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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

deren Ton verdient in angesehene" Zeitschriften gar nicht beachtet, geschweige denn
widerlegt zu werden -- ist den Hauptschaden unsrer Zeit nicht abzuhelfen. Ein
Sammeln gilt es vielmehr für all die Kreise, die auf dem Boden unsrer Staats¬
und Gesellschaftsordnung stehn, um unserm Volk zu erhalten, was jedem Deutschen
erhaltungswert erscheinen muß, mag er sich im übrigen konservativ oder liberal
oder ultramontan nennen. Zufriedenheit schaffen in den Arbeitervierteln der Gro߬
städte wie in der Werkstatt des Gewerbtreibenden und im Hofe des Bauern, das
muß die Losung sein, kann aber nur bei geordneten Reichs- und Staatsfinanzen
erreicht werden, die den nachgerade abhanden gekommnen Sparsinn früherer Gene¬
rationen achten, als Grundsatz des gesunden Bürgertums gegenüber dem krankhaften
axrss nous Is MuZö einstiger Aristokraten und moderner Nationalsozialer.

Mehr Muße für gute Bücher, weniger Zeitvergeudung für Tagesneuigkeiten
(liest man doch jeden Unfall, jedes frivole Abenteuer, jeden Mord nicht ein, nein
zwei und dreimal, je nach dem doppelten Erscheinen der großen Zeitungen) und
Witzblätter (die guten "Fliegenden" ausgenommen); mehr Aufsätze oder Vor¬
träge, die am Familientisch bilden und belehren, weniger Gerichtsverhandlungs¬
berichte, die Schamröte bei Alt und Jung hervorrufen "müßten," mehr ernste Reise-
eindrücke aus den fremden Ländern, deren politische und wirtschaftliche Zustände
uns erst klar machen, wie viel besser Deutschland regiert wird als westliche und
östliche Nachbarn, weniger Vergnügungshetztouren im Sommer in überfüllte Bade-
uud Luftkurorte, im Winter in die "Zerstreuungen" der Reichshauptstadt. Pflege
der jedem sich darbietenden Naturfreuden, denen die noch nicht sozial infizierter-
ärmern Klassen dnrch ihre Schrebergärten schon den rechten Weg anzeigen (ein
kleines aber gewiß beachtenswertes Mittel, dem Vandalismus der Arbeiterjugend
gegen Lebendes und Todes entgegenzuwirken). Nach geistiger und körperlicher Arbeit
Aufsuchen des eignen Hauses statt des Tabaksaualms der "Bierpaläste," der reinen
Luft, die ohne Bergeshöhen oder Meeresstrand auch das deutsche Land bietet,
zur Herstellung überreizter Nerven und Sinne. Ein Jahr ohne alle Wahlen, weder
Gemeinde-, Kirchenvorstands-, Stadtverordneten-, Landtags-, Neichstagswahllisten,
wenn dem nicht leider die bestehenden Gesetze schon entgegenstünden! Das wäre
"in nationale Gesundung förderndes Nenjahrsgeschenk, würdig der Grenzboten und
ihrer wahrhaft volksfreundlichen aber nicht nach Afterpopularität haschenden Tendenz.
Dazu el" Beispiel des größten Haushalts im Reich, des Reichsschatzamtes und
der Finanzverwaltungen der Bundesstaaten, nach dem Vorbild jener guten alten
kaufmännischen Buchführungen, wie sie bis zum Milliardeuzeitalter in den großen
Handelsstädten des Nordens und des Südens als selbstverständlich galten, nämlich:
keine Ausgabe ohne Deckung; jetzt freilich suchen Kommissions- und Kommerzicn-
räte, deren Voreltern sicher nicht solid kaufmännisch geschult waren, die vor Jahr¬
hunderten in Holland und in Frankreich als Zwiebel- und Lotterieschwindel auf¬
tauchenden Maximen den modernen transatlantischen Finanzgrößen nacheifernd, ohne
deren Existenzbedingungen bei uns zu importieren, nach dem bekannten Camphausenschen
Votum, und der -- Sozialist hat seine Freude daran! Neichsfincmzreform als
eomlitio sine ama, non, ein autonomer Zolltarif, langfristige Handelsverträge ohne
die manchesterliche Meistbegünstigungsklausel, ein durch eine starke Flotte geschützter
Welthandel, altprenßische Einfachheit im Wehr- und Nährstand bei der bekannten
gleichwertigen Leistungsfähigkeit aller deutschen Stämme in der Stunde der Gefahr,
Pensionsgesctze für jeden, der als Volkserzieher Zucht und Ordnung i" den Schulen
wie in den Kasernen auf Kosten seiner Gesundheit geopfert hat, und Familiensinn
in der Hütte wie auf dem Throne, das wäre ein weiterer Nenjahrswunsch.

