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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Das neue Griechenland im neuen

Jahre einige junge Dichter in Athen die Volkspoesie als die wahre Quelle
der Kunstpoesie gegen die damals noch herrschende akademisch-klassizistische
Richtung ins Feld führten. Die Gelehrten, die sich als Hüter der altheiliger
Sprache der Vorfahren fühlten und sich einbildeten, Altgriechisch zu schreiben,
obwohl es das barbarischste Griechisch war, das man sich denken kann -- diese
verhielten sich ruhig und gleichartig gegen die neuen Sonderlinge, die ja in
ihren Bereich nicht so leicht einbrechen konnten. Da erschien im Frühjahr 1888
ein in der Volkssprache verfaßtes Buch eines in Paris lebenden griechischen
Sprachforschers, Jean Psichari, das in der Form einer Reisebeschreibung
und in stark satirischen Tone den Griechen ihre Sprachtorheiten vorhielt
und in leichtem Plauderton sprachgeschichtliche Lehren gab. Das Buch ent¬
fesselte einen Sturm der Entrüstung in den Reihen der "Gebildeten" griechischer
Nation; der Verfasser, obwohl ein anerkannter Gelehrter und Schwiegersohn
Ernest Nereus. wurde als ungebildeter Mensch und Verräter an der Sache
der Nation gebrandmarkt und gilt noch heute bei dem Durchschnittsgriechen als
der bestgehaßte Mann, als ein Ketzer wie Tolstoi in Nußland. Auf die wenigen
wirklich Intelligenten aber wirkte das Buch wahrhaft befreiend: es war, als
hätte man einen Stein vom Herzen des Volkes gewälzt. Überall begann es zu
blühen und zu grünen, eine kleine Schar junger talentvoller Schriftsteller
suchte das Beispiel des Meisters in die Praxis umzusetzen, und in zahlreichen
kleinen Erzählungen aus dem Volksleben begann nun auch die Volkssprache
ihre Flügel in der Literatur zu regen. Es seien hier nur die Namen von
Eftaliotis, Karkawitzas, Drossinis und Palamas genannt, die die griechische
Volksseele sozusagen erst entdeckt haben.

Eine zweite Phase in dem Kampf um die Anerkennung der Volkssprache
bezeichnet ein Buch, das fünf Jahre später unter dem Titel "Idole" Jenen.
No'ibis, der jüngst gestorbne Direktor der Athener Nationalbibliothek, heraus¬
gab. Kein Sprachforscher von Fach, konnte er sich auf einen um so höhern
sprachphilosophischen Standpunkt stellen und die Hauptvorurteile der gebildeten
Griechen gegen ihre Muttersprache, ihre angebliche Verderbung, ihren angeblichen
Schaden, ihre angebliche Verschiedenheit und ihre angebliche Armut auf Grund
reicher Parallelen aus den modernen europäischen Sprachen glänzend wider¬
legen. Die Schrift trägt im Gegensatz zu der von Psichari den Charakter einer
rein objektiv-theoretischen Erörterung und ist auch -- wohl aus taktischen
Gründen -- in der konventionellen Schriftsprache abgefaßt, die der Verfasser
indirekt bekämpft.'

Hatten Psichari und Noibis bei ihrem Eintreten für die Volkssprache diese
immer noch als etwas abgesondertes für sich betrachtet und vorwiegend die
grammatisch-philologische Seite der Sache betont, so sind es wiederum zwei
Männer gewesen, die die Sprachreform vom literarisch-ästhetischen Standpunkt
aus in Angriff genommen und sie damit mehr in den Mittelpunkt des geistigen
Lebens gerückt haben; sie wird nun nicht mehr rein verstandesmäßig als eine
historische Notwendigkeit sondern gefühlsmüßig als eine Forderung der dichterischen
Phantasie aufgefaßt. Hierauf zuerst nachdrücklich hingewiesen zu haben, ist das
Verdienst der beiden ersten griechischen Ästhetiker Jcckobos Polylas und Kofels



