Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Herrenmenschen Man hatte sich noch nicht die Lippen abgeleckt, da erklangen aus dem Dunkeln Jetzt war der Inspektor für den Staatsanwalt reif, und man durfte hoffe", Unsre drei Maler hatten den Feuerlärm vollständig verschlafen. Da es draußen Staffelsteiger hatte diesen Noten mit stiller Überlegenheit gegenübergestanden. Das Wäre der Teufel, antwortete Schwechting, Anatomie "fühlen! Das Die Kunst. Schwechting. sagte Staffelsteiger, ist keine "Wissenschaft. Die Herrenmenschen Man hatte sich noch nicht die Lippen abgeleckt, da erklangen aus dem Dunkeln Jetzt war der Inspektor für den Staatsanwalt reif, und man durfte hoffe», Unsre drei Maler hatten den Feuerlärm vollständig verschlafen. Da es draußen Staffelsteiger hatte diesen Noten mit stiller Überlegenheit gegenübergestanden. Das Wäre der Teufel, antwortete Schwechting, Anatomie „fühlen! Das Die Kunst. Schwechting. sagte Staffelsteiger, ist keine „Wissenschaft. Die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0172" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297304"/> <fw type="header" place="top"> Herrenmenschen</fw><lb/> <p xml:id="ID_760"> Man hatte sich noch nicht die Lippen abgeleckt, da erklangen aus dem Dunkeln<lb/> streitende Stimmen. Ein brüllender Ton und die Stimme des Doktors, der nach<lb/> Hilfe rief. Man sprang hinzu und fand deu Inspektor, der sich gebärdete wie<lb/> ein wildes Tier, ein blankes Messer in der Faust hielt und den Doktor, der mit<lb/> der einen Hand des Inspektors Handgelenk umfaßt hielt und mit der andern Hand<lb/> die Gurgel seines Gegners gefaßt hatte. Von dein linken Arme tropfte Blut herab.<lb/> Die Männer sprangen hinzu, überwältigten den Inspektor und banden ihm die<lb/> Arme ans den Rücken. Mordbrenner, riefen sie, denn es war ja ohne weiteres<lb/> klar, daß er das Feuer angelegt haben mußte. Ja sie würden vielleicht Volks¬<lb/> justiz geübt haben, wenn nicht die bewaffnete Macht in Gestalt von Päsch ein¬<lb/> geschritten wäre. Dieser nahm den Arrestanten mit gebührender Würde entgegen<lb/> und brachte ihn auf Nummer Sicher, das heißt in das leere Spritzenhans in<lb/> Tapnicken. Ein Teil der Spritzenmaunschaften folgte, ein andrer wandte sich, da<lb/> es im Osten schon hell wurde und mit der angerissenen Nacht doch nichts anzu¬<lb/> fangen war, zu Locken und trank weiter. Und Tauenden hatte damit zu tun, dem<lb/> Doktor den Arm zu verbinden, was sie nach allen Regeln der Kunst und mit<lb/> großem Geschick tat. Übrigens hatte die Wunde nicht viel zu bedeuten. Es war<lb/> ein Stich in das Muskelfleisch des Unterarms.</p><lb/> <p xml:id="ID_761"> Jetzt war der Inspektor für den Staatsanwalt reif, und man durfte hoffe»,<lb/> daß er auf längere Zeit beseitigt werden würde. Ja, wenn ihn der Staatsanwalt<lb/> nur in die Hände bekommen hätte! Am andern Tage wurde bekannt, daß der In¬<lb/> spektor entflohen sei. Nicht einmal ausgebrochen war er, man hatte aus Versehen<lb/> die Tür nicht ordentlich verschlossen, und man raunte sich zu, daß das kein andrer<lb/> als Grvppoff so angeordnet habe. Später erfuhr man, daß Heinemann mit einem<lb/> Trupp Pascher über die russische Grenze gegangen sei. Auch gut.