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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Das neue Griechenland im neuen

Aus dieser historischen Gegenüberstellung folgt für die Griechen zweierlei:
erstens, daß das späte Entbrennen ihres nationalen Kulturkampfes nicht, wie
man wohl getan hat, auf eine besondre geistige Inferiorität zurückgeführt werden
muß, sondern eine durchaus normale historische Erscheinung ist, und zweitens,
daß dasselbe Ergebnis auf beiden Seiten auch dieselbe Ursache haben muß.

Auf die Frage nach den Gründen des späten Beginns der Vulgärliteratur
in Italien hat kürzlich ein Romanist eine durchaus befriedigende Antwort ge¬
geben.*) Er sieht ihn in dem Mangel großer kollektiver Ideen und Gefühle
einerseits und in dem starken Hervortreten der Verstandeskultur auf Kosten von
Gefühl und Phantasie andrerseits. Für den, der die Geistesrichtung der byzan¬
tinischen Zeit erfaßt hat, kann es nicht zweifelhaft sein, daß die hier angegebne
Erklärung auch für das Griechentum gilt und um so mehr gelten muß, je
stärker die Nachwirkungen des Byzantinismus im geistigen Leben eines Volkes
sind, das durch keine Renaissance von seinem Mittelalter getrennt ist.

Aus der geistigen Übereinstimmung des Altitalienertums mit dem Neu¬
griechentum folgt aber drittens endlich noch, daß der Umwälzungsprozeß, worin
sich dieses letzte für den aufmerksamen Beobachter und Kenner seiner innern
Verhältnisse befindet, für Osteuropa dieselbe kulturgeschichtliche Bedeutung hat
wie für den Westen die Emanzipierung Italiens von seiner lateinischen Ver¬
gangenheit: es ist der letzte Akt in der Nationalisierung der sndosteuropäischen
Völker und in ihrer Emanzipierung vom byzantinischen Mittelalter. Darum
darf, von diesem hohen kulturgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet, eine
Übersicht über diesen sich vor unsern Angen vollziehenden Umschwung im
modernen Griechentum um so mehr auf die Teilnahme des historisch Gebildeten
rechnen, als er sich damit ein Stückchen Kulturgeschichte, sei es auch ein noch
so kleines, an einem greifbaren Beispiel aus der Gegenwart vorführen kann.
Denn der Kampf um eine nationale Kultur ist in Griechenland, wenn auch
noch lange nicht abgeschlossen, so doch auf der ganzen Linie entbrannt: auf
dem Boden der Sprache zum Ausbruch gekommen, verbreitete er sich bald über
die Kritik an der Literatur, von da über die an der Gesellschaft und ihrer der
Ausbildung des Nationalbewußtseins feindlichen Bestandteile. An den stärksten
Bollwerken, an Schule, Kirche und Staat, scheinen sich die Wogen des Kampfes
vorerst noch zu brechen; aber die Anzeichen mehren sich, daß man des ewigen
Geredes vom alten Griechenland im neuen herzlich satt ist und sich sehnt nach
dem -- neuen im neuen!

Denn was das neue Griechenland von allen diesen Erscheinungsformen
eines nationalen Organismus bisher aufzuweisen hatte, war nichts weniger als
organisch, sondern schmarotzerhaft erworbner und kokett angehängter Flitterkram:
die Sprache eine Nachahmung der altgriechischen, die Literatur eine Nachahmung
der französischen, die Verfassung eine Nachahmung der belgischen, die Schule
eine Nachahmung der bayrischen; und der Körper, der alle diese Kulturlast
tragen mußte, eine schwer zu definierende Mischung patriarchalischen Balkantums
mit byzantinischem Atavismus und türkischer Indolenz. So etwa sah das Ge-



*) K. Voßler in der Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte, Neue Folge 15, 21 ff.
Das neue Griechenland im neuen

Aus dieser historischen Gegenüberstellung folgt für die Griechen zweierlei:
erstens, daß das späte Entbrennen ihres nationalen Kulturkampfes nicht, wie
man wohl getan hat, auf eine besondre geistige Inferiorität zurückgeführt werden
muß, sondern eine durchaus normale historische Erscheinung ist, und zweitens,
daß dasselbe Ergebnis auf beiden Seiten auch dieselbe Ursache haben muß.

Auf die Frage nach den Gründen des späten Beginns der Vulgärliteratur
in Italien hat kürzlich ein Romanist eine durchaus befriedigende Antwort ge¬
geben.*) Er sieht ihn in dem Mangel großer kollektiver Ideen und Gefühle
einerseits und in dem starken Hervortreten der Verstandeskultur auf Kosten von
Gefühl und Phantasie andrerseits. Für den, der die Geistesrichtung der byzan¬
tinischen Zeit erfaßt hat, kann es nicht zweifelhaft sein, daß die hier angegebne
Erklärung auch für das Griechentum gilt und um so mehr gelten muß, je
stärker die Nachwirkungen des Byzantinismus im geistigen Leben eines Volkes
sind, das durch keine Renaissance von seinem Mittelalter getrennt ist.

