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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Eine neue Geschichte Alexanders des Ersten
von Rußland

<MIM Kenner russischen Wesens und russischer Geschichte, Professor
Theodor Schiemann in Berlin, hat zu Ende des vergangnen
Jahres den ersten Band eines neuen Werkes*) über den eigen¬
tümlichen Mann veröffentlicht, der über die Leiche seines Vaters,
!des Kaisers Paul, zum Throne gelangte und sein Leben lang
unter dem Gefühl schwerer Schuld litt, ja in dessen Brust zwei Seelen wohnten,
der Hang zu zarischer Allmacht und das demütige Streben, sich durch edle,
seinem ganzen Volke zugute kommende Taten zu entsühnen: ein sentimentaler,
von Menschenliebe und gutem Willen erfüllter Tyrann. Er schwamm mit
seinem Zeitalter in Gefühlsseligkeit. Durch seinen Genfer Erzieher Laharpe
war er mit der Ideenwelt Rousseaus vertraut geworden, längst ehe das
Schicksal eine verantwortungsvolle Tat von ihm forderte. Der Freundeskreis
seiner Jugend wurde aus Männern gebildet, die ebenfalls von dem mächtig
Vorwärts strebenden Geiste erfaßt waren. Schon vor der blutigen Tat, die
nun sein Herz so schwer niederdrückte, gehörte die Einführung einer Verfassung
oder wenigstens unverletzlicher Grundrechte nach Art der englischen Habeas-
corpus-Akte zu seinen Lieblingsplänen. Von der Mitschuld an dem Tode seines
Vaters kann ihn die Geschichte so wenig freisprechen, wie er selber es tat, doch
rechnet sie ihn nicht unter die eigentlichen Vatermörder. Denn nicht Gier nach
Herrschaft leitete ihn, sondern eine furchtbare Verwicklung. Der Staat war in
den Händen eines unumschränkten Monarchen, und dieser gelangte von einem
exzentrischen Wesen mehr und mehr zum eigentlichen Wahnsinn. Ob seine
Mutter, Katharina die Zweite, das erkannt hatte, mag zweifelhaft sein, gewiß
ist, daß sie ihn für ungeeignet zur Regierung hielt und ihn zugunsten seines
ältesten Sohnes Alexander Pou Throne fernhalten wollte. Der Schlagfluß,
der am 6. November 1796 die Kaiserin dahinraffte, durchkreuzte ihre Pläne
und gab dem Sohne die Herrschaft, die er nur bis zum 11. März 1801 führen
sollte. Diese kurze Zeit hat ausgereicht, den Cüsarenwahnsinn in ihm zu ent-



*) Theodor Schiemann, Geschichte Rußlands unter Nikolaus dein Ersten.
Alexander und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit. Berlin, Georg Reimer.Band 1: Kaiser
Grenzboten I 190517


Eine neue Geschichte Alexanders des Ersten
von Rußland

<MIM Kenner russischen Wesens und russischer Geschichte, Professor
Theodor Schiemann in Berlin, hat zu Ende des vergangnen
Jahres den ersten Band eines neuen Werkes*) über den eigen¬
tümlichen Mann veröffentlicht, der über die Leiche seines Vaters,
!des Kaisers Paul, zum Throne gelangte und sein Leben lang
unter dem Gefühl schwerer Schuld litt, ja in dessen Brust zwei Seelen wohnten,
der Hang zu zarischer Allmacht und das demütige Streben, sich durch edle,
seinem ganzen Volke zugute kommende Taten zu entsühnen: ein sentimentaler,
von Menschenliebe und gutem Willen erfüllter Tyrann. Er schwamm mit
seinem Zeitalter in Gefühlsseligkeit. Durch seinen Genfer Erzieher Laharpe
war er mit der Ideenwelt Rousseaus vertraut geworden, längst ehe das
Schicksal eine verantwortungsvolle Tat von ihm forderte. Der Freundeskreis
seiner Jugend wurde aus Männern gebildet, die ebenfalls von dem mächtig
Vorwärts strebenden Geiste erfaßt waren. Schon vor der blutigen Tat, die
nun sein Herz so schwer niederdrückte, gehörte die Einführung einer Verfassung
oder wenigstens unverletzlicher Grundrechte nach Art der englischen Habeas-
corpus-Akte zu seinen Lieblingsplänen. Von der Mitschuld an dem Tode seines
Vaters kann ihn die Geschichte so wenig freisprechen, wie er selber es tat, doch
rechnet sie ihn nicht unter die eigentlichen Vatermörder. Denn nicht Gier nach
Herrschaft leitete ihn, sondern eine furchtbare Verwicklung. Der Staat war in
den Händen eines unumschränkten Monarchen, und dieser gelangte von einem
exzentrischen Wesen mehr und mehr zum eigentlichen Wahnsinn. Ob seine
Mutter, Katharina die Zweite, das erkannt hatte, mag zweifelhaft sein, gewiß
ist, daß sie ihn für ungeeignet zur Regierung hielt und ihn zugunsten seines
ältesten Sohnes Alexander Pou Throne fernhalten wollte. Der Schlagfluß,
der am 6. November 1796 die Kaiserin dahinraffte, durchkreuzte ihre Pläne
und gab dem Sohne die Herrschaft, die er nur bis zum 11. März 1801 führen
sollte. Diese kurze Zeit hat ausgereicht, den Cüsarenwahnsinn in ihm zu ent-



