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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Zur Reform des Strafprozesses

An der Zweidrittelmajorität für die Schuldfrage und der einfachen Majorität
für die Straffestsetzung braucht allerdings nichts geändert zu werden. Dagegen
wäre zunächst die Ablehnungsmöglichkeit ohne Angabe von Gründen für das
ausschlaggebende Drittel der Richterbank zu wahren, natürlich nur soweit die
Beisitzer in Betracht kommen. Die Art der Listenaufstellung schließt ja aller¬
dings die Befürchtung aus, als ob die Person des Angeklagten oder die Be¬
deutung des Straffalles die Auswahl beeinflussen könnte; wohl aber ist bei
der Notwendigkeit, die Spruchliste für eine geraume Zeit im voraus festzulegen,
die Gefahr nicht ausgeschlossen, daß bei der Wahl des Termins die soziale
Stellung der Beisitzer, die an einem bestimmten Tage zu amtieren haben, ein
entscheidendes Wort mitspricht. Hier muß die Möglichkeit der Ablehnung helfend
eingreifen.

Die größere oder die geringere Selbständigkeit des Laienelements findet
ihren Ausdruck in der Art, wie über die Schuldfrage abgestimmt wird. Eine
der Abstimmung vorausgehende geheime Diskussion wird notwendig der Logik
des Juristen zum Siege verhelfen; vor ihr schwindet auch die der Majorität
als solcher sonst anhaftende Schwerkraft. Zur Erklärung dieser jeden Tag neu¬
bestätigten Erfahrung muß man auf den psychologischen Untergrund jedes
menschlichen Urteils zurückgehn. Denn seine Hauptquellen entströmen dem hinter
dem Bewußtsein liegenden großen Reservoir unsichtbarer und doch anregungs¬
fähiger Eindrücke, jener endlosen Kette psychischer Komplexe, die erst dann
als Motive oder als Motivationsmöglichkeiten erkannt werden, wenn sie die
trennende Wand des Bewußtseins durchbrochen haben. Der juristisch geschulte
Verstand verhält sich nun diesen Einbrüchen gegenüber von vornherein ab¬
lehnend; er läßt bewußtermaßen diese Eindringlinge nur dann als stimm¬
berechtigt zu, wenn sie seine Kontrolle passiert haben und außerdem eine gesetz¬
liche Legitimation vorweisen können. Für diese mit dem doppelten Stempel
der Logik und der Gesetzlichkeit versehenen Gründe findet sich selbstverständlich
leicht der adäquate Ausdruck, während jener unsichtbare Klopfer für sein Pochen
keine Worte findet. Daher die Überlegenheit juristischer Argumentation, wenn
sie dem Rechtsgefühl des Laien gegenübertritt. Wer diesem einen größern Ein¬
fluß sichern will, muß verhindern, daß es aus seinem eignen Kreise heraus in
den fremder Überlegenheit tritt. Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen.
Erstens: die Abstimmung über die Schuldfrage muß nach erfolgter Rechts¬
belehrung in öffentlicher Sitzung mit Ja oder Nein erfolgen.

Zweitens: dieser Teil des Urteils ist nicht mit Gründen zu versehen.

Dagegen besteht kein Bedenken, über die Wahl und das Maß der Strafe
geheim zu beraten und diesen Urteilssatz, über den die einfache Majorität zu
entscheiden hätte, mit Gründen zu versehen.

Drittens: die Berufung gegen das Urteil ist ausgeschlossen. Die Un¬
möglichkeit einer sachlichen Nachprüfung ergibt sich aus dem Inhalt eines solchen
Urteils. Für eine neue selbständige Prüfung des Sachverhalts aber wären nur
zwei Wege offen: die Berufung an ein Juristengericht-- wie es heute bei den
schöffengerichtlichen Urteilen zulässig ist -- oder an ein andres Schöffengericht
mit derselben oder einer erweiterten Besetzung.