Brande mau die Silvesterbowle aus den besten Ingredienzien aller Parteien,
denn wie der Keim der Sünde, so liegt anch ein Saatkorn des Guten in jeder
Menschenseele, so hätte man mit dem Grundstoff treu monarchischer Gesinnung der
Konservativen, der festen kirchlichen Überzeugung des Zentrumsmannes, der An¬
passungsfähigkeit des Liberalismus an neue Aufgaben und Formen, der nüchternen
aber richtig subtrahierenden Art Engen Richters, der Opferfreudigkeit der sozia-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

deren Ton verdient in angesehene» Zeitschriften gar nicht beachtet, geschweige denn
widerlegt zu werden — ist den Hauptschaden unsrer Zeit nicht abzuhelfen. Ein
Sammeln gilt es vielmehr für all die Kreise, die auf dem Boden unsrer Staats¬
und Gesellschaftsordnung stehn, um unserm Volk zu erhalten, was jedem Deutschen
erhaltungswert erscheinen muß, mag er sich im übrigen konservativ oder liberal
oder ultramontan nennen. Zufriedenheit schaffen in den Arbeitervierteln der Gro߬
städte wie in der Werkstatt des Gewerbtreibenden und im Hofe des Bauern, das
muß die Losung sein, kann aber nur bei geordneten Reichs- und Staatsfinanzen
erreicht werden, die den nachgerade abhanden gekommnen Sparsinn früherer Gene¬
rationen achten, als Grundsatz des gesunden Bürgertums gegenüber dem krankhaften
axrss nous Is MuZö einstiger Aristokraten und moderner Nationalsozialer.

