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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli ^ZOZ

seinen konstitutionellen bisherigen Kampfgenossen abzuschwenken. Leider hat
er es getan, ohne abzuwarten, was die Kommission Bulygin für den Fort¬
schritt leisten würde, und ohne auch nur die geringste Garantie für die Be¬
seitigung der Bureaukratie in der Hand zu haben. Hier in Petersburg sind
ihm allerhand Versprechungen gemacht worden. Anfänglich sollte er mit der
Leitung der Kommission betraut werden, unter der Bedingung, daß er sich
von der Sjemstwo trenne. Dann sollte er durch die Ernennung zum Land¬
wirtschaftsminister und schließlich durch die Leitung der später Goremykin
übertragnen Agrarkommission unschädlich gemacht werden. Schipow vertraute
anfänglich den Versprechungen, daß seine Ideen in die Praxis übertragen
werden sollten, trennte sich gemeinsam mit seinem zuverlässigen Freunde
Stachowitsch von der Sjemstwo, und die Bureaukratie wirtschaftete auf eigne
Faust weiter. Den Hergang erzähle ich nach Verschiedenseitiger Prüfung,
dennoch glaube ich, daß die Geschichte noch manches berichtigen wird. Schipows
Projekt soll mit einigen Änderungen die Billigung des Zaren gefunden haben.
Dann sind aber mir unbekannte Einflüsse stark geworden, die ein ganz neues
Projekt erwirkten. Ein schwaches Zeichen dafür, daß meine Darstellung in
den wesentlichsten Punkten richtig ist, scheint mir die Zurückweisung des Pro¬
jekts Bulygin durch den Zaren zu sein. Daneben ist die Auffassung hier weit
verbreitet, der Zar wolle überhaupt keine Reform in dem von der Gesellschaft
geforderten Sinne, sondern trage nur Sorge, die Gesellschaft hinzuhalten, um
die Bureaukratie und die Polizei so organisieren zu können, daß sie imstande
sei, die Autokratie zu schützen.

Was aber die Sjemstwoorgcmisativn anlangt, so hat die Regierung ihr
Ziel erreicht, indem sie die Uneinigkeit unter den Mitgliedern offenkundig machte.
Doch ihre Siegesfreude war von kurzer Dauer. Dank dem taktvollen Ver¬
halten der Grafen Heyden und Genossen, die dem Abtrünnigen alle Wege zur
Rückkehr ebneten, hat sich die anfängliche verhängnisvolle Spaltung zugunsten
der Konstitutionalisten wieder ausgeglichen, und nicht die radikale Gruppe
zerfiel, sondern die Gruppe Schipows. Damit ist der letzte Rettungsanker,
die letzte Möglichkeit zum friedlichen Ausgleich verschwunden. Schipow, der
tüchtigste und fähigste Leiter der Sjemstwoorganisation, ist am 20. Juli a. Se.
in die Mandschurei abgereist. Im Interesse Rußlands wäre es zu wünschen,
er möchte recht bald wieder auf der politischen Bühne erscheinen. Nicht die
Demokratie erlitt durch das Verschulden der Oswoboshdjenee und der Re¬
gierung den Verlust, sondern ganz Rußland.




Mit den "Oswoboshdjenee" habe ich die Gruppe der Demokraten ge¬
schildert, die sich aus den radikalsten Bestandteilen der Intelligenz und der
Sjemstwo zusammensetzt. Da sie mehr als taktische als als politische Einheit
zu betrachten ist, nehme ich sie bei der nun folgenden Besprechung der Intelligenz
ohne weiteres mit.

Die demokratische Intelligenz ist heute vereinigt in dem "Verband der
Verbände" (LoM s<M8vo), der zusammengesetzt ist aus den Verbänden:


Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli ^ZOZ

seinen konstitutionellen bisherigen Kampfgenossen abzuschwenken. Leider hat
er es getan, ohne abzuwarten, was die Kommission Bulygin für den Fort¬
schritt leisten würde, und ohne auch nur die geringste Garantie für die Be¬
seitigung der Bureaukratie in der Hand zu haben. Hier in Petersburg sind
ihm allerhand Versprechungen gemacht worden. Anfänglich sollte er mit der
Leitung der Kommission betraut werden, unter der Bedingung, daß er sich
von der Sjemstwo trenne. Dann sollte er durch die Ernennung zum Land¬
wirtschaftsminister und schließlich durch die Leitung der später Goremykin
übertragnen Agrarkommission unschädlich gemacht werden. Schipow vertraute
anfänglich den Versprechungen, daß seine Ideen in die Praxis übertragen
werden sollten, trennte sich gemeinsam mit seinem zuverlässigen Freunde
Stachowitsch von der Sjemstwo, und die Bureaukratie wirtschaftete auf eigne
Faust weiter. Den Hergang erzähle ich nach Verschiedenseitiger Prüfung,
dennoch glaube ich, daß die Geschichte noch manches berichtigen wird. Schipows
Projekt soll mit einigen Änderungen die Billigung des Zaren gefunden haben.
Dann sind aber mir unbekannte Einflüsse stark geworden, die ein ganz neues
Projekt erwirkten. Ein schwaches Zeichen dafür, daß meine Darstellung in
den wesentlichsten Punkten richtig ist, scheint mir die Zurückweisung des Pro¬
jekts Bulygin durch den Zaren zu sein. Daneben ist die Auffassung hier weit
verbreitet, der Zar wolle überhaupt keine Reform in dem von der Gesellschaft
geforderten Sinne, sondern trage nur Sorge, die Gesellschaft hinzuhalten, um
die Bureaukratie und die Polizei so organisieren zu können, daß sie imstande
sei, die Autokratie zu schützen.

