Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Unter Aunden, Acnnödianten und wilden Tieren Lauenburg nach Ludwigslust, einem schönen freundlichen Städtchen, wo ich in der Von Friesack wanderte ich über Namen, ein kleines, hochliegendes Städtchen, Unter Aunden, Acnnödianten und wilden Tieren Lauenburg nach Ludwigslust, einem schönen freundlichen Städtchen, wo ich in der Von Friesack wanderte ich über Namen, ein kleines, hochliegendes Städtchen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0672" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297051"/> <fw type="header" place="top"> Unter Aunden, Acnnödianten und wilden Tieren</fw><lb/> <p xml:id="ID_3049" prev="#ID_3048"> Lauenburg nach Ludwigslust, einem schönen freundlichen Städtchen, wo ich in der<lb/> Herberge zur Heimat einkehrte. Die Herberge war eine christliche, was jedoch nicht<lb/> verhinderte, daß sich unter den dort anwesenden Kunden auch ein Jude befand,<lb/> der in der Fremdenstube so ungeniert Toilette machte, daß er vom Herbergsvater<lb/> deshalb an die Luft gesetzt wurde. Der Jude erzählte nur, daß er nach Berlin<lb/> wollte, und forderte mich auf, mit ihm zusammen zu reisen. Wir benutzten die<lb/> Eisenbahn, nahmen aber nur Billetts bis zu der zweiten Station, fuhren jedoch noch,<lb/> eine Strecke weiter, bis mir diese Art des Reifens doch etwas zu gefährlich erschien,<lb/> worauf ich aufstieg, während der Jude seine Fahrt fortsetzte. Eine solche Benach¬<lb/> teiligung der Eisenbahn war damals, als es noch keine Perronsperre gab, möglich.<lb/> Der Jude hatte mir übrigens, bevor ich ihn verließ, seine Berliner Adresse ge¬<lb/> geben und mich aufgefordert, ihn in der Reichshauptstadt zu besuchen. Die Station,<lb/> an der ich ausgestiegen war, war Wusterhausen; dort blieb ich über Nacht und<lb/> wanderte am andern Tage weiter nach Friesack.</p><lb/> <p xml:id="ID_3050" next="#ID_3051"> Von Friesack wanderte ich über Namen, ein kleines, hochliegendes Städtchen,<lb/> das wegen seiner vielen Windmühlen einen merkwürdigen Anblick gewahrt, »ut<lb/> von wo man schon ganz in der Ferne das Häusermeer Berlins liegen sieht, nach<lb/> Spandau. Dort fand ich Arbeit in einer Holzhandlung, mußte von den Kähnen<lb/> Bretter tragen und erhielt den Tag zwei Mark fünfzig Pfennige. Hier sah ich auch<lb/> den bekannten Juliusturm und dachte daran, wie angenehm es wäre, nur einen<lb/> kleinen Teil vou all dem Kies zu besitzen, der dort aufgespeichert ist. Nach einigen<lb/> Tagen setzte ich meine Wanderung fort und gelangte über Charlottenburg nach<lb/> Berlin. Hier löste ich zunächst mein Versprechen ein und besuchte den Juden, der<lb/> bei seinen Eltern wohnte. Die Leute machten einen ärmlichen und nicht gerade<lb/> saubern Eindruck, waren aber sehr freundlich und bewirteten mich mit koscherer<lb/> Speise. Dann suchte ich die Herberge zur Heimat in der Orauieustraße auf, wo<lb/> ich einige Tage blieb. Bei meinem Aufenthalt in Berlin ging ich anch eines<lb/> Abends in das Asyl für Obdachlose und mußte mit etwa dreihundert andern unter<lb/> Aufsicht einiger Schutzleute erst eine Weile im Hofe warten, bevor ich Einlaß fand.