Mehr Muße für gute Bücher, weniger Zeitvergeudung für Tagesneuigkeiten
(liest man doch jeden Unfall, jedes frivole Abenteuer, jeden Mord nicht ein, nein
zwei und dreimal, je nach dem doppelten Erscheinen der großen Zeitungen) und
Witzblätter (die guten „Fliegenden" ausgenommen); mehr Aufsätze oder Vor¬
träge, die am Familientisch bilden und belehren, weniger Gerichtsverhandlungs¬
berichte, die Schamröte bei Alt und Jung hervorrufen „müßten," mehr ernste Reise-
eindrücke aus den fremden Ländern, deren politische und wirtschaftliche Zustände
uns erst klar machen, wie viel besser Deutschland regiert wird als westliche und
östliche Nachbarn, weniger Vergnügungshetztouren im Sommer in überfüllte Bade-
uud Luftkurorte, im Winter in die „Zerstreuungen" der Reichshauptstadt. Pflege
der jedem sich darbietenden Naturfreuden, denen die noch nicht sozial infizierter-
ärmern Klassen dnrch ihre Schrebergärten schon den rechten Weg anzeigen (ein
kleines aber gewiß beachtenswertes Mittel, dem Vandalismus der Arbeiterjugend
gegen Lebendes und Todes entgegenzuwirken). Nach geistiger und körperlicher Arbeit
Aufsuchen des eignen Hauses statt des Tabaksaualms der „Bierpaläste," der reinen
Luft, die ohne Bergeshöhen oder Meeresstrand auch das deutsche Land bietet,
zur Herstellung überreizter Nerven und Sinne. Ein Jahr ohne alle Wahlen, weder
Gemeinde-, Kirchenvorstands-, Stadtverordneten-, Landtags-, Neichstagswahllisten,
wenn dem nicht leider die bestehenden Gesetze schon entgegenstünden! Das wäre
«in nationale Gesundung förderndes Nenjahrsgeschenk, würdig der Grenzboten und
ihrer wahrhaft volksfreundlichen aber nicht nach Afterpopularität haschenden Tendenz.
Dazu el« Beispiel des größten Haushalts im Reich, des Reichsschatzamtes und
der Finanzverwaltungen der Bundesstaaten, nach dem Vorbild jener guten alten
kaufmännischen Buchführungen, wie sie bis zum Milliardeuzeitalter in den großen
Handelsstädten des Nordens und des Südens als selbstverständlich galten, nämlich:
keine Ausgabe ohne Deckung; jetzt freilich suchen Kommissions- und Kommerzicn-
räte, deren Voreltern sicher nicht solid kaufmännisch geschult waren, die vor Jahr¬
hunderten in Holland und in Frankreich als Zwiebel- und Lotterieschwindel auf¬
tauchenden Maximen den modernen transatlantischen Finanzgrößen nacheifernd, ohne
deren Existenzbedingungen bei uns zu importieren, nach dem bekannten Camphausenschen
Votum, und der — Sozialist hat seine Freude daran! Neichsfincmzreform als
eomlitio sine ama, non, ein autonomer Zolltarif, langfristige Handelsverträge ohne
die manchesterliche Meistbegünstigungsklausel, ein durch eine starke Flotte geschützter
Welthandel, altprenßische Einfachheit im Wehr- und Nährstand bei der bekannten
gleichwertigen Leistungsfähigkeit aller deutschen Stämme in der Stunde der Gefahr,
Pensionsgesctze für jeden, der als Volkserzieher Zucht und Ordnung i» den Schulen
wie in den Kasernen auf Kosten seiner Gesundheit geopfert hat, und Familiensinn
in der Hütte wie auf dem Throne, das wäre ein weiterer Nenjahrswunsch.

Brande mau die Silvesterbowle aus den besten Ingredienzien aller Parteien,
denn wie der Keim der Sünde, so liegt anch ein Saatkorn des Guten in jeder
Menschenseele, so hätte man mit dem Grundstoff treu monarchischer Gesinnung der
Konservativen, der festen kirchlichen Überzeugung des Zentrumsmannes, der An¬
passungsfähigkeit des Liberalismus an neue Aufgaben und Formen, der nüchternen
aber richtig subtrahierenden Art Engen Richters, der Opferfreudigkeit der sozia-


