch roten Backen und den eingesunknen, glänzenden blauen Augen, von
der jedermann, nur sie selbst nicht wußte, daß sie nur noch kurze Zeit zu leben
hatte. Und Berta saß da, fleißig über ihre Arbeit gebeugt, die Tochter aus der
Wirtschaft zum "Heiligen Geist," deren Vater im Zuchthaus saß, während ihre
Mutter allein die Wirtschaft führte. Es sollte bös Hergehn im "Heiligen Geist."

Die aber, die ihre Maschine dicht neben der Fintjes stehn hatte, war Miete,
die hübscheste, stillste und sanfteste von ihnen allen, Miete, die sich Fintje zur
Freundin auserkoren hatte.

Eintönig rasselten die Maschinen, die glatte Seide hängte sich an die warmen


Im alten Brüssel

und las. Bald mußte er die nötige Bildung zusammenstudiert haben, daß er die
versprochnen Stücke schreiben konnte. Und Fintje wollte auch lernen, denn sie hatte
das müßige Herumhocken im Pouchenellekeller satt, während die alte Großmutter
noch tätig und erfolgreich ihres schwierigen Amtes waltete. Sie wollte etwas
Feines werden. Später einmal viel Geld verdienen und dann lauter hübsche Dinge
an und um sich haben, hauptsächlich viel Blumen, scharfduftende Blumen wie
Hyazinthen und Narzissen. Doch daß etwas erreicht würde im Leben, mußte erst
gelernt werden, darin hatten die Großmutter und Ovale sicher Recht.

Sie war nun fünfzehn Jahre alt und ging in die Lehre zu Madame GLrard
in der Hoogstraat. Dort verfertigten sie die eleganten Korsetts, die dann in den
teuern Läden des schönen Brüssels an die vornehmen Damen verkauft wurden.

Fintje kam es in dem kleinen Hause Madame Görards ungemein reich und
großartig vor. Sie bekam zwar außer dem Atelier nur das anstoßende kleine
Empfangszimmer zu sehen, worin Madame mit ihren Kunden verhandelte, und in
diese ungelüftete, staubige Stube, die Fintje so sehr bewunderte, verirrten sich
manchmal sogar Damen. Da standen auf dem Kaminsims vergoldete Leuchter und
Vasen, zum Schutz gegen Staub und Fliegen in rosa Florkleider gehüllt. Und auf
einer wunderlich verschnörkelten Kommode thronte eine Standuhr aus buntem
Porzellan mit einer Gruppe von Schäfern und Hirtinnen und einem flügel¬
schlagenden Hahn mit ausgerecktem Hals. An der Wand aber hingen große Teller
aus demselben bunten Porzellan, und eine kupferne Mutter Gottes stand auf einem
Eckbrett, und weil sie nicht vergoldet war, wurde sie keines Florgewandes würdig
befunden und war nun schon bedenklich schwarz geworden. Auf dem Tische lag
eine neue Plüschdecke, deren schreiend bunte Farben Fintjes durstige Augen ent¬
zückten, mehr noch als die bunten Glasfenster mit den moderngewnndnen Wasser¬
rosen, die die untere Hälfte der ungeputzten Fenster verdeckten.

Es stand auch ein kleines Sofa in dem Zimmer, auf dem in genialer Un¬
ordnung die schillernden geblümten Seidenstoffe aufgebauscht lagen, aus denen
Madame Gepard ihre Korsetts herstellte. Fintje fühlte diese weiche, feine Seide
gern zwischen den Fingern, es erleichterte ihr die neue Tätigkeit. Sie war das
gebückte Sitzen so gar nicht gewohnt! Doch da die andern Mädchen es aushielten,
mußte auch sie sich daran gewöhnen können.

Zu sechsen saßen sie im Atelier vor ihren rasselnden Nähmaschinen. Hell war
es nicht, denn das einzige Fenster ging auf die breite Mauer eines mächtigen
Schornsteins hinaus, die neidisch dem kahlen Raum Luft und Licht verwehrte.
Hob Fintje mit einem Seufzer den Kopf von der Arbeit mit sehnsuchtsvollen
Augen, die nach einem Stückchen blauem Himmel verlangten, sah sie immer nur
diesen breiten, düstern Schornstein. Doch die andern sahen ja auch nicht mehr.

Auf dem dunkelsten Platz saß Belöke, die bucklige kleine Belöke mit dem alten
verschrumpelten Gesichtchen. Die war bescheiden und fleißig.

Hochmütig aber war Truitje, die große blonde Weinhändlerstochter, nur die
rothaarige Rosalie mit den kecken Augen und der schlagfertigen Zunge hatte sie sich
zur Freundin erwählt.

Und da war Nelke, die hübsche schwarze, faule Nelke, die ihre Arbeit hinwarf,
sobald Madame zur Tür hinaus war, und unaufgefordert alle Skandalgeschichten
ihrer Nachbarschaft zum besten gab; und Roosje, das magre, freundliche Geschöpf
mit den hektisch roten Backen und den eingesunknen, glänzenden blauen Augen, von
der jedermann, nur sie selbst nicht wußte, daß sie nur noch kurze Zeit zu leben
hatte. Und Berta saß da, fleißig über ihre Arbeit gebeugt, die Tochter aus der
Wirtschaft zum „Heiligen Geist," deren Vater im Zuchthaus saß, während ihre
Mutter allein die Wirtschaft führte. Es sollte bös Hergehn im „Heiligen Geist."

