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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Verschwiegen und vertuscht. Rücksichtlos werden die Schäden aufgedeckt. Edeldenkend
suchen einsichtige Köpfe die Verbindung von ihren Sonderinteressen -- gipfeln diese
nun in der Kneiperei und "Kommentreiterei," oder in Geckentum und leerer Phrase,
oder in Unduldsamkeit und damit zusammenhängender religiöser Oberflächlichkeit --
abzulenken und auf das Allgemeine, die ideale Bestimmung zu richten. Und die
wird nicht in einem katholischen "Abschließungssystem" nach außen, sondern in ge¬
meinsamer Arbeit nach innen, in Arbeit an- und füreinander, im Streben nach
geistiger Erweiterung von ihnen gesehen. Daß hinter dem Berge auch uoch Menschen
wohnen, die zwar andre Meinungen, andre Lebensformen haben wie sie, mit denen
sie aber doch Ewigkeitswerte und ideale Ziele verbinden, daß ein allgemeines
Zusammenarbeiten an der vaterländischen Kultur, sogar an der religiösen, möglich
und notwendig ist, ohne daß man seine eigne Art aufgibt, ohne daß man die der
andern verletzt, das einzusehen, das auch mit der Tat durchzuführen, könnte der
katholischen Verbindung erst ihr Existenzrecht gewährleisten. Nur dann auch würden
die Außenstehenden dieses anerkennen können und wirklich anerkennen, würden sie
auch die Bedürfnisse, die für die Eltern wie die Studenten für den religiösen Zu¬
sammenschluß maßgebend sein mögen, gelten lassen. Und alle Teile würden mehr
das Vereinende und Gemeinsame als das Trennende und Gegensätzliche betonen.

Und doch ist dieser Zusammenschluß kein religiöses Allheilmittel. Die Persönlich¬
keiten sind zu verschieden. Wer nicht zum katholischen Zusammenschluß auf der
Universität neigt, bleibe ihm fern. Wer in das Verbinduugsleben hineingeraten
ist, ohne sich in ihm wohl und innerlich frei zu fühlen, wessen Seele es beengt
und an wertvoller Kraftentfaltung hindert, der ist es sich selber schuldig, auszu¬
treten. Nach langem Ringen, aber schweren Herzens -- so steigert sich die innere
Handlung rin steter Notwendigkeit -- sehen wir den, der uns durch die Kompliziert¬
heit seines Wesens am interessantesten erscheint, dem der Autor auch mit besondrer
Liebe nachgegangen ist, den Schritt vollziehn. Wie hat er gerungen, ehe er dahin
kam! Und doch war nicht Nietzsche, der auch ihm eine Zeit lang den Kopf ver¬
dreht hatte, daran schuld. Es scheint, als ob er sich zu Kant hingezogen gefühlt
hätte. Wird er nun dessen hohen, ernsten Begriff der Autonomie der Persönlich¬
keit besser außerhalb als innerhalb der Verbindung an sich auswirken können, sich
zur freien, sittlichen Persönlichkeit heranzubilden vermögen? Die Frage bleibt offen,
und mit Recht! Denn wir sind frei und können, wie Kant sagt, autonom handeln,
wann und wo es auch sei, wenn wir nur wollen. Es ist psychologisch und künstlerisch
sogar ungemein fein entwickelt, daß das Ganze gleichsam mit einer offnen Frage
abschließt. Denn das ist eben eine Frage, die zugleich Antwort ist, weil man, um
sie auch nur stellen zu können, schon den Weg zur innern Freiheit betreten haben
muß, und weil sie bloß dadurch schon, daß sie überhaupt gestellt wird, das Ziel
anzeigt, worin die ganze innere Handlung gipfelt, dem sie zustrebt: die sittliche
Bestimmung der Persönlichkeit, wie sie uns aus dem Ideal jener Freiheit entgegen¬
leuchtet, die das Christentum in die Welt gebracht hat, jener Freiheit, die Luther
uns von neuem aus tiefem religiösem Gefühl heraus geschenkt, und die Kant mit
philosophischer Schärfe als den tiefsten Grund und zugleich als den höchsten Sinn
und Zweck unsers Lebens erwiesen hat.

Für den katholischen Studenten könnte das Buch, wenn er nur wollte, und
auch er kann es, eine Tat bedeuten. Mit wunderbarer Deutlichkeit ist ihm ein
Spiegel seines Seins vorgehalten. Aus dem unmittelbarsten Leben ist hier eine
Erkenntnis seines Wesens geschöpft, die ihm zur Selbsterkenntnis verhelfen könnte.
Plastisch anschaulich treten ihm wohlbekannte Persönlichkeiten gegenüber. Das sind
Menschen, die wir hier sehen -- die Sander, Jnseen, Berkmann, die Studenten;
Merk, der Kaplan; Rohdius, der Privatdozent; der Justizrat von Stein, der ultra¬
montane Abgeordnete; wie sie alle heißen --, es sind Menschen, die wirklich gelebt
haben und noch wirklich leben. Sie können ihm zeigen, wie er selber ist, aber
auch, wie er -- sein sollte! Wie der Katholik, so wird aber auch der Protestant


