Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Deutschland und die äußere Politik Frankreichs vorwurfsvoll, fast traurig --: Warum hat uns Deutschland 1870 überfallen, Auch heute noch ist es der glühende Wunsch der Nation, für deu kein Deutschland und die äußere Politik Frankreichs vorwurfsvoll, fast traurig —: Warum hat uns Deutschland 1870 überfallen, Auch heute noch ist es der glühende Wunsch der Nation, für deu kein <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0028" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297160"/> <fw type="header" place="top"> Deutschland und die äußere Politik Frankreichs</fw><lb/> <p xml:id="ID_38" prev="#ID_37"> vorwurfsvoll, fast traurig —: Warum hat uns Deutschland 1870 überfallen,<lb/> warum hat es unser Vaterland so grausam verstümmelt? Die Schatten des<lb/> „schrecklichen Jahres" erheben sich zwischen Deutschen und Franzosen. Die<lb/> Hand, die sich eben ausgestreckt hatte, zieht sich wieder zurück. Der Traum ist<lb/> aus, der kalte graue Tag ist da, und die Politik der Wiedervergeltung hat das<lb/> Wort. Immer wieder gerät der Deutsche in Gefahr, entzückt von den Reizen<lb/> dieses verführerischen Landes und gefangen von dem anziehenden Wesen seiner<lb/> Bewohner, zu vergessen, daß Frankreich nur darauf wartet, uns die Früchte<lb/> von 1870 wieder zu entreißen, und daß wir nur dann vor ihm sicher sind,<lb/> wenn es zu schwach zum Angriff bleibt.</p><lb/> <p xml:id="ID_39" next="#ID_40"> Auch heute noch ist es der glühende Wunsch der Nation, für deu kein<lb/> Opfer zu schwer sein würde, die Glanzzeiten des Sonnenkönigs und des erstell<lb/> Napoleons wieder herbeizuführen. Aber man beschränkt sich „realpolitisch," man<lb/> will Frankreich in dem Bestand und dem Prestige sehen, die es vor 1870<lb/> hatte. In den siebziger Jahren war die Bedingung dabei blutige Vergeltung;<lb/> nur ein Krieg konnte die Schmach Sedans und des Falls von Paris aus¬<lb/> löschen. Die Zeiten haben sich geändert; man sieht, daß Frankreich allein mit<lb/> Deutschland nicht mehr anbinden kann, und bisher hat weder Nußland noch<lb/> England Lust gezeigt, mit den Nvthosen verbündet in Berlin einzuziehn, nur<lb/> um da das Frankfurter Friedensinstrument zu zerreißen. Mau wäre auch heute<lb/> noch bereit, über uns herzufallen, wenn wir nach andrer Seite uns unsrer Haut<lb/> zu wehren haben, aber seit man nach den Erfahrungen von Gravelotte und<lb/> Mars-la-Tour des Kriegsglücks nicht mehr so sicher ist wie früher, liebt man<lb/> es, sich in die Toga des friedliebenden Republikaners zu hüllen und mit Ver¬<lb/> achtung vom Waffenhandwerk zu sprechen, das nur barbarischen Völkern Freude<lb/> machen könne. Dabei rüstet man fieberhaft, und die Chauvinisten würden die<lb/> Republik jedem abenteuernden General opfern, der Revanche verspräche. Aber<lb/> die Hochfinanz gibt heute den Ton an, und auf der andern Seite der sozialistische<lb/> Arbeiterstand, der bäuerliche Besitz. Diese.Klassen wollen allerdings von einer<lb/> kriegerischen Revanche im Sinne der Nationalisten nichts wissen. Sie erwarten<lb/> die Vergeltung auf friedlichen! Wege. Diese neue Schule hat zwei Führer, die<lb/> eigentlich kaum in einem Atem zu nennen sind, die aber doch in dieser Be¬<lb/> ziehung zusammen gehören: Jaures und Delcasse. Der Sozialistenführer er¬<lb/> wartet die Lösung der elsaß-lothringischen Frage von der zukünftigen europäischen<lb/> Demokratie, die alle Grenzschlagbäume umstürzen wird; er bleibt aber trotzdem<lb/> dabei, daß Elsaß-Lothringen von Rechts wegen an Frankreich wieder heraus¬<lb/> zugeben ist. Herr Delcasse erwartet dasselbe Resultat von einem Zusammen¬<lb/> wirken aller europäischen Mächte, die sich schließlich zu einer großen Koalition<lb/> Kaunitz mit Hinzunahme Englands gegen Deutschland vereinigen werden. Wir<lb/> haben es hier nicht mit den in Deutschland leider so überschätzten Phantasien<lb/> des Herrn Jaures, sondern mit den sehr realpolitischen Plänen des Herrn<lb/> Delcasse zu tun. Das isolierte Deutschland soll durch den Druck aller gegen<lb/> es vereinigten Staaten gezwungen werden, einen neuen Vertrag mit Frankreich<lb/> zu schließen, der die Ergebnisse von 1870/71 ausstreicht. Die andern Völker<lb/> mögen sich dan» uach Belieben von dem ohnmächtig am Boden liegenden</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0028]
