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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Herrenmenschen

möglich? Ist gar nicht so schwer, Durchlaucht, renommierte ich, so ein Elch hält
ja still wie eine alte Kuh. Kaum hatte ich das raus, so war mir auch klar, daß
ich eine Dummheit losgelassen hatte. Aber ich tat, als hätte ich nichts gesagt, und
Durchlaucht taten, als hätten sie nichts gehört. Darauf fuhren wir hierher, um das
Bild anzusehen. Durchlaucht waren entzückt, prüften das alles auf das genauste
durch ihr Glas, zeigten, daß sie die Sache viel besser verstanden, als ich gedacht
hätte, und waren sehr befriedigt, daß sie alles bis auf das kleinste richtig fanden.
Meinen Sie, daß Durchlaucht Pogges Philipp den Zweiten mit der Hängelippe
und den hingelenbachten Beinen gekauft hätten? Ich glaube nicht. Durchlaucht
waren also höchst kontentiert und sprachen den Wunsch aus, das Bild zu besitzen.
Schenken kounte ich es ihm nicht, und er sprach vom Kaufen keinen Ton, obwohl
ich den Preis genannt hatte. Da ging er hin, und ich glich einem Pudel, dem
man den Wurstzipfel zu hoch gehängt hat. Endlich nach langem Warten, ich hatte
die Sache schon aufgegeben, kam ein großer Brief an, eine Handvoll Goldfüchse
und die Order, Durchlaucht kaufe das Bild, ich solle aber ein andres Geweih
darauf malen, das echte Geweih des alten Jakob, das noch bei Hoheit liege. Und
dazu ein Pendant, Elchkuh und Kalb im Winter. Den Winter also bleibe ich hier.
Und nun geben Sie mir mein Glas, Doktor. Prosit, meine Herren!

Der Doktor freute sich aufrichtig über diesen Erfolg, einesteils seines Freundes
Schwechting wegen, dem er den vorteilhaften Auftrag gönnte, andernteils seiner
selbst wegen. Denn es war ihm ein beruhigender Gedanke, in dem langen ost¬
preußischen Winter jemand in der Nähe zu haben, mit dem er ein verständiges
Wort reden, und auf den er sich verlassen konnte.

Man hatte noch manchmal augepinkt, ehe sich der Doktor aufmachte, um zum
Schlößchen zurückzukehren. Nach wenig Schritten stand er vor dem Nachbarhause,
einem Gebunde, das ihm schon früher durch sein Alter und seinen mit Schnitzwerk
versehenen Vorbau aufgefallen war. Man hatte ihm gesagt, daß dort ein hervor¬
ragendes Mitglied der Gemeinde, der Fvrstkassenrendcmt, wohne, der einer von
den Frommen, sogar eine Art von Prophet sei. Als Ramborn vorüber ging, stand
die Tür offen, ein trüber roter Lichtschein fiel auf die Gasse heraus, und man
hörte den eintönigen Gesaug einer Frauenstimme. Dazwischen erklang von Zeit
zu Zeit ein Ton wie das Heulen eines Hundes oder wie die Stimme eines
Menschen, der in höchster Angst schreit. Dann war es wieder still, der Gesang
begann wieder, und dann ertönte das Geheul schrecklicher als zuvor. Es klang
schauderhaft. Wurde da jemand ermordet?

Rnmborn trat ein und unterschied bei dem trüben Lichte nur undeutlich einen
Tisch, ans dem eine Öllampe stand, und dahinter ein altes Weib an einem
Spinnrade. Im dunkeln Hintergrunde stand ein litauisches Himmelbett, und auf
seinem Rande hockte ein nur dürftig bekleideter Mann, der die Hände um die
Knie geschlungen hatte, mit stieren, wässerigen Augen ins Dunkle starrte und die
graustoppligen Kinnbacken schlaff hinabsinken ließ. Von Zeit zu Zeit kam ein
Krampf oder ein Entsetzen über ihn, dann fing er an zu zittern und mit den
Händen abzuwehren und sein Geheul auszustoßen. Die Frau nahm keine Notiz
davon, sondern spann weiter und sang weiter -- immer dasselbe Lied. Oder sie
rief dem Manne ein paar befehlende Worte in titanischer Sprache zu, auf die
jener nicht achtete. Es war ein fusliger Dunst in der Stube; am Boden lag eine
zerbrochne Flasche.

Als der Doktor eintrat, erhob sich die Frau und knickste. Aber sie war nicht
überrascht über den nächtlichen Besuch, sondern sagte: Guten Abend, guten Abend,
Herr Doktor, wir haben auf Sie gewartet.

Auf mich? fragte verwundert der Doktor.

Ja, fuhr die Frau fort, ich habe dreimal gebetet, und beim drittenmal kamen
Sie. Tropfen, Herr Doktor, Tropfen, Tropfen!

Was fehlt dem Manne? fragte Ramborn.