Grenzboten IV 1905 II
Das neue Griechenland im neuen

Jahre einige junge Dichter in Athen die Volkspoesie als die wahre Quelle
der Kunstpoesie gegen die damals noch herrschende akademisch-klassizistische
Richtung ins Feld führten. Die Gelehrten, die sich als Hüter der altheiliger
Sprache der Vorfahren fühlten und sich einbildeten, Altgriechisch zu schreiben,
obwohl es das barbarischste Griechisch war, das man sich denken kann — diese
verhielten sich ruhig und gleichartig gegen die neuen Sonderlinge, die ja in
ihren Bereich nicht so leicht einbrechen konnten. Da erschien im Frühjahr 1888
ein in der Volkssprache verfaßtes Buch eines in Paris lebenden griechischen
Sprachforschers, Jean Psichari, das in der Form einer Reisebeschreibung
und in stark satirischen Tone den Griechen ihre Sprachtorheiten vorhielt
und in leichtem Plauderton sprachgeschichtliche Lehren gab. Das Buch ent¬
fesselte einen Sturm der Entrüstung in den Reihen der „Gebildeten" griechischer
Nation; der Verfasser, obwohl ein anerkannter Gelehrter und Schwiegersohn
Ernest Nereus. wurde als ungebildeter Mensch und Verräter an der Sache
der Nation gebrandmarkt und gilt noch heute bei dem Durchschnittsgriechen als
der bestgehaßte Mann, als ein Ketzer wie Tolstoi in Nußland. Auf die wenigen
wirklich Intelligenten aber wirkte das Buch wahrhaft befreiend: es war, als
hätte man einen Stein vom Herzen des Volkes gewälzt. Überall begann es zu
blühen und zu grünen, eine kleine Schar junger talentvoller Schriftsteller
suchte das Beispiel des Meisters in die Praxis umzusetzen, und in zahlreichen
kleinen Erzählungen aus dem Volksleben begann nun auch die Volkssprache
ihre Flügel in der Literatur zu regen. Es seien hier nur die Namen von
Eftaliotis, Karkawitzas, Drossinis und Palamas genannt, die die griechische
Volksseele sozusagen erst entdeckt haben.

Eine zweite Phase in dem Kampf um die Anerkennung der Volkssprache
bezeichnet ein Buch, das fünf Jahre später unter dem Titel „Idole" Jenen.
No'ibis, der jüngst gestorbne Direktor der Athener Nationalbibliothek, heraus¬
gab. Kein Sprachforscher von Fach, konnte er sich auf einen um so höhern
sprachphilosophischen Standpunkt stellen und die Hauptvorurteile der gebildeten
Griechen gegen ihre Muttersprache, ihre angebliche Verderbung, ihren angeblichen
Schaden, ihre angebliche Verschiedenheit und ihre angebliche Armut auf Grund
reicher Parallelen aus den modernen europäischen Sprachen glänzend wider¬
legen. Die Schrift trägt im Gegensatz zu der von Psichari den Charakter einer
rein objektiv-theoretischen Erörterung und ist auch — wohl aus taktischen
Gründen — in der konventionellen Schriftsprache abgefaßt, die der Verfasser
indirekt bekämpft.'

Hatten Psichari und Noibis bei ihrem Eintreten für die Volkssprache diese
immer noch als etwas abgesondertes für sich betrachtet und vorwiegend die
grammatisch-philologische Seite der Sache betont, so sind es wiederum zwei
Männer gewesen, die die Sprachreform vom literarisch-ästhetischen Standpunkt
aus in Angriff genommen und sie damit mehr in den Mittelpunkt des geistigen
Lebens gerückt haben; sie wird nun nicht mehr rein verstandesmäßig als eine
historische Notwendigkeit sondern gefühlsmüßig als eine Forderung der dichterischen
Phantasie aufgefaßt. Hierauf zuerst nachdrücklich hingewiesen zu haben, ist das
Verdienst der beiden ersten griechischen Ästhetiker Jcckobos Polylas und Kofels