Deutschland und die äußere Politik Frankreichs
vorwurfsvoll, fast traurig —: Warum hat uns Deutschland 1870 überfallen,
warum hat es unser Vaterland so grausam verstümmelt? Die Schatten des
„schrecklichen Jahres" erheben sich zwischen Deutschen und Franzosen. Die
Hand, die sich eben ausgestreckt hatte, zieht sich wieder zurück. Der Traum ist
aus, der kalte graue Tag ist da, und die Politik der Wiedervergeltung hat das
Wort. Immer wieder gerät der Deutsche in Gefahr, entzückt von den Reizen
dieses verführerischen Landes und gefangen von dem anziehenden Wesen seiner
Bewohner, zu vergessen, daß Frankreich nur darauf wartet, uns die Früchte
von 1870 wieder zu entreißen, und daß wir nur dann vor ihm sicher sind,
wenn es zu schwach zum Angriff bleibt.
Auch heute noch ist es der glühende Wunsch der Nation, für deu kein
Opfer zu schwer sein würde, die Glanzzeiten des Sonnenkönigs und des erstell
Napoleons wieder herbeizuführen. Aber man beschränkt sich „realpolitisch," man
will Frankreich in dem Bestand und dem Prestige sehen, die es vor 1870
hatte. In den siebziger Jahren war die Bedingung dabei blutige Vergeltung;
nur ein Krieg konnte die Schmach Sedans und des Falls von Paris aus¬
löschen. Die Zeiten haben sich geändert; man sieht, daß Frankreich allein mit
Deutschland nicht mehr anbinden kann, und bisher hat weder Nußland noch
England Lust gezeigt, mit den Nvthosen verbündet in Berlin einzuziehn, nur
um da das Frankfurter Friedensinstrument zu zerreißen. Mau wäre auch heute
noch bereit, über uns herzufallen, wenn wir nach andrer Seite uns unsrer Haut
zu wehren haben, aber seit man nach den Erfahrungen von Gravelotte und
Mars-la-Tour des Kriegsglücks nicht mehr so sicher ist wie früher, liebt man
es, sich in die Toga des friedliebenden Republikaners zu hüllen und mit Ver¬
achtung vom Waffenhandwerk zu sprechen, das nur barbarischen Völkern Freude
machen könne. Dabei rüstet man fieberhaft, und die Chauvinisten würden die
Republik jedem abenteuernden General opfern, der Revanche verspräche. Aber
die Hochfinanz gibt heute den Ton an, und auf der andern Seite der sozialistische
Arbeiterstand, der bäuerliche Besitz. Diese.Klassen wollen allerdings von einer
kriegerischen Revanche im Sinne der Nationalisten nichts wissen. Sie erwarten
die Vergeltung auf friedlichen! Wege. Diese neue Schule hat zwei Führer, die
eigentlich kaum in einem Atem zu nennen sind, die aber doch in dieser Be¬
ziehung zusammen gehören: Jaures und Delcasse. Der Sozialistenführer er¬
wartet die Lösung der elsaß-lothringischen Frage von der zukünftigen europäischen
Demokratie, die alle Grenzschlagbäume umstürzen wird; er bleibt aber trotzdem
dabei, daß Elsaß-Lothringen von Rechts wegen an Frankreich wieder heraus¬
zugeben ist. Herr Delcasse erwartet dasselbe Resultat von einem Zusammen¬
wirken aller europäischen Mächte, die sich schließlich zu einer großen Koalition
Kaunitz mit Hinzunahme Englands gegen Deutschland vereinigen werden. Wir
haben es hier nicht mit den in Deutschland leider so überschätzten Phantasien
des Herrn Jaures, sondern mit den sehr realpolitischen Plänen des Herrn
Delcasse zu tun. Das isolierte Deutschland soll durch den Druck aller gegen
es vereinigten Staaten gezwungen werden, einen neuen Vertrag mit Frankreich
zu schließen, der die Ergebnisse von 1870/71 ausstreicht. Die andern Völker
mögen sich dan» uach Belieben von dem ohnmächtig am Boden liegenden
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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
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