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[0127] Maßgebliches und Unmaßgebliches deren Ton verdient in angesehene» Zeitschriften gar nicht beachtet, geschweige denn widerlegt zu werden — ist den Hauptschaden unsrer Zeit nicht abzuhelfen. Ein Sammeln gilt es vielmehr für all die Kreise, die auf dem Boden unsrer Staats¬ und Gesellschaftsordnung stehn, um unserm Volk zu erhalten, was jedem Deutschen erhaltungswert erscheinen muß, mag er sich im übrigen konservativ oder liberal oder ultramontan nennen. Zufriedenheit schaffen in den Arbeitervierteln der Gro߬ städte wie in der Werkstatt des Gewerbtreibenden und im Hofe des Bauern, das muß die Losung sein, kann aber nur bei geordneten Reichs- und Staatsfinanzen erreicht werden, die den nachgerade abhanden gekommnen Sparsinn früherer Gene¬ rationen achten, als Grundsatz des gesunden Bürgertums gegenüber dem krankhaften axrss nous Is MuZö einstiger Aristokraten und moderner Nationalsozialer. Mehr Muße für gute Bücher, weniger Zeitvergeudung für Tagesneuigkeiten (liest man doch jeden Unfall, jedes frivole Abenteuer, jeden Mord nicht ein, nein zwei und dreimal, je nach dem doppelten Erscheinen der großen Zeitungen) und Witzblätter (die guten „Fliegenden" ausgenommen); mehr Aufsätze oder Vor¬ träge, die am Familientisch bilden und belehren, weniger Gerichtsverhandlungs¬ berichte, die Schamröte bei Alt und Jung hervorrufen „müßten," mehr ernste Reise- eindrücke aus den fremden Ländern, deren politische und wirtschaftliche Zustände uns erst klar machen, wie viel besser Deutschland regiert wird als westliche und östliche Nachbarn, weniger Vergnügungshetztouren im Sommer in überfüllte Bade- uud Luftkurorte, im Winter in die „Zerstreuungen" der Reichshauptstadt. Pflege der jedem sich darbietenden Naturfreuden, denen die noch nicht sozial infizierter- ärmern Klassen dnrch ihre Schrebergärten schon den rechten Weg anzeigen (ein kleines aber gewiß beachtenswertes Mittel, dem Vandalismus der Arbeiterjugend gegen Lebendes und Todes entgegenzuwirken). Nach geistiger und körperlicher Arbeit Aufsuchen des eignen Hauses statt des Tabaksaualms der „Bierpaläste," der reinen Luft, die ohne Bergeshöhen oder Meeresstrand auch das deutsche Land bietet, zur Herstellung überreizter Nerven und Sinne. Ein Jahr ohne alle Wahlen, weder Gemeinde-, Kirchenvorstands-, Stadtverordneten-, Landtags-, Neichstagswahllisten, wenn dem nicht leider die bestehenden Gesetze schon entgegenstünden! Das wäre «in nationale Gesundung förderndes Nenjahrsgeschenk, würdig der Grenzboten und ihrer wahrhaft volksfreundlichen aber nicht nach Afterpopularität haschenden Tendenz. Dazu el« Beispiel des größten Haushalts im Reich, des Reichsschatzamtes und der Finanzverwaltungen der Bundesstaaten, nach dem Vorbild jener guten alten kaufmännischen Buchführungen, wie sie bis zum Milliardeuzeitalter in den großen Handelsstädten des Nordens und des Südens als selbstverständlich galten, nämlich: keine Ausgabe ohne Deckung; jetzt freilich suchen Kommissions- und Kommerzicn- räte, deren Voreltern sicher nicht solid kaufmännisch geschult waren, die vor Jahr¬ hunderten in Holland und in Frankreich als Zwiebel- und Lotterieschwindel auf¬ tauchenden Maximen den modernen transatlantischen Finanzgrößen nacheifernd, ohne deren Existenzbedingungen bei uns zu importieren, nach dem bekannten Camphausenschen Votum, und der — Sozialist hat seine Freude daran! Neichsfincmzreform als eomlitio sine ama, non, ein autonomer Zolltarif, langfristige Handelsverträge ohne die manchesterliche Meistbegünstigungsklausel, ein durch eine starke Flotte geschützter Welthandel, altprenßische Einfachheit im Wehr- und Nährstand bei der bekannten gleichwertigen Leistungsfähigkeit aller deutschen Stämme in der Stunde der Gefahr, Pensionsgesctze für jeden, der als Volkserzieher Zucht und Ordnung i» den Schulen wie in den Kasernen auf Kosten seiner Gesundheit geopfert hat, und Familiensinn in der Hütte wie auf dem Throne, das wäre ein weiterer Nenjahrswunsch. Brande mau die Silvesterbowle aus den besten Ingredienzien aller Parteien, denn wie der Keim der Sünde, so liegt anch ein Saatkorn des Guten in jeder Menschenseele, so hätte man mit dem Grundstoff treu monarchischer Gesinnung der Konservativen, der festen kirchlichen Überzeugung des Zentrumsmannes, der An¬ passungsfähigkeit des Liberalismus an neue Aufgaben und Formen, der nüchternen aber richtig subtrahierenden Art Engen Richters, der Opferfreudigkeit der sozia-

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/127>, abgerufen am 22.12.2024.