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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

Ich wills nicht machen wie die kleinen Schwestern, Großmutter, gewiß nicht,
gar keinen Kummer werde ich dir machen, wenn ich groß bin. Und stolz sollst du
auf mich werden, o so stolz, so stolz! Warte nur, warte nur, wenn ich einmal
groß bin, da sollst du aber noch fröhlich werden, Großmutter, o und so schön
sollst du es haben!

Wenn du groß bist? Wenn du groß bist, gehts dir wie den andern. Du
hast die Lustigkeit von meinem Truitje und den Eigendünkel und die Vergnügungs¬
sucht von den d'el Trap, dazu von mir noch das heftige Empfinden, wie sollte es
dir da wohl anders gehn? Aber es ist noch lange hin, bis du groß bist, Kind!
So lange, daß es mich drückt, hier auf der Brust wie ein Alp, die böse Angst:
Kannst du auf deinem Posten aushalten, bis das Kind selbst für sich sorgen kann?
Werden dir nicht bald die Hände zittern und die Augen trüb werden, daß du
deines Amtes im Poucheuellekeller nicht mehr walten kannst? Dann aber hat das
Fintje kein Heim mehr und wird es hart empfinden, denn es hat sich gewöhnt,
dieses Haus wie ein rechtmäßiges Heim anzusehen, und vergißt, daß es nur aus
Freundlichkeit geduldet wird und ans nichts ein Recht hat. Ein Recht auf nichts.

Großmutter, meine alte Großmutter, sorg dich doch nicht! Wenn deine Hände
zittrig werden, dann nehme ich deine Gerte, und du brauchst bloß zuzusehen, dann
verwalte ich das Amt, und du darfst bei mir wohnen bleiben.

Die Alte schüttelte den Kopf. Ein Zucken, das ein Lächeln bedeuten wollte,
ging durch die verwitterten Züge. Sie nahm die glatte braune Kinderhand, die
sich zutraute, die Rute im Pouchenellekeller zu führen, zwischen ihre harten Hände.

Dir gehorchen sie nicht, Fintje, du bist nicht geschaffen, Ruhe und Ordnung
aufrecht zu halten, du flößt nicht Respekt noch Grauen ein, du glatthäutiges, junges
Geschöpf. Nein, aushalten muß ich, aushalten!

Das Fintje braucht nicht betteln zu gehn, niemals! Es kann immer hier im
Haus bleiben.

Das war die schüchterne Stimme Oomkes, die da hinterm Tische laut wurde.

Aber die Alte legte kein Gewicht auf seine Worte.

Sie hat auf nichts ein Recht, beharrte sie.

Dann stand sie müde auf und schlich gebeugt hinaus; es griff sie immer an,
wenn sie die alten Geschichten erzählte.

Ovale wußte auch Geschichten. Heiter waren die auch nicht. Von seinem
großen Vetter, dem Portier der Maison du Peuple, dem neuerbauten Volkshaus,
der von der Leihbibliothek den Schlüssel hatte, von dem hatte er Bücher geliehen
bekommen. Victor Hugos NisÄadlss. Immer einen Band nach dem andern.
Darin las er des Nachts vor dem Einschlafen, daß ihm der Kopf brannte. Er
kannte die Leute aus dem Buche ganz genau. Aber er sprach nur mit Fintje,
Wenn sie allein bei der Lampe saßen, von seinen seltsamen Bekannten. Sieh, das
sind keine Könige und keine Prinzen und Räuber wie in unfern Stücken, die Leute
aus meinem Buche, erklärte er ihr, das sind ganz natürliche Menschen wie wir
auch, und arm sind sie und schlecht gekleidet. Ich werde einmal Stücke schreiben über
solche Menschen.

Aber Fintje mochte von denen, die Victor Hugo die Elenden nennt, nicht er¬
zählen hören.

Ovale, hör auf, das sind keine Geschichten, wie ich sie gern habe. Sie sind
häßlich wie der Großmutter ihre. Schöne Geschichten sollst dn mir erzählen! Von
Feen und weißen Schlössern und einem großen, großen blauen See mit Schwänen
darauf, und von Menschen in seidnen Kleidern und von einem Garten mit vielen
weißen Blumen darin, die herrlich, herrlich duften. O ja, von dem mag ich er¬
zählen hören!

Und Fintje stützte das blasse Gesichtchen auf beide Hände und starrte ins
Leere mit sehnsüchtigen Augen. Aber nur kurze Zeit. Sie konnte das Stillsitzen
nicht leiden.

So, Ovale, das übrige kannst du selbst vergolden, jetzt mag ich uicht mehr!


