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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Das Syrakus des Westens und seine Bildungsstätte

Min amerikanischer Humorist hat kürzlich vorgeschlagen, man solle
statt der künstlichen, philologischen Gruppierung die Wörter ein¬
teilen: erstens in tote Wörter, bei denen wir uns nichts denken
können, zweitens in lebendige, die sofort deutliche Vorstellungen
Im uns erwecken. Wenn wir diese etwas moderne Klassifikation
auch auf Eigenimmen anwenden, so gehört der Name Syrakus sicherlich zu der
zweiten Kategorie, denn er hat seine Lebenskraft seit mehr als 2600 Jahre"
bewiesen. Mit dem Worte Syrakus verband sich für die Korinther der Ge¬
danke an ihre nach Sizilien ausgewanderten Brüder, die Athener und die Spar¬
taner gedachten dabei der erbitterten Kämpfe um die Hegemonie, die auf den
Höhen von Epipolü stattgefunden hatten, und zu Strabos Zeiten waren aller
Augen auf Syrakus geheftet, das damals die größte Stadt der antiken Welt
war. Seitdem blieb es durch viele Jahrhunderte als der Schauplatz historischer
Ereignisse bekannt, bis heute der Name Syrakus eine Flut von Erinnerungen
hervorruft und in uns den Wunsch erweckt, diese Stadt zu sehen, mit deren
Geschichte wir seit unsrer Kindheit vertraut gemacht worden sind. Doch ich
muß meine Leser enttäuschen. Nicht nach dem sonnigen Süden werde ich sie
führen, sondern über den Atlantischen Ozean nach Nordamerika, wo im Staate
Newyork eine Stadt liegt, die mit dem antiken Syrakus den Namen gemeinsam
hat, doch nichts als den Namen. Kein Maultierkarren bringt uns in ihre
Mauern, keine Ruinen aus grauer Vorzeit grüßen uns von den umliegenden
Hügeln. Der Linpirs Low LxxrssL, der schnellste Zug der Welt, führt uns
von Newyork in 5^ Stunden nach diesem modernen Syraeuse. Er durchbraust
das Tal des majestätischen Hudsonstroms und fährt durch die Städte Utica
und None, sodaß wir uns ins Altertum zurückversetzt fühlen könnten, wenn
nicht der schrille Pfiff der Lokomotive, das Auftauchen von Ortschaften mit
fremdartigen indianischen Namen und der Blick auf mächtige Fabrikschlote schnell
diese Illusion zerstörten.

Syracusc liegt im Norden des Staates Newyork und ist eine blühende
Industriestadt von etwa 125000 Einwohnern, die sich von andern amerikanischen
Städten derselben Größe nur durch eine gewisse Wohlhabenheit und Solidität
auszeichnet. Die Straßen bieten nichts besonderes. Die öffentlichen Gebäude
sind architektonisch wenig bemerkenswert, mir hier und da ragen einige impo¬
sante Wolkenkratzer turmgleich ans der Häusermasse hervor. Südwestlich von
der Stadt liegt der herrliche Onondagasee, der mehr als zehn Kilometer lang
und drei breit ist. An seinen Ufern sind die Salzmarschen, die Syracuse be¬
kannt und wohlhabend gemacht haben. Seit dem Jahre 1650 wurden die




Das Syrakus des Westens und seine Bildungsstätte

Min amerikanischer Humorist hat kürzlich vorgeschlagen, man solle
statt der künstlichen, philologischen Gruppierung die Wörter ein¬
teilen: erstens in tote Wörter, bei denen wir uns nichts denken
können, zweitens in lebendige, die sofort deutliche Vorstellungen
Im uns erwecken. Wenn wir diese etwas moderne Klassifikation
auch auf Eigenimmen anwenden, so gehört der Name Syrakus sicherlich zu der
zweiten Kategorie, denn er hat seine Lebenskraft seit mehr als 2600 Jahre»
bewiesen. Mit dem Worte Syrakus verband sich für die Korinther der Ge¬
danke an ihre nach Sizilien ausgewanderten Brüder, die Athener und die Spar¬
taner gedachten dabei der erbitterten Kämpfe um die Hegemonie, die auf den
Höhen von Epipolü stattgefunden hatten, und zu Strabos Zeiten waren aller
Augen auf Syrakus geheftet, das damals die größte Stadt der antiken Welt
war. Seitdem blieb es durch viele Jahrhunderte als der Schauplatz historischer
Ereignisse bekannt, bis heute der Name Syrakus eine Flut von Erinnerungen
hervorruft und in uns den Wunsch erweckt, diese Stadt zu sehen, mit deren
Geschichte wir seit unsrer Kindheit vertraut gemacht worden sind. Doch ich
muß meine Leser enttäuschen. Nicht nach dem sonnigen Süden werde ich sie
führen, sondern über den Atlantischen Ozean nach Nordamerika, wo im Staate
Newyork eine Stadt liegt, die mit dem antiken Syrakus den Namen gemeinsam
hat, doch nichts als den Namen. Kein Maultierkarren bringt uns in ihre
Mauern, keine Ruinen aus grauer Vorzeit grüßen uns von den umliegenden
Hügeln. Der Linpirs Low LxxrssL, der schnellste Zug der Welt, führt uns
von Newyork in 5^ Stunden nach diesem modernen Syraeuse. Er durchbraust
das Tal des majestätischen Hudsonstroms und fährt durch die Städte Utica
und None, sodaß wir uns ins Altertum zurückversetzt fühlen könnten, wenn
nicht der schrille Pfiff der Lokomotive, das Auftauchen von Ortschaften mit
fremdartigen indianischen Namen und der Blick auf mächtige Fabrikschlote schnell
diese Illusion zerstörten.

