Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen ihre Darstellung mehr und mehr ergänzend, schließlich in mondloser März¬ Die größte Gefahr unsers Ermittlungsverfahrens besteht aber darin, daß Jede vernommne Person trägt subjektives Empfinden in ihre jedesmalige Um auf unsern Fall zurückzukommen, so hat Petersen unklar, zögernd Es liegt auf der Hand, daß für die von Petersen behauptete Notwehr Der Staatsanwalt, der dies liest, kann natürlich die Notwehr dem Petersen Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen ihre Darstellung mehr und mehr ergänzend, schließlich in mondloser März¬ Die größte Gefahr unsers Ermittlungsverfahrens besteht aber darin, daß Jede vernommne Person trägt subjektives Empfinden in ihre jedesmalige Um auf unsern Fall zurückzukommen, so hat Petersen unklar, zögernd Es liegt auf der Hand, daß für die von Petersen behauptete Notwehr Der Staatsanwalt, der dies liest, kann natürlich die Notwehr dem Petersen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0362" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297494"/> <fw type="header" place="top"> Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1606" prev="#ID_1605"> ihre Darstellung mehr und mehr ergänzend, schließlich in mondloser März¬<lb/> nacht um drei Uhr im dichten Kiefernbestand das Ringen zweier Menschen in<lb/> seinen Einzelheiten beobachtet haben wollte. Es liegt auf der Hand, wie<lb/> gefährlich bei solchen Zeugen jede Verzögerung der Urtcilssprechung ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1607"> Die größte Gefahr unsers Ermittlungsverfahrens besteht aber darin, daß<lb/> der Staatsanwalt seine Entscheidung, ob er Anklage erheben oder einstellen<lb/> soll, allein auf Grund der Akten treffen muß. Diese können aber ein wirklich<lb/> klares Bild der Vorgänge nur sehr schwer ergeben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1608"> Jede vernommne Person trägt subjektives Empfinden in ihre jedesmalige<lb/> Darstellung hinein, ebenso aber auch jeder vernehmende Beamte in das, was<lb/> er als Resultat der Vernehmung zu Papier bringt. Und endlich steht auch<lb/> jeder Leser unter dem Eindruck subjektiver Empfindungen und liest etwas<lb/> andres aus den Akten heraus als ein andrer. Ein solch verzerrtes Bild ist<lb/> es also, das der Staatsanwalt beim Lesen der Akten erhält, auch wenn diese<lb/> mit aller Gewissenhaftigkeit und von Leuten zusammengestellt sind, die die<lb/> schwere Kunst des Vernehmens verstehn. Das ist aber durchaus nicht immer<lb/> der Fall. Es ist ganz außerordentlich schwer und zeitraubend, aus den zu<lb/> vernehmenden Personen das herauszubekommen, was sie wirklich wissen und<lb/> sagen wollen, und es ist ebenso schwer, dies so, wie es gemeint ist, zu Papier<lb/> zu bringen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1609"> Um auf unsern Fall zurückzukommen, so hat Petersen unklar, zögernd<lb/> und stockend dem vernehmenden Amtsvorsteher vielleicht eine lange Geschichte<lb/> erzählt des wesentlichen Inhalts, er sei schon einmal von den Neudörfer<lb/> Knechten eines Mädchens wegen verprügelt worden und ginge deswegen gar<lb/> nicht in das Dorf, aber seine Mutter sei krank gewesen, und er habe dort in<lb/> der Apotheke Arznei holen müssen. Als er dann auf dem Rückweg an dem<lb/> Wirtshaus vorbeigekommen sei, Hütte ihm jemand den Weg versperrt. Er<lb/> habe versucht, in Güte vorbeizukommen, als dies nicht gelungen sei, sich viel¬<lb/> mehr andre Leute um ihn gesammelt hätten, habe er den Gegner beiseite ge¬<lb/> stoßen und sei fortgelaufen, verfolgt unter furchtbaren Drohungen von der<lb/> ganzen Horde. Einer von diesen hätte ihn erreicht, und um nicht von ihm<lb/> festgehalten und von der Menge erschlagen zu werde», habe er mit dem Messer<lb/> nach ihm gestochen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1610"> Es liegt auf der Hand, daß für die von Petersen behauptete Notwehr<lb/> der frühere Streit und die Frage, wie er in das Wirtshaustreiben hinein¬<lb/> gekommen ist, von größter Wichtigkeit ist. Wenn der Amtsvorsteher das aber<lb/> nicht erkennt oder denkt: Das ist doch alles nicht wahr! oder: Das kann immer<lb/> noch vorgebracht werden, so lautet nach dem Protokoll die Petersensche Aus¬<lb/> sage etwa so (ich übertreibe nicht): „Ich gebe zu, den Nowak mit dem Messer<lb/> gestochen zu haben, als er vom Wirtshaus her hinter mir herlief. Ich fürchtete,<lb/> daß ich sonst verprügelt würde."</p><lb/> <p xml:id="ID_1611" next="#ID_1612"> Der Staatsanwalt, der dies liest, kann natürlich die Notwehr dem Petersen<lb/> nicht zugestehn, hat auch keinen Anlaß, nach dieser Richtung weiteres zu er¬<lb/> mitteln, sondern erhebt sofort Anklage. Aber wenn nun auch der Akteuinhalt<lb/> mit Verständnis und Fleiß zusammengetragen ist, so ist doch für die Würdigung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0362]
Das Ermittlungsverfahren in Strafsachen
ihre Darstellung mehr und mehr ergänzend, schließlich in mondloser März¬
nacht um drei Uhr im dichten Kiefernbestand das Ringen zweier Menschen in
seinen Einzelheiten beobachtet haben wollte. Es liegt auf der Hand, wie
gefährlich bei solchen Zeugen jede Verzögerung der Urtcilssprechung ist.