<lb/> Das Asyl selbst erinnerte in seiner ganzen Einrichtung außerordentlich an das<lb/> Leipziger. Über Köpenick, wo ich mich vergebens nach Arbeit umsah, Frankfurt a. O.,<lb/> wo ich einige Tage blieb, und Züllichnu kam ich nach Schwiebus, wo meine Tante<lb/> an eine» Nagelschmied verheiratet war und in leidlichen Verhältnissen lebte. Es<lb/> war gerade Sonntag Mittag, als ich dort ankam und sie besuchte. Es waren drei<lb/> Sohne und eine Tochter im Hause; der älteste Sohn war ebenfalls Nagelschmied,<lb/> der zweite war bei einem Maler und der dritte bei einem Barbier in der Lehre,<lb/> die Tochter war Schneiderin und beschäftigte vier Lehrmädchen. Meine Ver¬<lb/> wandten empfingen mich freundlich und bewirteten mich mit Schweinebraten, ver¬<lb/> sprachen auch, Arbeit für mich zu suchen. Sie erlaubten nicht, daß ich in der Her¬<lb/> berge blieb, souderu boten mir ein Quartier in der Dachkammer an, was mir sehr<lb/> angenehm war. Der älteste Sohn machte sich sogleich auf deu Weg, um meinen<lb/> Berliner zu holen. Nach etwa acht oder zehn Tagen fand sich denn anch Arbeit<lb/> für mich bei einem jungen Bäckermeister, der nicht verheiratet war. Ich erhielt<lb/> die Woche 2 Mark 50 Pfennige, bekam recht schlechte Kost und mußte auf der „Beute"<lb/> (Backtrog) auf leeren Mehlsäcken schlafen. Zum Glück brachte mir die Tante ein<lb/> Kopfkissen. Die Arbeit war uicht besonders anstrengend, aber es stellte sich auch<lb/> hier wieder der große Nachteil heraus, der eine Eigentümlichkeit des Bäckergewerbes<lb/> ist, daß nämlich in jeder Gegend die Zubereitung des Brotes auf eine andre Art<lb/> gehandhabt wird. Der Bäckergeselle ist deshalb gezwungen, in jedem Ort gewisser¬<lb/> maßen „ninzulerncn." Sonntags brachten Privatleute dreißig bis vierzig Braten,<lb/> die in deu Backofen geschoben wurden, und wofür jedesmal ein „Bvhni" (Groschen)<lb/> gezahlt wurde. Dieses Geld floß in die Taschen der Angestellten, d. h. in die des<lb/> Gesellen und des „Stifts" (Lehrling). Eines Tags brachte eine Frnn anch einen<lb/> Tierleichnam zum Braten, worin wir, obwohl der Kopf nicht mehr darnnsaß, einen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0672]
Unter Aunden, Acnnödianten und wilden Tieren
Lauenburg nach Ludwigslust, einem schönen freundlichen Städtchen, wo ich in der
Herberge zur Heimat einkehrte. Die Herberge war eine christliche, was jedoch nicht
verhinderte, daß sich unter den dort anwesenden Kunden auch ein Jude befand,
der in der Fremdenstube so ungeniert Toilette machte, daß er vom Herbergsvater
deshalb an die Luft gesetzt wurde. Der Jude erzählte nur, daß er nach Berlin
wollte, und forderte mich auf, mit ihm zusammen zu reisen. Wir benutzten die
Eisenbahn, nahmen aber nur Billetts bis zu der zweiten Station, fuhren jedoch noch,
eine Strecke weiter, bis mir diese Art des Reifens doch etwas zu gefährlich erschien,
worauf ich aufstieg, während der Jude seine Fahrt fortsetzte. Eine solche Benach¬
teiligung der Eisenbahn war damals, als es noch keine Perronsperre gab, möglich.
Der Jude hatte mir übrigens, bevor ich ihn verließ, seine Berliner Adresse ge¬
geben und mich aufgefordert, ihn in der Reichshauptstadt zu besuchen. Die Station,
an der ich ausgestiegen war, war Wusterhausen; dort blieb ich über Nacht und
wanderte am andern Tage weiter nach Friesack.