</p><lb/> <p xml:id="ID_762"> Unsre drei Maler hatten den Feuerlärm vollständig verschlafen. Da es draußen<lb/> naß war, so arbeitete man im Atelier. Stafselsteigcr malte etwas Schummriges,<lb/> woran man weiter nichts rin einiger Deutlichkeit erkennen konnte als ein paar alte,<lb/> kalkweiße Hausgiebel und einen Fliederbusch, dessen Blüten eben so gut umgekippte<lb/> Suppenteller sein konnten — und vier Beine. Im schwarzen Schatten aber lagen<lb/> abgrundtiefe Gedanken. Pogge las die Morgenzeitung, und Schwechting quälte sich<lb/> mit seinem Elch. Er konnte mit den Elchläufen nicht ins reine kommen. Schon<lb/> ein dutzendmal hatte er sie auf Papier gezeichnet, auf die Leinwand gemalt und<lb/> immer wieder weggewischt und weggekratzt. Er war zuletzt in helle Verzweiflung<lb/> geraten, hielt seinen Mitkolonisten die Photographie des Elchs zum zwanzigstcnmal<lb/> unter die Augen und fragte dringlichst, ob die Sehnen der Gelenke so oder so<lb/> angewachsen seien. Ich muß das wissen, rief er, ich muß das durchaus wissen.<lb/> Mein ganzer Elch ist nicht einen Schuß Pulver wert, wenn er nicht auf korrekten<lb/> Beinen steht.</p><lb/> <p xml:id="ID_763"> Staffelsteiger hatte diesen Noten mit stiller Überlegenheit gegenübergestanden.<lb/> Die Dinge, um die sich dieser arme Mensch quälte, lagen ihm ja weltenweit unter<lb/> den Füße». Knochen? Sprunggelenke? Sehnen? Die Kunst hatte nach seiner<lb/> Meinung ernstere Sorgen als diese. Als nun Schwechting zum einundzwanzigsten-<lb/> mal erklärte, er müsse das wissen, antwortete er mit Würde: Das braucht mau<lb/> nicht zu „wissen," Schwechting, das muß man fühlen."</p><lb/> <p xml:id="ID_764"> Das Wäre der Teufel, antwortete Schwechting, Anatomie „fühlen! Das<lb/> kann man wohl bei einer dürren Kuh, wenn man ihr über die Rippen fährt, aber<lb/> nicht, wenn man nach einer schäbigen Photographie große Elchbcine malen soll.<lb/> Dazu gehört solides Wissen."</p><lb/> <p xml:id="ID_765" next="#ID_766"> Die Kunst. Schwechting. sagte Staffelsteiger, ist keine „Wissenschaft. Die<lb/> Dinge der Welt sind nicht damit erledigt, daß man sie mit der Netzhaut einfängt<lb/> und auf das Papier aufspannt. Wollen wir uns beteiligen an den Geschmacklosig¬<lb/> keiten der Jllustrationsknnst für Familienblätter? Die Dinge der Welt sind die<lb/> sinnlich verdichtete Spitze einer Welt, die aus der Unendlichkeit des Innerlichen</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0172]
Herrenmenschen
Man hatte sich noch nicht die Lippen abgeleckt, da erklangen aus dem Dunkeln
streitende Stimmen. Ein brüllender Ton und die Stimme des Doktors, der nach
Hilfe rief. Man sprang hinzu und fand deu Inspektor, der sich gebärdete wie
ein wildes Tier, ein blankes Messer in der Faust hielt und den Doktor, der mit
der einen Hand des Inspektors Handgelenk umfaßt hielt und mit der andern Hand
die Gurgel seines Gegners gefaßt hatte. Von dein linken Arme tropfte Blut herab.
