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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli ^YO5

geordneten Staatswesen würden die praktische Propaganda treibenden Anhänger
der radikalen Bodenreform als gemeine Verbrecher vor den Strafrichter ge¬
zogen werden. In Rußland paktiert die Gesellschaft mit ihnen, weil sie ihrer
bedarf, um den herrschenden Klassen Unannehmlichkeiten zu bereiten und die
Regierung zu diskreditieren. Das Organ der Gruppe sind die "Schriften der
sozialrevolutionären Partei," die in der Schweiz erscheinen, und Krestjanskaja
Gazeta in Ssamara.

Daß sich eine Partei wie die gekennzeichnete fünfundzwanzig Jahre lang
zu halten vermochte, läßt darauf schließen, in welcher unnormalen Richtung
sich die Landwirschaft in Nußland entwickelte. Dennoch wäre es falsch, an¬
zunehmen, die traurigen Wirtschaftsverhältnisse hätten die weitere Bildung
regierungsfeindlicher Parteien allein hervorgerufen, woraus wiederum ge¬
schlossen werden könnte, diese Parteien seien die notwendige Folge der nationalen
Mißwirtschaft. Sogar unbedingte Alihänger der materialistischen Geschichts¬
auffassung werden sich aber hier in Nußland überzeugen können, wie wenig
die wirtschaftliche Lage der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung die
Entwicklung der Fortschrittsparteien beeinflußt hat, und sie werden zugeben
müssen, daß in den achtziger Jahren die sozialistischen Ideen nicht im Dienste
der Bauern standen, sondern umgekehrt, daß die Bauern gezwungen wurden,
sich in den Dienst dieser Ideen zu stellen. So wird von den Sozialrevolutio¬
nären der Gemeindebesitz noch zu einer Zeit verteidigt, wo die Bauern nur
durch Härten und Ungerechtigkeiten aller Art von der Negierung zum Fest¬
halten am Gemeindebesitz gezwungen werden können. Weiter sei darauf
hingewiesen, daß diese einzige noch an die Narodniki anknüpfende Fortschritts¬
partei, wie wir sehen werden, zu ihrem größten Teil im Lager der Sozial¬
demokraten verschwand, weil für ihre Ideen im russischen Volke der Boden
fehlte. Von Westen her begannen die Lehren Marxens durchzusickern, und die
Sozialdemokraten in Deutschland durften ihre Theorien öffentlich vertreten.
Das Eindringen der Sozialdemokratie ging aber fo langsam vor sich, daß sich
die Industrie in Nußland schon längst zu ihrem heutigen Umfang entwickelt
hatte, ohne daß es unter den Arbeitern Sozialdemokraten gegeben hätte. Also
auch hierin ein Kampf der Geister, kein Ringen wirtschaftlicher Kräfte!

Das Eindringen der Sozialdemokratie und ihr Sieg über die kommu¬
nistischen Überbleibsel bei den Sozialrevolutionären unterstützt von neuem
meine Behauptung, das Parteileben in Nußland sei nicht russischen Ursprungs.




Die Organisation der russischen sozialdemokratischen Partei kam wie die
vorher erwähnte in der Schweiz zustande. Sie nahm das bekannte Programm
der internationalen Sozialdemokratie an und machte es sich zur nächsten Auf¬
gabe, das städtische Arbeiterproletariat zu organisieren. Theoretisch war sie
im Gegensatz zu der ältern Schwester nicht als eine revolutionäre Partei zu
bezeichnen, praktisch hat sie seit diesem Jahre das Gegenteil bewiesen. Ihre
Organe sind Jskra (der Funke) und Wperjod (Vorwärts), dieser herausgegeben
von Lenin und Bontsch-Vrujewitsch.


Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli ^YO5

geordneten Staatswesen würden die praktische Propaganda treibenden Anhänger
der radikalen Bodenreform als gemeine Verbrecher vor den Strafrichter ge¬
zogen werden. In Rußland paktiert die Gesellschaft mit ihnen, weil sie ihrer
bedarf, um den herrschenden Klassen Unannehmlichkeiten zu bereiten und die
Regierung zu diskreditieren. Das Organ der Gruppe sind die „Schriften der
sozialrevolutionären Partei," die in der Schweiz erscheinen, und Krestjanskaja
Gazeta in Ssamara.

Daß sich eine Partei wie die gekennzeichnete fünfundzwanzig Jahre lang
zu halten vermochte, läßt darauf schließen, in welcher unnormalen Richtung
sich die Landwirschaft in Nußland entwickelte. Dennoch wäre es falsch, an¬
zunehmen, die traurigen Wirtschaftsverhältnisse hätten die weitere Bildung
regierungsfeindlicher Parteien allein hervorgerufen, woraus wiederum ge¬
schlossen werden könnte, diese Parteien seien die notwendige Folge der nationalen
Mißwirtschaft. Sogar unbedingte Alihänger der materialistischen Geschichts¬
auffassung werden sich aber hier in Nußland überzeugen können, wie wenig
die wirtschaftliche Lage der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung die
Entwicklung der Fortschrittsparteien beeinflußt hat, und sie werden zugeben
müssen, daß in den achtziger Jahren die sozialistischen Ideen nicht im Dienste
der Bauern standen, sondern umgekehrt, daß die Bauern gezwungen wurden,
sich in den Dienst dieser Ideen zu stellen. So wird von den Sozialrevolutio¬
nären der Gemeindebesitz noch zu einer Zeit verteidigt, wo die Bauern nur
durch Härten und Ungerechtigkeiten aller Art von der Negierung zum Fest¬
halten am Gemeindebesitz gezwungen werden können. Weiter sei darauf
hingewiesen, daß diese einzige noch an die Narodniki anknüpfende Fortschritts¬
partei, wie wir sehen werden, zu ihrem größten Teil im Lager der Sozial¬
demokraten verschwand, weil für ihre Ideen im russischen Volke der Boden
fehlte. Von Westen her begannen die Lehren Marxens durchzusickern, und die
Sozialdemokraten in Deutschland durften ihre Theorien öffentlich vertreten.
Das Eindringen der Sozialdemokratie ging aber fo langsam vor sich, daß sich
die Industrie in Nußland schon längst zu ihrem heutigen Umfang entwickelt
hatte, ohne daß es unter den Arbeitern Sozialdemokraten gegeben hätte. Also
auch hierin ein Kampf der Geister, kein Ringen wirtschaftlicher Kräfte!