Was aber die Sjemstwoorgcmisativn anlangt, so hat die Regierung ihr
Ziel erreicht, indem sie die Uneinigkeit unter den Mitgliedern offenkundig machte.
Doch ihre Siegesfreude war von kurzer Dauer. Dank dem taktvollen Ver¬
halten der Grafen Heyden und Genossen, die dem Abtrünnigen alle Wege zur
Rückkehr ebneten, hat sich die anfängliche verhängnisvolle Spaltung zugunsten
der Konstitutionalisten wieder ausgeglichen, und nicht die radikale Gruppe
zerfiel, sondern die Gruppe Schipows. Damit ist der letzte Rettungsanker,
die letzte Möglichkeit zum friedlichen Ausgleich verschwunden. Schipow, der
tüchtigste und fähigste Leiter der Sjemstwoorganisation, ist am 20. Juli a. Se.
in die Mandschurei abgereist. Im Interesse Rußlands wäre es zu wünschen,
er möchte recht bald wieder auf der politischen Bühne erscheinen. Nicht die
Demokratie erlitt durch das Verschulden der Oswoboshdjenee und der Re¬
gierung den Verlust, sondern ganz Rußland.




Mit den „Oswoboshdjenee" habe ich die Gruppe der Demokraten ge¬
schildert, die sich aus den radikalsten Bestandteilen der Intelligenz und der
Sjemstwo zusammensetzt. Da sie mehr als taktische als als politische Einheit
zu betrachten ist, nehme ich sie bei der nun folgenden Besprechung der Intelligenz
ohne weiteres mit.

Die demokratische Intelligenz ist heute vereinigt in dem „Verband der
Verbände" (LoM s<M8vo), der zusammengesetzt ist aus den Verbänden:


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[0643] Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli ^ZOZ seinen konstitutionellen bisherigen Kampfgenossen abzuschwenken. Leider hat er es getan, ohne abzuwarten, was die Kommission Bulygin für den Fort¬ schritt leisten würde, und ohne auch nur die geringste Garantie für die Be¬ seitigung der Bureaukratie in der Hand zu haben. Hier in Petersburg sind ihm allerhand Versprechungen gemacht worden. Anfänglich sollte er mit der Leitung der Kommission betraut werden, unter der Bedingung, daß er sich von der Sjemstwo trenne. Dann sollte er durch die Ernennung zum Land¬ wirtschaftsminister und schließlich durch die Leitung der später Goremykin übertragnen Agrarkommission unschädlich gemacht werden. Schipow vertraute anfänglich den Versprechungen, daß seine Ideen in die Praxis übertragen werden sollten, trennte sich gemeinsam mit seinem zuverlässigen Freunde Stachowitsch von der Sjemstwo, und die Bureaukratie wirtschaftete auf eigne Faust weiter. Den Hergang erzähle ich nach Verschiedenseitiger Prüfung, dennoch glaube ich, daß die Geschichte noch manches berichtigen wird. Schipows Projekt soll mit einigen Änderungen die Billigung des Zaren gefunden haben. Dann sind aber mir unbekannte Einflüsse stark geworden, die ein ganz neues Projekt erwirkten. Ein schwaches Zeichen dafür, daß meine Darstellung in den wesentlichsten Punkten richtig ist, scheint mir die Zurückweisung des Pro¬ jekts Bulygin durch den Zaren zu sein. Daneben ist die Auffassung hier weit verbreitet, der Zar wolle überhaupt keine Reform in dem von der Gesellschaft geforderten Sinne, sondern trage nur Sorge, die Gesellschaft hinzuhalten, um die Bureaukratie und die Polizei so organisieren zu können, daß sie imstande sei, die Autokratie zu schützen. Was aber die Sjemstwoorgcmisativn anlangt, so hat die Regierung ihr Ziel erreicht, indem sie die Uneinigkeit unter den Mitgliedern offenkundig machte. Doch ihre Siegesfreude war von kurzer Dauer. Dank dem taktvollen Ver¬ halten der Grafen Heyden und Genossen, die dem Abtrünnigen alle Wege zur Rückkehr ebneten, hat sich die anfängliche verhängnisvolle Spaltung zugunsten der Konstitutionalisten wieder ausgeglichen, und nicht die radikale Gruppe zerfiel, sondern die Gruppe Schipows. Damit ist der letzte Rettungsanker, die letzte Möglichkeit zum friedlichen Ausgleich verschwunden. Schipow, der tüchtigste und fähigste Leiter der Sjemstwoorganisation, ist am 20. Juli a. Se. in die Mandschurei abgereist. Im Interesse Rußlands wäre es zu wünschen, er möchte recht bald wieder auf der politischen Bühne erscheinen. Nicht die Demokratie erlitt durch das Verschulden der Oswoboshdjenee und der Re¬ gierung den Verlust, sondern ganz Rußland. Mit den „Oswoboshdjenee" habe ich die Gruppe der Demokraten ge¬ schildert, die sich aus den radikalsten Bestandteilen der Intelligenz und der Sjemstwo zusammensetzt. Da sie mehr als taktische als als politische Einheit zu betrachten ist, nehme ich sie bei der nun folgenden Besprechung der Intelligenz ohne weiteres mit. Die demokratische Intelligenz ist heute vereinigt in dem „Verband der Verbände" (LoM s<M8vo), der zusammengesetzt ist aus den Verbänden:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/643>, abgerufen am 19.10.2024.