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Verschwiegen und vertuscht. Rücksichtlos werden die Schäden aufgedeckt. Edeldenkend
suchen einsichtige Köpfe die Verbindung von ihren Sonderinteressen — gipfeln diese
nun in der Kneiperei und „Kommentreiterei," oder in Geckentum und leerer Phrase,
oder in Unduldsamkeit und damit zusammenhängender religiöser Oberflächlichkeit —
abzulenken und auf das Allgemeine, die ideale Bestimmung zu richten. Und die
wird nicht in einem katholischen „Abschließungssystem" nach außen, sondern in ge¬
meinsamer Arbeit nach innen, in Arbeit an- und füreinander, im Streben nach
geistiger Erweiterung von ihnen gesehen. Daß hinter dem Berge auch uoch Menschen
wohnen, die zwar andre Meinungen, andre Lebensformen haben wie sie, mit denen
sie aber doch Ewigkeitswerte und ideale Ziele verbinden, daß ein allgemeines
Zusammenarbeiten an der vaterländischen Kultur, sogar an der religiösen, möglich
und notwendig ist, ohne daß man seine eigne Art aufgibt, ohne daß man die der
andern verletzt, das einzusehen, das auch mit der Tat durchzuführen, könnte der
katholischen Verbindung erst ihr Existenzrecht gewährleisten. Nur dann auch würden
die Außenstehenden dieses anerkennen können und wirklich anerkennen, würden sie
auch die Bedürfnisse, die für die Eltern wie die Studenten für den religiösen Zu¬
sammenschluß maßgebend sein mögen, gelten lassen. Und alle Teile würden mehr
das Vereinende und Gemeinsame als das Trennende und Gegensätzliche betonen.

Und doch ist dieser Zusammenschluß kein religiöses Allheilmittel. Die Persönlich¬
keiten sind zu verschieden. Wer nicht zum katholischen Zusammenschluß auf der
Universität neigt, bleibe ihm fern. Wer in das Verbinduugsleben hineingeraten
ist, ohne sich in ihm wohl und innerlich frei zu fühlen, wessen Seele es beengt
und an wertvoller Kraftentfaltung hindert, der ist es sich selber schuldig, auszu¬
treten. Nach langem Ringen, aber schweren Herzens — so steigert sich die innere
Handlung rin steter Notwendigkeit — sehen wir den, der uns durch die Kompliziert¬
heit seines Wesens am interessantesten erscheint, dem der Autor auch mit besondrer
Liebe nachgegangen ist, den Schritt vollziehn. Wie hat er gerungen, ehe er dahin
kam! Und doch war nicht Nietzsche, der auch ihm eine Zeit lang den Kopf ver¬
dreht hatte, daran schuld. Es scheint, als ob er sich zu Kant hingezogen gefühlt
hätte. Wird er nun dessen hohen, ernsten Begriff der Autonomie der Persönlich¬
keit besser außerhalb als innerhalb der Verbindung an sich auswirken können, sich
zur freien, sittlichen Persönlichkeit heranzubilden vermögen? Die Frage bleibt offen,
und mit Recht! Denn wir sind frei und können, wie Kant sagt, autonom handeln,
wann und wo es auch sei, wenn wir nur wollen. Es ist psychologisch und künstlerisch
sogar ungemein fein entwickelt, daß das Ganze gleichsam mit einer offnen Frage
abschließt. Denn das ist eben eine Frage, die zugleich Antwort ist, weil man, um
sie auch nur stellen zu können, schon den Weg zur innern Freiheit betreten haben
muß, und weil sie bloß dadurch schon, daß sie überhaupt gestellt wird, das Ziel
anzeigt, worin die ganze innere Handlung gipfelt, dem sie zustrebt: die sittliche
Bestimmung der Persönlichkeit, wie sie uns aus dem Ideal jener Freiheit entgegen¬
leuchtet, die das Christentum in die Welt gebracht hat, jener Freiheit, die Luther
uns von neuem aus tiefem religiösem Gefühl heraus geschenkt, und die Kant mit
philosophischer Schärfe als den tiefsten Grund und zugleich als den höchsten Sinn
und Zweck unsers Lebens erwiesen hat.

Für den katholischen Studenten könnte das Buch, wenn er nur wollte, und
auch er kann es, eine Tat bedeuten. Mit wunderbarer Deutlichkeit ist ihm ein
Spiegel seines Seins vorgehalten. Aus dem unmittelbarsten Leben ist hier eine
Erkenntnis seines Wesens geschöpft, die ihm zur Selbsterkenntnis verhelfen könnte.
Plastisch anschaulich treten ihm wohlbekannte Persönlichkeiten gegenüber. Das sind
Menschen, die wir hier sehen — die Sander, Jnseen, Berkmann, die Studenten;
Merk, der Kaplan; Rohdius, der Privatdozent; der Justizrat von Stein, der ultra¬
montane Abgeordnete; wie sie alle heißen —, es sind Menschen, die wirklich gelebt
haben und noch wirklich leben. Sie können ihm zeigen, wie er selber ist, aber
auch, wie er — sein sollte! Wie der Katholik, so wird aber auch der Protestant