Im alten Brüssel

Ich wills nicht machen wie die kleinen Schwestern, Großmutter, gewiß nicht,
gar keinen Kummer werde ich dir machen, wenn ich groß bin. Und stolz sollst du
auf mich werden, o so stolz, so stolz! Warte nur, warte nur, wenn ich einmal
groß bin, da sollst du aber noch fröhlich werden, Großmutter, o und so schön
sollst du es haben!

Wenn du groß bist? Wenn du groß bist, gehts dir wie den andern. Du
hast die Lustigkeit von meinem Truitje und den Eigendünkel und die Vergnügungs¬
sucht von den d'el Trap, dazu von mir noch das heftige Empfinden, wie sollte es
dir da wohl anders gehn? Aber es ist noch lange hin, bis du groß bist, Kind!
So lange, daß es mich drückt, hier auf der Brust wie ein Alp, die böse Angst:
Kannst du auf deinem Posten aushalten, bis das Kind selbst für sich sorgen kann?
Werden dir nicht bald die Hände zittern und die Augen trüb werden, daß du
deines Amtes im Poucheuellekeller nicht mehr walten kannst? Dann aber hat das
Fintje kein Heim mehr und wird es hart empfinden, denn es hat sich gewöhnt,
dieses Haus wie ein rechtmäßiges Heim anzusehen, und vergißt, daß es nur aus
Freundlichkeit geduldet wird und ans nichts ein Recht hat. Ein Recht auf nichts.

Großmutter, meine alte Großmutter, sorg dich doch nicht! Wenn deine Hände
zittrig werden, dann nehme ich deine Gerte, und du brauchst bloß zuzusehen, dann
verwalte ich das Amt, und du darfst bei mir wohnen bleiben.

Die Alte schüttelte den Kopf. Ein Zucken, das ein Lächeln bedeuten wollte,
ging durch die verwitterten Züge. Sie nahm die glatte braune Kinderhand, die
sich zutraute, die Rute im Pouchenellekeller zu führen, zwischen ihre harten Hände.

Dir gehorchen sie nicht, Fintje, du bist nicht geschaffen, Ruhe und Ordnung
aufrecht zu halten, du flößt nicht Respekt noch Grauen ein, du glatthäutiges, junges
Geschöpf. Nein, aushalten muß ich, aushalten!

Das Fintje braucht nicht betteln zu gehn, niemals! Es kann immer hier im
Haus bleiben.

Das war die schüchterne Stimme Oomkes, die da hinterm Tische laut wurde.

Aber die Alte legte kein Gewicht auf seine Worte.

Sie hat auf nichts ein Recht, beharrte sie.

Dann stand sie müde auf und schlich gebeugt hinaus; es griff sie immer an,
wenn sie die alten Geschichten erzählte.

Ovale wußte auch Geschichten. Heiter waren die auch nicht. Von seinem
großen Vetter, dem Portier der Maison du Peuple, dem neuerbauten Volkshaus,
der von der Leihbibliothek den Schlüssel hatte, von dem hatte er Bücher geliehen
bekommen. Victor Hugos NisÄadlss. Immer einen Band nach dem andern.
Darin las er des Nachts vor dem Einschlafen, daß ihm der Kopf brannte. Er
kannte die Leute aus dem Buche ganz genau. Aber er sprach nur mit Fintje,
Wenn sie allein bei der Lampe saßen, von seinen seltsamen Bekannten. Sieh, das
sind keine Könige und keine Prinzen und Räuber wie in unfern Stücken, die Leute
aus meinem Buche, erklärte er ihr, das sind ganz natürliche Menschen wie wir
auch, und arm sind sie und schlecht gekleidet. Ich werde einmal Stücke schreiben über
solche Menschen.

Aber Fintje mochte von denen, die Victor Hugo die Elenden nennt, nicht er¬
zählen hören.

Ovale, hör auf, das sind keine Geschichten, wie ich sie gern habe. Sie sind
häßlich wie der Großmutter ihre. Schöne Geschichten sollst dn mir erzählen! Von
Feen und weißen Schlössern und einem großen, großen blauen See mit Schwänen
darauf, und von Menschen in seidnen Kleidern und von einem Garten mit vielen
weißen Blumen darin, die herrlich, herrlich duften. O ja, von dem mag ich er¬
zählen hören!

Und Fintje stützte das blasse Gesichtchen auf beide Hände und starrte ins
Leere mit sehnsüchtigen Augen. Aber nur kurze Zeit. Sie konnte das Stillsitzen
nicht leiden.

So, Ovale, das übrige kannst du selbst vergolden, jetzt mag ich uicht mehr!