Aus der geistigen Übereinstimmung des Altitalienertums mit dem Neu¬
griechentum folgt aber drittens endlich noch, daß der Umwälzungsprozeß, worin
sich dieses letzte für den aufmerksamen Beobachter und Kenner seiner innern
Verhältnisse befindet, für Osteuropa dieselbe kulturgeschichtliche Bedeutung hat
wie für den Westen die Emanzipierung Italiens von seiner lateinischen Ver¬
gangenheit: es ist der letzte Akt in der Nationalisierung der sndosteuropäischen
Völker und in ihrer Emanzipierung vom byzantinischen Mittelalter. Darum
darf, von diesem hohen kulturgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet, eine
Übersicht über diesen sich vor unsern Angen vollziehenden Umschwung im
modernen Griechentum um so mehr auf die Teilnahme des historisch Gebildeten
rechnen, als er sich damit ein Stückchen Kulturgeschichte, sei es auch ein noch
so kleines, an einem greifbaren Beispiel aus der Gegenwart vorführen kann.
Denn der Kampf um eine nationale Kultur ist in Griechenland, wenn auch
noch lange nicht abgeschlossen, so doch auf der ganzen Linie entbrannt: auf
dem Boden der Sprache zum Ausbruch gekommen, verbreitete er sich bald über
die Kritik an der Literatur, von da über die an der Gesellschaft und ihrer der
Ausbildung des Nationalbewußtseins feindlichen Bestandteile. An den stärksten
Bollwerken, an Schule, Kirche und Staat, scheinen sich die Wogen des Kampfes
vorerst noch zu brechen; aber die Anzeichen mehren sich, daß man des ewigen
Geredes vom alten Griechenland im neuen herzlich satt ist und sich sehnt nach
dem — neuen im neuen!

Denn was das neue Griechenland von allen diesen Erscheinungsformen
eines nationalen Organismus bisher aufzuweisen hatte, war nichts weniger als
organisch, sondern schmarotzerhaft erworbner und kokett angehängter Flitterkram:
die Sprache eine Nachahmung der altgriechischen, die Literatur eine Nachahmung
der französischen, die Verfassung eine Nachahmung der belgischen, die Schule
eine Nachahmung der bayrischen; und der Körper, der alle diese Kulturlast
tragen mußte, eine schwer zu definierende Mischung patriarchalischen Balkantums
mit byzantinischem Atavismus und türkischer Indolenz. So etwa sah das Ge-



*) K. Voßler in der Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte, Neue Folge 15, 21 ff.
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[0081] Das neue Griechenland im neuen Aus dieser historischen Gegenüberstellung folgt für die Griechen zweierlei: erstens, daß das späte Entbrennen ihres nationalen Kulturkampfes nicht, wie man wohl getan hat, auf eine besondre geistige Inferiorität zurückgeführt werden muß, sondern eine durchaus normale historische Erscheinung ist, und zweitens, daß dasselbe Ergebnis auf beiden Seiten auch dieselbe Ursache haben muß. Auf die Frage nach den Gründen des späten Beginns der Vulgärliteratur in Italien hat kürzlich ein Romanist eine durchaus befriedigende Antwort ge¬ geben.*) Er sieht ihn in dem Mangel großer kollektiver Ideen und Gefühle einerseits und in dem starken Hervortreten der Verstandeskultur auf Kosten von Gefühl und Phantasie andrerseits. Für den, der die Geistesrichtung der byzan¬ tinischen Zeit erfaßt hat, kann es nicht zweifelhaft sein, daß die hier angegebne Erklärung auch für das Griechentum gilt und um so mehr gelten muß, je stärker die Nachwirkungen des Byzantinismus im geistigen Leben eines Volkes sind, das durch keine Renaissance von seinem Mittelalter getrennt ist. Aus der geistigen Übereinstimmung des Altitalienertums mit dem Neu¬ griechentum folgt aber drittens endlich noch, daß der Umwälzungsprozeß, worin sich dieses letzte für den aufmerksamen Beobachter und Kenner seiner innern Verhältnisse befindet, für Osteuropa dieselbe kulturgeschichtliche Bedeutung hat wie für den Westen die Emanzipierung Italiens von seiner lateinischen Ver¬ gangenheit: es ist der letzte Akt in der Nationalisierung der sndosteuropäischen Völker und in ihrer Emanzipierung vom byzantinischen Mittelalter. Darum darf, von diesem hohen kulturgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet, eine Übersicht über diesen sich vor unsern Angen vollziehenden Umschwung im modernen Griechentum um so mehr auf die Teilnahme des historisch Gebildeten rechnen, als er sich damit ein Stückchen Kulturgeschichte, sei es auch ein noch so kleines, an einem greifbaren Beispiel aus der Gegenwart vorführen kann. Denn der Kampf um eine nationale Kultur ist in Griechenland, wenn auch noch lange nicht abgeschlossen, so doch auf der ganzen Linie entbrannt: auf dem Boden der Sprache zum Ausbruch gekommen, verbreitete er sich bald über die Kritik an der Literatur, von da über die an der Gesellschaft und ihrer der Ausbildung des Nationalbewußtseins feindlichen Bestandteile. An den stärksten Bollwerken, an Schule, Kirche und Staat, scheinen sich die Wogen des Kampfes vorerst noch zu brechen; aber die Anzeichen mehren sich, daß man des ewigen Geredes vom alten Griechenland im neuen herzlich satt ist und sich sehnt nach dem — neuen im neuen! Denn was das neue Griechenland von allen diesen Erscheinungsformen eines nationalen Organismus bisher aufzuweisen hatte, war nichts weniger als organisch, sondern schmarotzerhaft erworbner und kokett angehängter Flitterkram: die Sprache eine Nachahmung der altgriechischen, die Literatur eine Nachahmung der französischen, die Verfassung eine Nachahmung der belgischen, die Schule eine Nachahmung der bayrischen; und der Körper, der alle diese Kulturlast tragen mußte, eine schwer zu definierende Mischung patriarchalischen Balkantums mit byzantinischem Atavismus und türkischer Indolenz. So etwa sah das Ge- *) K. Voßler in der Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte, Neue Folge 15, 21 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/81>, abgerufen am 15.01.2025.