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[0572] Maßgebliches und Unmaßgebliches Verschwiegen und vertuscht. Rücksichtlos werden die Schäden aufgedeckt. Edeldenkend suchen einsichtige Köpfe die Verbindung von ihren Sonderinteressen — gipfeln diese nun in der Kneiperei und „Kommentreiterei," oder in Geckentum und leerer Phrase, oder in Unduldsamkeit und damit zusammenhängender religiöser Oberflächlichkeit — abzulenken und auf das Allgemeine, die ideale Bestimmung zu richten. Und die wird nicht in einem katholischen „Abschließungssystem" nach außen, sondern in ge¬ meinsamer Arbeit nach innen, in Arbeit an- und füreinander, im Streben nach geistiger Erweiterung von ihnen gesehen. Daß hinter dem Berge auch uoch Menschen wohnen, die zwar andre Meinungen, andre Lebensformen haben wie sie, mit denen sie aber doch Ewigkeitswerte und ideale Ziele verbinden, daß ein allgemeines Zusammenarbeiten an der vaterländischen Kultur, sogar an der religiösen, möglich und notwendig ist, ohne daß man seine eigne Art aufgibt, ohne daß man die der andern verletzt, das einzusehen, das auch mit der Tat durchzuführen, könnte der katholischen Verbindung erst ihr Existenzrecht gewährleisten. Nur dann auch würden die Außenstehenden dieses anerkennen können und wirklich anerkennen, würden sie auch die Bedürfnisse, die für die Eltern wie die Studenten für den religiösen Zu¬ sammenschluß maßgebend sein mögen, gelten lassen. Und alle Teile würden mehr das Vereinende und Gemeinsame als das Trennende und Gegensätzliche betonen. Und doch ist dieser Zusammenschluß kein religiöses Allheilmittel. Die Persönlich¬ keiten sind zu verschieden. Wer nicht zum katholischen Zusammenschluß auf der Universität neigt, bleibe ihm fern. Wer in das Verbinduugsleben hineingeraten ist, ohne sich in ihm wohl und innerlich frei zu fühlen, wessen Seele es beengt und an wertvoller Kraftentfaltung hindert, der ist es sich selber schuldig, auszu¬ treten. Nach langem Ringen, aber schweren Herzens — so steigert sich die innere Handlung rin steter Notwendigkeit — sehen wir den, der uns durch die Kompliziert¬ heit seines Wesens am interessantesten erscheint, dem der Autor auch mit besondrer Liebe nachgegangen ist, den Schritt vollziehn. Wie hat er gerungen, ehe er dahin kam! Und doch war nicht Nietzsche, der auch ihm eine Zeit lang den Kopf ver¬ dreht hatte, daran schuld. Es scheint, als ob er sich zu Kant hingezogen gefühlt hätte. Wird er nun dessen hohen, ernsten Begriff der Autonomie der Persönlich¬ keit besser außerhalb als innerhalb der Verbindung an sich auswirken können, sich zur freien, sittlichen Persönlichkeit heranzubilden vermögen? Die Frage bleibt offen, und mit Recht! Denn wir sind frei und können, wie Kant sagt, autonom handeln, wann und wo es auch sei, wenn wir nur wollen. Es ist psychologisch und künstlerisch sogar ungemein fein entwickelt, daß das Ganze gleichsam mit einer offnen Frage abschließt. Denn das ist eben eine Frage, die zugleich Antwort ist, weil man, um sie auch nur stellen zu können, schon den Weg zur innern Freiheit betreten haben muß, und weil sie bloß dadurch schon, daß sie überhaupt gestellt wird, das Ziel anzeigt, worin die ganze innere Handlung gipfelt, dem sie zustrebt: die sittliche Bestimmung der Persönlichkeit, wie sie uns aus dem Ideal jener Freiheit entgegen¬ leuchtet, die das Christentum in die Welt gebracht hat, jener Freiheit, die Luther uns von neuem aus tiefem religiösem Gefühl heraus geschenkt, und die Kant mit philosophischer Schärfe als den tiefsten Grund und zugleich als den höchsten Sinn und Zweck unsers Lebens erwiesen hat. Für den katholischen Studenten könnte das Buch, wenn er nur wollte, und auch er kann es, eine Tat bedeuten. Mit wunderbarer Deutlichkeit ist ihm ein Spiegel seines Seins vorgehalten. Aus dem unmittelbarsten Leben ist hier eine Erkenntnis seines Wesens geschöpft, die ihm zur Selbsterkenntnis verhelfen könnte. Plastisch anschaulich treten ihm wohlbekannte Persönlichkeiten gegenüber. Das sind Menschen, die wir hier sehen — die Sander, Jnseen, Berkmann, die Studenten; Merk, der Kaplan; Rohdius, der Privatdozent; der Justizrat von Stein, der ultra¬ montane Abgeordnete; wie sie alle heißen —, es sind Menschen, die wirklich gelebt haben und noch wirklich leben. Sie können ihm zeigen, wie er selber ist, aber auch, wie er — sein sollte! Wie der Katholik, so wird aber auch der Protestant

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/572>, abgerufen am 15.01.2025.