Grenzboten IV 1905 II
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[0083] Das neue Griechenland im neuen Jahre einige junge Dichter in Athen die Volkspoesie als die wahre Quelle der Kunstpoesie gegen die damals noch herrschende akademisch-klassizistische Richtung ins Feld führten. Die Gelehrten, die sich als Hüter der altheiliger Sprache der Vorfahren fühlten und sich einbildeten, Altgriechisch zu schreiben, obwohl es das barbarischste Griechisch war, das man sich denken kann — diese verhielten sich ruhig und gleichartig gegen die neuen Sonderlinge, die ja in ihren Bereich nicht so leicht einbrechen konnten. Da erschien im Frühjahr 1888 ein in der Volkssprache verfaßtes Buch eines in Paris lebenden griechischen Sprachforschers, Jean Psichari, das in der Form einer Reisebeschreibung und in stark satirischen Tone den Griechen ihre Sprachtorheiten vorhielt und in leichtem Plauderton sprachgeschichtliche Lehren gab. Das Buch ent¬ fesselte einen Sturm der Entrüstung in den Reihen der „Gebildeten" griechischer Nation; der Verfasser, obwohl ein anerkannter Gelehrter und Schwiegersohn Ernest Nereus. wurde als ungebildeter Mensch und Verräter an der Sache der Nation gebrandmarkt und gilt noch heute bei dem Durchschnittsgriechen als der bestgehaßte Mann, als ein Ketzer wie Tolstoi in Nußland. Auf die wenigen wirklich Intelligenten aber wirkte das Buch wahrhaft befreiend: es war, als hätte man einen Stein vom Herzen des Volkes gewälzt. Überall begann es zu blühen und zu grünen, eine kleine Schar junger talentvoller Schriftsteller suchte das Beispiel des Meisters in die Praxis umzusetzen, und in zahlreichen kleinen Erzählungen aus dem Volksleben begann nun auch die Volkssprache ihre Flügel in der Literatur zu regen. Es seien hier nur die Namen von Eftaliotis, Karkawitzas, Drossinis und Palamas genannt, die die griechische Volksseele sozusagen erst entdeckt haben. Eine zweite Phase in dem Kampf um die Anerkennung der Volkssprache bezeichnet ein Buch, das fünf Jahre später unter dem Titel „Idole" Jenen. No'ibis, der jüngst gestorbne Direktor der Athener Nationalbibliothek, heraus¬ gab. Kein Sprachforscher von Fach, konnte er sich auf einen um so höhern sprachphilosophischen Standpunkt stellen und die Hauptvorurteile der gebildeten Griechen gegen ihre Muttersprache, ihre angebliche Verderbung, ihren angeblichen Schaden, ihre angebliche Verschiedenheit und ihre angebliche Armut auf Grund reicher Parallelen aus den modernen europäischen Sprachen glänzend wider¬ legen. Die Schrift trägt im Gegensatz zu der von Psichari den Charakter einer rein objektiv-theoretischen Erörterung und ist auch — wohl aus taktischen Gründen — in der konventionellen Schriftsprache abgefaßt, die der Verfasser indirekt bekämpft.' Hatten Psichari und Noibis bei ihrem Eintreten für die Volkssprache diese immer noch als etwas abgesondertes für sich betrachtet und vorwiegend die grammatisch-philologische Seite der Sache betont, so sind es wiederum zwei Männer gewesen, die die Sprachreform vom literarisch-ästhetischen Standpunkt aus in Angriff genommen und sie damit mehr in den Mittelpunkt des geistigen Lebens gerückt haben; sie wird nun nicht mehr rein verstandesmäßig als eine historische Notwendigkeit sondern gefühlsmüßig als eine Forderung der dichterischen Phantasie aufgefaßt. Hierauf zuerst nachdrücklich hingewiesen zu haben, ist das Verdienst der beiden ersten griechischen Ästhetiker Jcckobos Polylas und Kofels Grenzboten IV 1905 II

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/83>, abgerufen am 15.01.2025.