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[0121] Im alten Brüssel Ich wills nicht machen wie die kleinen Schwestern, Großmutter, gewiß nicht, gar keinen Kummer werde ich dir machen, wenn ich groß bin. Und stolz sollst du auf mich werden, o so stolz, so stolz! Warte nur, warte nur, wenn ich einmal groß bin, da sollst du aber noch fröhlich werden, Großmutter, o und so schön sollst du es haben! Wenn du groß bist? Wenn du groß bist, gehts dir wie den andern. Du hast die Lustigkeit von meinem Truitje und den Eigendünkel und die Vergnügungs¬ sucht von den d'el Trap, dazu von mir noch das heftige Empfinden, wie sollte es dir da wohl anders gehn? Aber es ist noch lange hin, bis du groß bist, Kind! So lange, daß es mich drückt, hier auf der Brust wie ein Alp, die böse Angst: Kannst du auf deinem Posten aushalten, bis das Kind selbst für sich sorgen kann? Werden dir nicht bald die Hände zittern und die Augen trüb werden, daß du deines Amtes im Poucheuellekeller nicht mehr walten kannst? Dann aber hat das Fintje kein Heim mehr und wird es hart empfinden, denn es hat sich gewöhnt, dieses Haus wie ein rechtmäßiges Heim anzusehen, und vergißt, daß es nur aus Freundlichkeit geduldet wird und ans nichts ein Recht hat. Ein Recht auf nichts. Großmutter, meine alte Großmutter, sorg dich doch nicht! Wenn deine Hände zittrig werden, dann nehme ich deine Gerte, und du brauchst bloß zuzusehen, dann verwalte ich das Amt, und du darfst bei mir wohnen bleiben. Die Alte schüttelte den Kopf. Ein Zucken, das ein Lächeln bedeuten wollte, ging durch die verwitterten Züge. Sie nahm die glatte braune Kinderhand, die sich zutraute, die Rute im Pouchenellekeller zu führen, zwischen ihre harten Hände. Dir gehorchen sie nicht, Fintje, du bist nicht geschaffen, Ruhe und Ordnung aufrecht zu halten, du flößt nicht Respekt noch Grauen ein, du glatthäutiges, junges Geschöpf. Nein, aushalten muß ich, aushalten! Das Fintje braucht nicht betteln zu gehn, niemals! Es kann immer hier im Haus bleiben. Das war die schüchterne Stimme Oomkes, die da hinterm Tische laut wurde. Aber die Alte legte kein Gewicht auf seine Worte. Sie hat auf nichts ein Recht, beharrte sie. Dann stand sie müde auf und schlich gebeugt hinaus; es griff sie immer an, wenn sie die alten Geschichten erzählte. Ovale wußte auch Geschichten. Heiter waren die auch nicht. Von seinem großen Vetter, dem Portier der Maison du Peuple, dem neuerbauten Volkshaus, der von der Leihbibliothek den Schlüssel hatte, von dem hatte er Bücher geliehen bekommen. Victor Hugos NisÄadlss. Immer einen Band nach dem andern. Darin las er des Nachts vor dem Einschlafen, daß ihm der Kopf brannte. Er kannte die Leute aus dem Buche ganz genau. Aber er sprach nur mit Fintje, Wenn sie allein bei der Lampe saßen, von seinen seltsamen Bekannten. Sieh, das sind keine Könige und keine Prinzen und Räuber wie in unfern Stücken, die Leute aus meinem Buche, erklärte er ihr, das sind ganz natürliche Menschen wie wir auch, und arm sind sie und schlecht gekleidet. Ich werde einmal Stücke schreiben über solche Menschen. Aber Fintje mochte von denen, die Victor Hugo die Elenden nennt, nicht er¬ zählen hören. Ovale, hör auf, das sind keine Geschichten, wie ich sie gern habe. Sie sind häßlich wie der Großmutter ihre. Schöne Geschichten sollst dn mir erzählen! Von Feen und weißen Schlössern und einem großen, großen blauen See mit Schwänen darauf, und von Menschen in seidnen Kleidern und von einem Garten mit vielen weißen Blumen darin, die herrlich, herrlich duften. O ja, von dem mag ich er¬ zählen hören! Und Fintje stützte das blasse Gesichtchen auf beide Hände und starrte ins Leere mit sehnsüchtigen Augen. Aber nur kurze Zeit. Sie konnte das Stillsitzen nicht leiden. So, Ovale, das übrige kannst du selbst vergolden, jetzt mag ich uicht mehr!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/121>, abgerufen am 22.12.2024.