Die aber, die ihre Maschine dicht neben der Fintjes stehn hatte, war Miete,
die hübscheste, stillste und sanfteste von ihnen allen, Miete, die sich Fintje zur
Freundin auserkoren hatte.

Eintönig rasselten die Maschinen, die glatte Seide hängte sich an die warmen


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[0180] Im alten Brüssel und las. Bald mußte er die nötige Bildung zusammenstudiert haben, daß er die versprochnen Stücke schreiben konnte. Und Fintje wollte auch lernen, denn sie hatte das müßige Herumhocken im Pouchenellekeller satt, während die alte Großmutter noch tätig und erfolgreich ihres schwierigen Amtes waltete. Sie wollte etwas Feines werden. Später einmal viel Geld verdienen und dann lauter hübsche Dinge an und um sich haben, hauptsächlich viel Blumen, scharfduftende Blumen wie Hyazinthen und Narzissen. Doch daß etwas erreicht würde im Leben, mußte erst gelernt werden, darin hatten die Großmutter und Ovale sicher Recht. Sie war nun fünfzehn Jahre alt und ging in die Lehre zu Madame GLrard in der Hoogstraat. Dort verfertigten sie die eleganten Korsetts, die dann in den teuern Läden des schönen Brüssels an die vornehmen Damen verkauft wurden. Fintje kam es in dem kleinen Hause Madame Görards ungemein reich und großartig vor. Sie bekam zwar außer dem Atelier nur das anstoßende kleine Empfangszimmer zu sehen, worin Madame mit ihren Kunden verhandelte, und in diese ungelüftete, staubige Stube, die Fintje so sehr bewunderte, verirrten sich manchmal sogar Damen. Da standen auf dem Kaminsims vergoldete Leuchter und Vasen, zum Schutz gegen Staub und Fliegen in rosa Florkleider gehüllt. Und auf einer wunderlich verschnörkelten Kommode thronte eine Standuhr aus buntem Porzellan mit einer Gruppe von Schäfern und Hirtinnen und einem flügel¬ schlagenden Hahn mit ausgerecktem Hals. An der Wand aber hingen große Teller aus demselben bunten Porzellan, und eine kupferne Mutter Gottes stand auf einem Eckbrett, und weil sie nicht vergoldet war, wurde sie keines Florgewandes würdig befunden und war nun schon bedenklich schwarz geworden. Auf dem Tische lag eine neue Plüschdecke, deren schreiend bunte Farben Fintjes durstige Augen ent¬ zückten, mehr noch als die bunten Glasfenster mit den moderngewnndnen Wasser¬ rosen, die die untere Hälfte der ungeputzten Fenster verdeckten. Es stand auch ein kleines Sofa in dem Zimmer, auf dem in genialer Un¬ ordnung die schillernden geblümten Seidenstoffe aufgebauscht lagen, aus denen Madame Gepard ihre Korsetts herstellte. Fintje fühlte diese weiche, feine Seide gern zwischen den Fingern, es erleichterte ihr die neue Tätigkeit. Sie war das gebückte Sitzen so gar nicht gewohnt! Doch da die andern Mädchen es aushielten, mußte auch sie sich daran gewöhnen können. Zu sechsen saßen sie im Atelier vor ihren rasselnden Nähmaschinen. Hell war es nicht, denn das einzige Fenster ging auf die breite Mauer eines mächtigen Schornsteins hinaus, die neidisch dem kahlen Raum Luft und Licht verwehrte. Hob Fintje mit einem Seufzer den Kopf von der Arbeit mit sehnsuchtsvollen Augen, die nach einem Stückchen blauem Himmel verlangten, sah sie immer nur diesen breiten, düstern Schornstein. Doch die andern sahen ja auch nicht mehr. Auf dem dunkelsten Platz saß Belöke, die bucklige kleine Belöke mit dem alten verschrumpelten Gesichtchen. Die war bescheiden und fleißig. Hochmütig aber war Truitje, die große blonde Weinhändlerstochter, nur die rothaarige Rosalie mit den kecken Augen und der schlagfertigen Zunge hatte sie sich zur Freundin erwählt. Und da war Nelke, die hübsche schwarze, faule Nelke, die ihre Arbeit hinwarf, sobald Madame zur Tür hinaus war, und unaufgefordert alle Skandalgeschichten ihrer Nachbarschaft zum besten gab; und Roosje, das magre, freundliche Geschöpf mit den hektisch roten Backen und den eingesunknen, glänzenden blauen Augen, von der jedermann, nur sie selbst nicht wußte, daß sie nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Und Berta saß da, fleißig über ihre Arbeit gebeugt, die Tochter aus der Wirtschaft zum „Heiligen Geist," deren Vater im Zuchthaus saß, während ihre Mutter allein die Wirtschaft führte. Es sollte bös Hergehn im „Heiligen Geist." Die aber, die ihre Maschine dicht neben der Fintjes stehn hatte, war Miete, die hübscheste, stillste und sanfteste von ihnen allen, Miete, die sich Fintje zur Freundin auserkoren hatte. Eintönig rasselten die Maschinen, die glatte Seide hängte sich an die warmen

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/180>, abgerufen am 23.07.2024.