*) Theodor Schiemann, Geschichte Rußlands unter Nikolaus dein Ersten.
Alexander und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit. Berlin, Georg Reimer.Band 1: Kaiser
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[0129] [Abbildung] Eine neue Geschichte Alexanders des Ersten von Rußland <MIM Kenner russischen Wesens und russischer Geschichte, Professor Theodor Schiemann in Berlin, hat zu Ende des vergangnen Jahres den ersten Band eines neuen Werkes*) über den eigen¬ tümlichen Mann veröffentlicht, der über die Leiche seines Vaters, !des Kaisers Paul, zum Throne gelangte und sein Leben lang unter dem Gefühl schwerer Schuld litt, ja in dessen Brust zwei Seelen wohnten, der Hang zu zarischer Allmacht und das demütige Streben, sich durch edle, seinem ganzen Volke zugute kommende Taten zu entsühnen: ein sentimentaler, von Menschenliebe und gutem Willen erfüllter Tyrann. Er schwamm mit seinem Zeitalter in Gefühlsseligkeit. Durch seinen Genfer Erzieher Laharpe war er mit der Ideenwelt Rousseaus vertraut geworden, längst ehe das Schicksal eine verantwortungsvolle Tat von ihm forderte. Der Freundeskreis seiner Jugend wurde aus Männern gebildet, die ebenfalls von dem mächtig Vorwärts strebenden Geiste erfaßt waren. Schon vor der blutigen Tat, die nun sein Herz so schwer niederdrückte, gehörte die Einführung einer Verfassung oder wenigstens unverletzlicher Grundrechte nach Art der englischen Habeas- corpus-Akte zu seinen Lieblingsplänen. Von der Mitschuld an dem Tode seines Vaters kann ihn die Geschichte so wenig freisprechen, wie er selber es tat, doch rechnet sie ihn nicht unter die eigentlichen Vatermörder. Denn nicht Gier nach Herrschaft leitete ihn, sondern eine furchtbare Verwicklung. Der Staat war in den Händen eines unumschränkten Monarchen, und dieser gelangte von einem exzentrischen Wesen mehr und mehr zum eigentlichen Wahnsinn. Ob seine Mutter, Katharina die Zweite, das erkannt hatte, mag zweifelhaft sein, gewiß ist, daß sie ihn für ungeeignet zur Regierung hielt und ihn zugunsten seines ältesten Sohnes Alexander Pou Throne fernhalten wollte. Der Schlagfluß, der am 6. November 1796 die Kaiserin dahinraffte, durchkreuzte ihre Pläne und gab dem Sohne die Herrschaft, die er nur bis zum 11. März 1801 führen sollte. Diese kurze Zeit hat ausgereicht, den Cüsarenwahnsinn in ihm zu ent- *) Theodor Schiemann, Geschichte Rußlands unter Nikolaus dein Ersten. Alexander und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit. Berlin, Georg Reimer.Band 1: Kaiser Grenzboten I 190517

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/129>, abgerufen am 22.12.2024.