Die Frau wandte sich von dem Manne auf dem Bett ab, hielt die Hand


Herrenmenschen

möglich? Ist gar nicht so schwer, Durchlaucht, renommierte ich, so ein Elch hält
ja still wie eine alte Kuh. Kaum hatte ich das raus, so war mir auch klar, daß
ich eine Dummheit losgelassen hatte. Aber ich tat, als hätte ich nichts gesagt, und
Durchlaucht taten, als hätten sie nichts gehört. Darauf fuhren wir hierher, um das
Bild anzusehen. Durchlaucht waren entzückt, prüften das alles auf das genauste
durch ihr Glas, zeigten, daß sie die Sache viel besser verstanden, als ich gedacht
hätte, und waren sehr befriedigt, daß sie alles bis auf das kleinste richtig fanden.
Meinen Sie, daß Durchlaucht Pogges Philipp den Zweiten mit der Hängelippe
und den hingelenbachten Beinen gekauft hätten? Ich glaube nicht. Durchlaucht
waren also höchst kontentiert und sprachen den Wunsch aus, das Bild zu besitzen.
Schenken kounte ich es ihm nicht, und er sprach vom Kaufen keinen Ton, obwohl
ich den Preis genannt hatte. Da ging er hin, und ich glich einem Pudel, dem
man den Wurstzipfel zu hoch gehängt hat. Endlich nach langem Warten, ich hatte
die Sache schon aufgegeben, kam ein großer Brief an, eine Handvoll Goldfüchse
und die Order, Durchlaucht kaufe das Bild, ich solle aber ein andres Geweih
darauf malen, das echte Geweih des alten Jakob, das noch bei Hoheit liege. Und
dazu ein Pendant, Elchkuh und Kalb im Winter. Den Winter also bleibe ich hier.
Und nun geben Sie mir mein Glas, Doktor. Prosit, meine Herren!

Der Doktor freute sich aufrichtig über diesen Erfolg, einesteils seines Freundes
Schwechting wegen, dem er den vorteilhaften Auftrag gönnte, andernteils seiner
selbst wegen. Denn es war ihm ein beruhigender Gedanke, in dem langen ost¬
preußischen Winter jemand in der Nähe zu haben, mit dem er ein verständiges
Wort reden, und auf den er sich verlassen konnte.

Man hatte noch manchmal augepinkt, ehe sich der Doktor aufmachte, um zum
Schlößchen zurückzukehren. Nach wenig Schritten stand er vor dem Nachbarhause,
einem Gebunde, das ihm schon früher durch sein Alter und seinen mit Schnitzwerk
versehenen Vorbau aufgefallen war. Man hatte ihm gesagt, daß dort ein hervor¬
ragendes Mitglied der Gemeinde, der Fvrstkassenrendcmt, wohne, der einer von
den Frommen, sogar eine Art von Prophet sei. Als Ramborn vorüber ging, stand
die Tür offen, ein trüber roter Lichtschein fiel auf die Gasse heraus, und man
hörte den eintönigen Gesaug einer Frauenstimme. Dazwischen erklang von Zeit
zu Zeit ein Ton wie das Heulen eines Hundes oder wie die Stimme eines
Menschen, der in höchster Angst schreit. Dann war es wieder still, der Gesang
begann wieder, und dann ertönte das Geheul schrecklicher als zuvor. Es klang
schauderhaft. Wurde da jemand ermordet?

Rnmborn trat ein und unterschied bei dem trüben Lichte nur undeutlich einen
Tisch, ans dem eine Öllampe stand, und dahinter ein altes Weib an einem
Spinnrade. Im dunkeln Hintergrunde stand ein litauisches Himmelbett, und auf
seinem Rande hockte ein nur dürftig bekleideter Mann, der die Hände um die
Knie geschlungen hatte, mit stieren, wässerigen Augen ins Dunkle starrte und die
graustoppligen Kinnbacken schlaff hinabsinken ließ. Von Zeit zu Zeit kam ein
Krampf oder ein Entsetzen über ihn, dann fing er an zu zittern und mit den
Händen abzuwehren und sein Geheul auszustoßen. Die Frau nahm keine Notiz
davon, sondern spann weiter und sang weiter — immer dasselbe Lied. Oder sie
rief dem Manne ein paar befehlende Worte in titanischer Sprache zu, auf die
jener nicht achtete. Es war ein fusliger Dunst in der Stube; am Boden lag eine
zerbrochne Flasche.

Als der Doktor eintrat, erhob sich die Frau und knickste. Aber sie war nicht
überrascht über den nächtlichen Besuch, sondern sagte: Guten Abend, guten Abend,
Herr Doktor, wir haben auf Sie gewartet.

Auf mich? fragte verwundert der Doktor.

Ja, fuhr die Frau fort, ich habe dreimal gebetet, und beim drittenmal kamen
Sie. Tropfen, Herr Doktor, Tropfen, Tropfen!

Was fehlt dem Manne? fragte Ramborn.