Syracusc liegt im Norden des Staates Newyork und ist eine blühende
Industriestadt von etwa 125000 Einwohnern, die sich von andern amerikanischen
Städten derselben Größe nur durch eine gewisse Wohlhabenheit und Solidität
auszeichnet. Die Straßen bieten nichts besonderes. Die öffentlichen Gebäude
sind architektonisch wenig bemerkenswert, mir hier und da ragen einige impo¬
sante Wolkenkratzer turmgleich ans der Häusermasse hervor. Südwestlich von
der Stadt liegt der herrliche Onondagasee, der mehr als zehn Kilometer lang
und drei breit ist. An seinen Ufern sind die Salzmarschen, die Syracuse be¬
kannt und wohlhabend gemacht haben. Seit dem Jahre 1650 wurden die


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[0316] [Abbildung] Das Syrakus des Westens und seine Bildungsstätte Min amerikanischer Humorist hat kürzlich vorgeschlagen, man solle statt der künstlichen, philologischen Gruppierung die Wörter ein¬ teilen: erstens in tote Wörter, bei denen wir uns nichts denken können, zweitens in lebendige, die sofort deutliche Vorstellungen Im uns erwecken. Wenn wir diese etwas moderne Klassifikation auch auf Eigenimmen anwenden, so gehört der Name Syrakus sicherlich zu der zweiten Kategorie, denn er hat seine Lebenskraft seit mehr als 2600 Jahre» bewiesen. Mit dem Worte Syrakus verband sich für die Korinther der Ge¬ danke an ihre nach Sizilien ausgewanderten Brüder, die Athener und die Spar¬ taner gedachten dabei der erbitterten Kämpfe um die Hegemonie, die auf den Höhen von Epipolü stattgefunden hatten, und zu Strabos Zeiten waren aller Augen auf Syrakus geheftet, das damals die größte Stadt der antiken Welt war. Seitdem blieb es durch viele Jahrhunderte als der Schauplatz historischer Ereignisse bekannt, bis heute der Name Syrakus eine Flut von Erinnerungen hervorruft und in uns den Wunsch erweckt, diese Stadt zu sehen, mit deren Geschichte wir seit unsrer Kindheit vertraut gemacht worden sind. Doch ich muß meine Leser enttäuschen. Nicht nach dem sonnigen Süden werde ich sie führen, sondern über den Atlantischen Ozean nach Nordamerika, wo im Staate Newyork eine Stadt liegt, die mit dem antiken Syrakus den Namen gemeinsam hat, doch nichts als den Namen. Kein Maultierkarren bringt uns in ihre Mauern, keine Ruinen aus grauer Vorzeit grüßen uns von den umliegenden Hügeln. Der Linpirs Low LxxrssL, der schnellste Zug der Welt, führt uns von Newyork in 5^ Stunden nach diesem modernen Syraeuse. Er durchbraust das Tal des majestätischen Hudsonstroms und fährt durch die Städte Utica und None, sodaß wir uns ins Altertum zurückversetzt fühlen könnten, wenn nicht der schrille Pfiff der Lokomotive, das Auftauchen von Ortschaften mit fremdartigen indianischen Namen und der Blick auf mächtige Fabrikschlote schnell diese Illusion zerstörten. Syracusc liegt im Norden des Staates Newyork und ist eine blühende Industriestadt von etwa 125000 Einwohnern, die sich von andern amerikanischen Städten derselben Größe nur durch eine gewisse Wohlhabenheit und Solidität auszeichnet. Die Straßen bieten nichts besonderes. Die öffentlichen Gebäude sind architektonisch wenig bemerkenswert, mir hier und da ragen einige impo¬ sante Wolkenkratzer turmgleich ans der Häusermasse hervor. Südwestlich von der Stadt liegt der herrliche Onondagasee, der mehr als zehn Kilometer lang und drei breit ist. An seinen Ufern sind die Salzmarschen, die Syracuse be¬ kannt und wohlhabend gemacht haben. Seit dem Jahre 1650 wurden die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/316>, abgerufen am 05.02.2025.