Zur Reform des Strafprozesses

An der Zweidrittelmajorität für die Schuldfrage und der einfachen Majorität
für die Straffestsetzung braucht allerdings nichts geändert zu werden. Dagegen
wäre zunächst die Ablehnungsmöglichkeit ohne Angabe von Gründen für das
ausschlaggebende Drittel der Richterbank zu wahren, natürlich nur soweit die
Beisitzer in Betracht kommen. Die Art der Listenaufstellung schließt ja aller¬
dings die Befürchtung aus, als ob die Person des Angeklagten oder die Be¬
deutung des Straffalles die Auswahl beeinflussen könnte; wohl aber ist bei
der Notwendigkeit, die Spruchliste für eine geraume Zeit im voraus festzulegen,
die Gefahr nicht ausgeschlossen, daß bei der Wahl des Termins die soziale
Stellung der Beisitzer, die an einem bestimmten Tage zu amtieren haben, ein
entscheidendes Wort mitspricht. Hier muß die Möglichkeit der Ablehnung helfend
eingreifen.

Die größere oder die geringere Selbständigkeit des Laienelements findet
ihren Ausdruck in der Art, wie über die Schuldfrage abgestimmt wird. Eine
der Abstimmung vorausgehende geheime Diskussion wird notwendig der Logik
des Juristen zum Siege verhelfen; vor ihr schwindet auch die der Majorität
als solcher sonst anhaftende Schwerkraft. Zur Erklärung dieser jeden Tag neu¬
bestätigten Erfahrung muß man auf den psychologischen Untergrund jedes
menschlichen Urteils zurückgehn. Denn seine Hauptquellen entströmen dem hinter
dem Bewußtsein liegenden großen Reservoir unsichtbarer und doch anregungs¬
fähiger Eindrücke, jener endlosen Kette psychischer Komplexe, die erst dann
als Motive oder als Motivationsmöglichkeiten erkannt werden, wenn sie die
trennende Wand des Bewußtseins durchbrochen haben. Der juristisch geschulte
Verstand verhält sich nun diesen Einbrüchen gegenüber von vornherein ab¬
lehnend; er läßt bewußtermaßen diese Eindringlinge nur dann als stimm¬
berechtigt zu, wenn sie seine Kontrolle passiert haben und außerdem eine gesetz¬
liche Legitimation vorweisen können. Für diese mit dem doppelten Stempel
der Logik und der Gesetzlichkeit versehenen Gründe findet sich selbstverständlich
leicht der adäquate Ausdruck, während jener unsichtbare Klopfer für sein Pochen
keine Worte findet. Daher die Überlegenheit juristischer Argumentation, wenn
sie dem Rechtsgefühl des Laien gegenübertritt. Wer diesem einen größern Ein¬
fluß sichern will, muß verhindern, daß es aus seinem eignen Kreise heraus in
den fremder Überlegenheit tritt. Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen.
Erstens: die Abstimmung über die Schuldfrage muß nach erfolgter Rechts¬
belehrung in öffentlicher Sitzung mit Ja oder Nein erfolgen.

Zweitens: dieser Teil des Urteils ist nicht mit Gründen zu versehen.

Dagegen besteht kein Bedenken, über die Wahl und das Maß der Strafe
geheim zu beraten und diesen Urteilssatz, über den die einfache Majorität zu
entscheiden hätte, mit Gründen zu versehen.

Drittens: die Berufung gegen das Urteil ist ausgeschlossen. Die Un¬
möglichkeit einer sachlichen Nachprüfung ergibt sich aus dem Inhalt eines solchen
Urteils. Für eine neue selbständige Prüfung des Sachverhalts aber wären nur
zwei Wege offen: die Berufung an ein Juristengericht-- wie es heute bei den
schöffengerichtlichen Urteilen zulässig ist — oder an ein andres Schöffengericht
mit derselben oder einer erweiterten Besetzung.