Die größte Gefahr unsers Ermittlungsverfahrens besteht aber darin, daß
der Staatsanwalt seine Entscheidung, ob er Anklage erheben oder einstellen
soll, allein auf Grund der Akten treffen muß. Diese können aber ein wirklich
klares Bild der Vorgänge nur sehr schwer ergeben.
Jede vernommne Person trägt subjektives Empfinden in ihre jedesmalige
Darstellung hinein, ebenso aber auch jeder vernehmende Beamte in das, was
er als Resultat der Vernehmung zu Papier bringt. Und endlich steht auch
jeder Leser unter dem Eindruck subjektiver Empfindungen und liest etwas
andres aus den Akten heraus als ein andrer. Ein solch verzerrtes Bild ist
es also, das der Staatsanwalt beim Lesen der Akten erhält, auch wenn diese
mit aller Gewissenhaftigkeit und von Leuten zusammengestellt sind, die die
schwere Kunst des Vernehmens verstehn. Das ist aber durchaus nicht immer
der Fall. Es ist ganz außerordentlich schwer und zeitraubend, aus den zu
vernehmenden Personen das herauszubekommen, was sie wirklich wissen und
sagen wollen, und es ist ebenso schwer, dies so, wie es gemeint ist, zu Papier
zu bringen.
Um auf unsern Fall zurückzukommen, so hat Petersen unklar, zögernd
und stockend dem vernehmenden Amtsvorsteher vielleicht eine lange Geschichte
erzählt des wesentlichen Inhalts, er sei schon einmal von den Neudörfer
Knechten eines Mädchens wegen verprügelt worden und ginge deswegen gar
nicht in das Dorf, aber seine Mutter sei krank gewesen, und er habe dort in
der Apotheke Arznei holen müssen. Als er dann auf dem Rückweg an dem
Wirtshaus vorbeigekommen sei, Hütte ihm jemand den Weg versperrt. Er
habe versucht, in Güte vorbeizukommen, als dies nicht gelungen sei, sich viel¬
mehr andre Leute um ihn gesammelt hätten, habe er den Gegner beiseite ge¬
stoßen und sei fortgelaufen, verfolgt unter furchtbaren Drohungen von der
ganzen Horde. Einer von diesen hätte ihn erreicht, und um nicht von ihm
festgehalten und von der Menge erschlagen zu werde», habe er mit dem Messer
nach ihm gestochen.
Es liegt auf der Hand, daß für die von Petersen behauptete Notwehr
der frühere Streit und die Frage, wie er in das Wirtshaustreiben hinein¬
gekommen ist, von größter Wichtigkeit ist. Wenn der Amtsvorsteher das aber
nicht erkennt oder denkt: Das ist doch alles nicht wahr! oder: Das kann immer
noch vorgebracht werden, so lautet nach dem Protokoll die Petersensche Aus¬
sage etwa so (ich übertreibe nicht): „Ich gebe zu, den Nowak mit dem Messer
gestochen zu haben, als er vom Wirtshaus her hinter mir herlief. Ich fürchtete,
daß ich sonst verprügelt würde."
Der Staatsanwalt, der dies liest, kann natürlich die Notwehr dem Petersen
nicht zugestehn, hat auch keinen Anlaß, nach dieser Richtung weiteres zu er¬
mitteln, sondern erhebt sofort Anklage. Aber wenn nun auch der Akteuinhalt
mit Verständnis und Fleiß zusammengetragen ist, so ist doch für die Würdigung
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