Von Friesack wanderte ich über Namen, ein kleines, hochliegendes Städtchen,
das wegen seiner vielen Windmühlen einen merkwürdigen Anblick gewahrt, »ut
von wo man schon ganz in der Ferne das Häusermeer Berlins liegen sieht, nach
Spandau. Dort fand ich Arbeit in einer Holzhandlung, mußte von den Kähnen
Bretter tragen und erhielt den Tag zwei Mark fünfzig Pfennige. Hier sah ich auch
den bekannten Juliusturm und dachte daran, wie angenehm es wäre, nur einen
kleinen Teil vou all dem Kies zu besitzen, der dort aufgespeichert ist. Nach einigen
Tagen setzte ich meine Wanderung fort und gelangte über Charlottenburg nach
Berlin. Hier löste ich zunächst mein Versprechen ein und besuchte den Juden, der
bei seinen Eltern wohnte. Die Leute machten einen ärmlichen und nicht gerade
saubern Eindruck, waren aber sehr freundlich und bewirteten mich mit koscherer
Speise. Dann suchte ich die Herberge zur Heimat in der Orauieustraße auf, wo
ich einige Tage blieb. Bei meinem Aufenthalt in Berlin ging ich anch eines
Abends in das Asyl für Obdachlose und mußte mit etwa dreihundert andern unter
Aufsicht einiger Schutzleute erst eine Weile im Hofe warten, bevor ich Einlaß fand.
Das Asyl selbst erinnerte in seiner ganzen Einrichtung außerordentlich an das
Leipziger. Über Köpenick, wo ich mich vergebens nach Arbeit umsah, Frankfurt a. O.,
wo ich einige Tage blieb, und Züllichnu kam ich nach Schwiebus, wo meine Tante
an eine» Nagelschmied verheiratet war und in leidlichen Verhältnissen lebte. Es
war gerade Sonntag Mittag, als ich dort ankam und sie besuchte. Es waren drei
Sohne und eine Tochter im Hause; der älteste Sohn war ebenfalls Nagelschmied,
der zweite war bei einem Maler und der dritte bei einem Barbier in der Lehre,
die Tochter war Schneiderin und beschäftigte vier Lehrmädchen. Meine Ver¬
wandten empfingen mich freundlich und bewirteten mich mit Schweinebraten, ver¬
sprachen auch, Arbeit für mich zu suchen. Sie erlaubten nicht, daß ich in der Her¬
berge blieb, souderu boten mir ein Quartier in der Dachkammer an, was mir sehr
angenehm war. Der älteste Sohn machte sich sogleich auf deu Weg, um meinen
Berliner zu holen. Nach etwa acht oder zehn Tagen fand sich denn anch Arbeit
für mich bei einem jungen Bäckermeister, der nicht verheiratet war. Ich erhielt
die Woche 2 Mark 50 Pfennige, bekam recht schlechte Kost und mußte auf der „Beute"
(Backtrog) auf leeren Mehlsäcken schlafen. Zum Glück brachte mir die Tante ein
Kopfkissen. Die Arbeit war uicht besonders anstrengend, aber es stellte sich auch
hier wieder der große Nachteil heraus, der eine Eigentümlichkeit des Bäckergewerbes
ist, daß nämlich in jeder Gegend die Zubereitung des Brotes auf eine andre Art
gehandhabt wird. Der Bäckergeselle ist deshalb gezwungen, in jedem Ort gewisser¬
maßen „ninzulerncn." Sonntags brachten Privatleute dreißig bis vierzig Braten,
die in deu Backofen geschoben wurden, und wofür jedesmal ein „Bvhni" (Groschen)
gezahlt wurde. Dieses Geld floß in die Taschen der Angestellten, d. h. in die des
Gesellen und des „Stifts" (Lehrling). Eines Tags brachte eine Frnn anch einen
Tierleichnam zum Braten, worin wir, obwohl der Kopf nicht mehr darnnsaß, einen
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