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[0147] Zur Reform des Strafprozesses An der Zweidrittelmajorität für die Schuldfrage und der einfachen Majorität für die Straffestsetzung braucht allerdings nichts geändert zu werden. Dagegen wäre zunächst die Ablehnungsmöglichkeit ohne Angabe von Gründen für das ausschlaggebende Drittel der Richterbank zu wahren, natürlich nur soweit die Beisitzer in Betracht kommen. Die Art der Listenaufstellung schließt ja aller¬ dings die Befürchtung aus, als ob die Person des Angeklagten oder die Be¬ deutung des Straffalles die Auswahl beeinflussen könnte; wohl aber ist bei der Notwendigkeit, die Spruchliste für eine geraume Zeit im voraus festzulegen, die Gefahr nicht ausgeschlossen, daß bei der Wahl des Termins die soziale Stellung der Beisitzer, die an einem bestimmten Tage zu amtieren haben, ein entscheidendes Wort mitspricht. Hier muß die Möglichkeit der Ablehnung helfend eingreifen. Die größere oder die geringere Selbständigkeit des Laienelements findet ihren Ausdruck in der Art, wie über die Schuldfrage abgestimmt wird. Eine der Abstimmung vorausgehende geheime Diskussion wird notwendig der Logik des Juristen zum Siege verhelfen; vor ihr schwindet auch die der Majorität als solcher sonst anhaftende Schwerkraft. Zur Erklärung dieser jeden Tag neu¬ bestätigten Erfahrung muß man auf den psychologischen Untergrund jedes menschlichen Urteils zurückgehn. Denn seine Hauptquellen entströmen dem hinter dem Bewußtsein liegenden großen Reservoir unsichtbarer und doch anregungs¬ fähiger Eindrücke, jener endlosen Kette psychischer Komplexe, die erst dann als Motive oder als Motivationsmöglichkeiten erkannt werden, wenn sie die trennende Wand des Bewußtseins durchbrochen haben. Der juristisch geschulte Verstand verhält sich nun diesen Einbrüchen gegenüber von vornherein ab¬ lehnend; er läßt bewußtermaßen diese Eindringlinge nur dann als stimm¬ berechtigt zu, wenn sie seine Kontrolle passiert haben und außerdem eine gesetz¬ liche Legitimation vorweisen können. Für diese mit dem doppelten Stempel der Logik und der Gesetzlichkeit versehenen Gründe findet sich selbstverständlich leicht der adäquate Ausdruck, während jener unsichtbare Klopfer für sein Pochen keine Worte findet. Daher die Überlegenheit juristischer Argumentation, wenn sie dem Rechtsgefühl des Laien gegenübertritt. Wer diesem einen größern Ein¬ fluß sichern will, muß verhindern, daß es aus seinem eignen Kreise heraus in den fremder Überlegenheit tritt. Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen. Erstens: die Abstimmung über die Schuldfrage muß nach erfolgter Rechts¬ belehrung in öffentlicher Sitzung mit Ja oder Nein erfolgen. Zweitens: dieser Teil des Urteils ist nicht mit Gründen zu versehen. Dagegen besteht kein Bedenken, über die Wahl und das Maß der Strafe geheim zu beraten und diesen Urteilssatz, über den die einfache Majorität zu entscheiden hätte, mit Gründen zu versehen. Drittens: die Berufung gegen das Urteil ist ausgeschlossen. Die Un¬ möglichkeit einer sachlichen Nachprüfung ergibt sich aus dem Inhalt eines solchen Urteils. Für eine neue selbständige Prüfung des Sachverhalts aber wären nur zwei Wege offen: die Berufung an ein Juristengericht-- wie es heute bei den schöffengerichtlichen Urteilen zulässig ist — oder an ein andres Schöffengericht mit derselben oder einer erweiterten Besetzung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/147>, abgerufen am 05.02.2025.