Das Eindringen der Sozialdemokratie und ihr Sieg über die kommu¬
nistischen Überbleibsel bei den Sozialrevolutionären unterstützt von neuem
meine Behauptung, das Parteileben in Nußland sei nicht russischen Ursprungs.




Die Organisation der russischen sozialdemokratischen Partei kam wie die
vorher erwähnte in der Schweiz zustande. Sie nahm das bekannte Programm
der internationalen Sozialdemokratie an und machte es sich zur nächsten Auf¬
gabe, das städtische Arbeiterproletariat zu organisieren. Theoretisch war sie
im Gegensatz zu der ältern Schwester nicht als eine revolutionäre Partei zu
bezeichnen, praktisch hat sie seit diesem Jahre das Gegenteil bewiesen. Ihre
Organe sind Jskra (der Funke) und Wperjod (Vorwärts), dieser herausgegeben
von Lenin und Bontsch-Vrujewitsch.


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[0461] Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli ^YO5 geordneten Staatswesen würden die praktische Propaganda treibenden Anhänger der radikalen Bodenreform als gemeine Verbrecher vor den Strafrichter ge¬ zogen werden. In Rußland paktiert die Gesellschaft mit ihnen, weil sie ihrer bedarf, um den herrschenden Klassen Unannehmlichkeiten zu bereiten und die Regierung zu diskreditieren. Das Organ der Gruppe sind die „Schriften der sozialrevolutionären Partei," die in der Schweiz erscheinen, und Krestjanskaja Gazeta in Ssamara. Daß sich eine Partei wie die gekennzeichnete fünfundzwanzig Jahre lang zu halten vermochte, läßt darauf schließen, in welcher unnormalen Richtung sich die Landwirschaft in Nußland entwickelte. Dennoch wäre es falsch, an¬ zunehmen, die traurigen Wirtschaftsverhältnisse hätten die weitere Bildung regierungsfeindlicher Parteien allein hervorgerufen, woraus wiederum ge¬ schlossen werden könnte, diese Parteien seien die notwendige Folge der nationalen Mißwirtschaft. Sogar unbedingte Alihänger der materialistischen Geschichts¬ auffassung werden sich aber hier in Nußland überzeugen können, wie wenig die wirtschaftliche Lage der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung die Entwicklung der Fortschrittsparteien beeinflußt hat, und sie werden zugeben müssen, daß in den achtziger Jahren die sozialistischen Ideen nicht im Dienste der Bauern standen, sondern umgekehrt, daß die Bauern gezwungen wurden, sich in den Dienst dieser Ideen zu stellen. So wird von den Sozialrevolutio¬ nären der Gemeindebesitz noch zu einer Zeit verteidigt, wo die Bauern nur durch Härten und Ungerechtigkeiten aller Art von der Negierung zum Fest¬ halten am Gemeindebesitz gezwungen werden können. Weiter sei darauf hingewiesen, daß diese einzige noch an die Narodniki anknüpfende Fortschritts¬ partei, wie wir sehen werden, zu ihrem größten Teil im Lager der Sozial¬ demokraten verschwand, weil für ihre Ideen im russischen Volke der Boden fehlte. Von Westen her begannen die Lehren Marxens durchzusickern, und die Sozialdemokraten in Deutschland durften ihre Theorien öffentlich vertreten. Das Eindringen der Sozialdemokratie ging aber fo langsam vor sich, daß sich die Industrie in Nußland schon längst zu ihrem heutigen Umfang entwickelt hatte, ohne daß es unter den Arbeitern Sozialdemokraten gegeben hätte. Also auch hierin ein Kampf der Geister, kein Ringen wirtschaftlicher Kräfte! Das Eindringen der Sozialdemokratie und ihr Sieg über die kommu¬ nistischen Überbleibsel bei den Sozialrevolutionären unterstützt von neuem meine Behauptung, das Parteileben in Nußland sei nicht russischen Ursprungs. Die Organisation der russischen sozialdemokratischen Partei kam wie die vorher erwähnte in der Schweiz zustande. Sie nahm das bekannte Programm der internationalen Sozialdemokratie an und machte es sich zur nächsten Auf¬ gabe, das städtische Arbeiterproletariat zu organisieren. Theoretisch war sie im Gegensatz zu der ältern Schwester nicht als eine revolutionäre Partei zu bezeichnen, praktisch hat sie seit diesem Jahre das Gegenteil bewiesen. Ihre Organe sind Jskra (der Funke) und Wperjod (Vorwärts), dieser herausgegeben von Lenin und Bontsch-Vrujewitsch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/461>, abgerufen am 19.10.2024.