Die Frau wandte sich von dem Manne auf dem Bett ab, hielt die Hand


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[0336] Herrenmenschen möglich? Ist gar nicht so schwer, Durchlaucht, renommierte ich, so ein Elch hält ja still wie eine alte Kuh. Kaum hatte ich das raus, so war mir auch klar, daß ich eine Dummheit losgelassen hatte. Aber ich tat, als hätte ich nichts gesagt, und Durchlaucht taten, als hätten sie nichts gehört. Darauf fuhren wir hierher, um das Bild anzusehen. Durchlaucht waren entzückt, prüften das alles auf das genauste durch ihr Glas, zeigten, daß sie die Sache viel besser verstanden, als ich gedacht hätte, und waren sehr befriedigt, daß sie alles bis auf das kleinste richtig fanden. Meinen Sie, daß Durchlaucht Pogges Philipp den Zweiten mit der Hängelippe und den hingelenbachten Beinen gekauft hätten? Ich glaube nicht. Durchlaucht waren also höchst kontentiert und sprachen den Wunsch aus, das Bild zu besitzen. Schenken kounte ich es ihm nicht, und er sprach vom Kaufen keinen Ton, obwohl ich den Preis genannt hatte. Da ging er hin, und ich glich einem Pudel, dem man den Wurstzipfel zu hoch gehängt hat. Endlich nach langem Warten, ich hatte die Sache schon aufgegeben, kam ein großer Brief an, eine Handvoll Goldfüchse und die Order, Durchlaucht kaufe das Bild, ich solle aber ein andres Geweih darauf malen, das echte Geweih des alten Jakob, das noch bei Hoheit liege. Und dazu ein Pendant, Elchkuh und Kalb im Winter. Den Winter also bleibe ich hier. Und nun geben Sie mir mein Glas, Doktor. Prosit, meine Herren! Der Doktor freute sich aufrichtig über diesen Erfolg, einesteils seines Freundes Schwechting wegen, dem er den vorteilhaften Auftrag gönnte, andernteils seiner selbst wegen. Denn es war ihm ein beruhigender Gedanke, in dem langen ost¬ preußischen Winter jemand in der Nähe zu haben, mit dem er ein verständiges Wort reden, und auf den er sich verlassen konnte. Man hatte noch manchmal augepinkt, ehe sich der Doktor aufmachte, um zum Schlößchen zurückzukehren. Nach wenig Schritten stand er vor dem Nachbarhause, einem Gebunde, das ihm schon früher durch sein Alter und seinen mit Schnitzwerk versehenen Vorbau aufgefallen war. Man hatte ihm gesagt, daß dort ein hervor¬ ragendes Mitglied der Gemeinde, der Fvrstkassenrendcmt, wohne, der einer von den Frommen, sogar eine Art von Prophet sei. Als Ramborn vorüber ging, stand die Tür offen, ein trüber roter Lichtschein fiel auf die Gasse heraus, und man hörte den eintönigen Gesaug einer Frauenstimme. Dazwischen erklang von Zeit zu Zeit ein Ton wie das Heulen eines Hundes oder wie die Stimme eines Menschen, der in höchster Angst schreit. Dann war es wieder still, der Gesang begann wieder, und dann ertönte das Geheul schrecklicher als zuvor. Es klang schauderhaft. Wurde da jemand ermordet? Rnmborn trat ein und unterschied bei dem trüben Lichte nur undeutlich einen Tisch, ans dem eine Öllampe stand, und dahinter ein altes Weib an einem Spinnrade. Im dunkeln Hintergrunde stand ein litauisches Himmelbett, und auf seinem Rande hockte ein nur dürftig bekleideter Mann, der die Hände um die Knie geschlungen hatte, mit stieren, wässerigen Augen ins Dunkle starrte und die graustoppligen Kinnbacken schlaff hinabsinken ließ. Von Zeit zu Zeit kam ein Krampf oder ein Entsetzen über ihn, dann fing er an zu zittern und mit den Händen abzuwehren und sein Geheul auszustoßen. Die Frau nahm keine Notiz davon, sondern spann weiter und sang weiter — immer dasselbe Lied. Oder sie rief dem Manne ein paar befehlende Worte in titanischer Sprache zu, auf die jener nicht achtete. Es war ein fusliger Dunst in der Stube; am Boden lag eine zerbrochne Flasche. Als der Doktor eintrat, erhob sich die Frau und knickste. Aber sie war nicht überrascht über den nächtlichen Besuch, sondern sagte: Guten Abend, guten Abend, Herr Doktor, wir haben auf Sie gewartet. Auf mich? fragte verwundert der Doktor. Ja, fuhr die Frau fort, ich habe dreimal gebetet, und beim drittenmal kamen Sie. Tropfen, Herr Doktor, Tropfen, Tropfen! Was fehlt dem Manne? fragte Ramborn. Die Frau wandte sich von dem Manne auf dem Bett ab, hielt die Hand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/336>, abgerufen am 06.02.2025.