Die Männer sprangen hinzu, überwältigten den Inspektor und banden ihm die
Arme ans den Rücken. Mordbrenner, riefen sie, denn es war ja ohne weiteres
klar, daß er das Feuer angelegt haben mußte. Ja sie würden vielleicht Volks¬
justiz geübt haben, wenn nicht die bewaffnete Macht in Gestalt von Päsch ein¬
geschritten wäre. Dieser nahm den Arrestanten mit gebührender Würde entgegen
und brachte ihn auf Nummer Sicher, das heißt in das leere Spritzenhans in
Tapnicken. Ein Teil der Spritzenmaunschaften folgte, ein andrer wandte sich, da
es im Osten schon hell wurde und mit der angerissenen Nacht doch nichts anzu¬
fangen war, zu Locken und trank weiter. Und Tauenden hatte damit zu tun, dem
Doktor den Arm zu verbinden, was sie nach allen Regeln der Kunst und mit
großem Geschick tat. Übrigens hatte die Wunde nicht viel zu bedeuten. Es war
ein Stich in das Muskelfleisch des Unterarms.
Jetzt war der Inspektor für den Staatsanwalt reif, und man durfte hoffe»,
daß er auf längere Zeit beseitigt werden würde. Ja, wenn ihn der Staatsanwalt
nur in die Hände bekommen hätte! Am andern Tage wurde bekannt, daß der In¬
spektor entflohen sei. Nicht einmal ausgebrochen war er, man hatte aus Versehen
die Tür nicht ordentlich verschlossen, und man raunte sich zu, daß das kein andrer
als Grvppoff so angeordnet habe. Später erfuhr man, daß Heinemann mit einem
Trupp Pascher über die russische Grenze gegangen sei. Auch gut.
Unsre drei Maler hatten den Feuerlärm vollständig verschlafen. Da es draußen
naß war, so arbeitete man im Atelier. Stafselsteigcr malte etwas Schummriges,
woran man weiter nichts rin einiger Deutlichkeit erkennen konnte als ein paar alte,
kalkweiße Hausgiebel und einen Fliederbusch, dessen Blüten eben so gut umgekippte
Suppenteller sein konnten — und vier Beine. Im schwarzen Schatten aber lagen
abgrundtiefe Gedanken. Pogge las die Morgenzeitung, und Schwechting quälte sich
mit seinem Elch. Er konnte mit den Elchläufen nicht ins reine kommen. Schon
ein dutzendmal hatte er sie auf Papier gezeichnet, auf die Leinwand gemalt und
immer wieder weggewischt und weggekratzt. Er war zuletzt in helle Verzweiflung
geraten, hielt seinen Mitkolonisten die Photographie des Elchs zum zwanzigstcnmal
unter die Augen und fragte dringlichst, ob die Sehnen der Gelenke so oder so
angewachsen seien. Ich muß das wissen, rief er, ich muß das durchaus wissen.
Mein ganzer Elch ist nicht einen Schuß Pulver wert, wenn er nicht auf korrekten
Beinen steht.
Staffelsteiger hatte diesen Noten mit stiller Überlegenheit gegenübergestanden.
Die Dinge, um die sich dieser arme Mensch quälte, lagen ihm ja weltenweit unter
den Füße». Knochen? Sprunggelenke? Sehnen? Die Kunst hatte nach seiner
Meinung ernstere Sorgen als diese. Als nun Schwechting zum einundzwanzigsten-
mal erklärte, er müsse das wissen, antwortete er mit Würde: Das braucht mau
nicht zu „wissen," Schwechting, das muß man fühlen."
Das Wäre der Teufel, antwortete Schwechting, Anatomie „fühlen! Das
kann man wohl bei einer dürren Kuh, wenn man ihr über die Rippen fährt, aber
nicht, wenn man nach einer schäbigen Photographie große Elchbcine malen soll.
Dazu gehört solides Wissen."
Die Kunst. Schwechting. sagte Staffelsteiger, ist keine „Wissenschaft. Die
Dinge der Welt sind nicht damit erledigt, daß man sie mit der Netzhaut einfängt
und auf das Papier aufspannt. Wollen wir uns beteiligen an den Geschmacklosig¬
keiten der Jllustrationsknnst für Familienblätter? Die Dinge der Welt sind die
sinnlich verdichtete Spitze einer Welt, die aus der Unendlichkeit des Innerlichen
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