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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Ulosterwesen

Versprochen, daß für sie und ihre verstorbnen Verwandten bis zum jüngsten
Tage Messen gelesen werden würden. Und nnn denke man sich den Seelen-
zustand eines Geistlichen, der täglich Messe liest und sich sagen muß: Ich tue
es nicht aus Frömmigkeit, auch nicht, weil ich zur Abhaltung eines Gottes¬
dienstes verpflichtet wäre, soudern weil ich die sechzig Pfennige täglich oder die
Mark nicht entbehren kann! Vielleicht ist er in den Zustand geraten, den ich
im vorigen Aufsatz augedeutet habe, und muß nun täglich ein Sakrilegium be¬
geh» — um einiger Nickel willen!

Die Messe sollte, wenn auch an eine vollständige Umwälzung der dog¬
matische Anschauungen vorläufig nicht zu denken ist, wenigstens wieder Ge¬
meindegottesdienst werden; zugleich mit dem Geistlichen, der diesen abhält, und
ohne Publikum darf keine Messe gelesen werden. Wünscht ein Teil der Ge¬
meinde, daß an Wochentagen ein Morgengottesdienst abgehalten werde, und
soll dieser die Form einer Messe haben, so mag es geschehen (für Gymnasiasten
ist ein kurzes Gebet mit einem Lied in der Klasse oder in der Aula zweck¬
mäßiger), aber der Geistliche, der sie abhält, soll dafür besoldet werden, und
zwar so, daß er keiner Bettelei bedarf, nicht für jede einzelne Messe ein
„Almosen" annehmen muß. Daß die täglichen Messen zusammen mit andern
Verrichtungen, die besser unterblieben, eine übergroße Zahl von Geistlichen
fordern, von denen viele nicht voll und manche so gut wie gar nicht beschäftigt
sind, davon wird noch die Rede sein,

Weichen wir uns noch einmal zum Zölibat zurück! Wenn ideal gestimmte,
tief religiöse, vou Nächstenliebe brennende Seelen eine große Lebensaufgabe ins
Ange fassen, für deren Erfüllung Familienbande ein Hindernis sein würden,
dann ist er, haben wir gesehen, berechtigt. Da aber große Aufgaben gewöhnlich
nur in Gemeinschaft, von einer Genossenschaft gelöst werden können, so ist
damit zugleich das Kloster gegeben. Die Leser wissen, daß es nicht so ent¬
standen ist, sondern ans der Flucht vor der sündhaften Welt und vor Ver¬
folgung. Sie wissen aber auch, daß sich später im Abendlande die großen
Aufgaben gefunden und einem Sonderlingsleben von zweifelhafter Berechtigung
die volle Berechtigung verliehen haben. Im städtelosen Norden, besonders in
Germanien, sind vom siebenten bis zum elften Jahrhundert neben einigen
bildungshungrigen Fürstenhöfen Klostermauern die einzigen Stätten gewesen,
wo geistiges Leben gepflegt, das Erbe der alten Kultur erhalten, der Keim
einer neue» gezeugt werden konnte. Und vom zwölften bis zum vierzehnten
Jahrhundert haben Zisterzienser und geistliche Ritterorden den slawischen Osten
germanisiert oder wenigstens als Pioniere der Germanisation gewirkt. Mit der
Stiftung neuer Lehr- und Krankenpflegerorden hat sich dam: das Klosterwesen
den Bedürfnissen der neuern Zeit angepaßt, und da die neueste Zeit wieder
Missionare braucht — als Pioniere für Kaufleute und Soldaten in der schwarzen
und in der gelben Welt - , so sind ihr .Klosterbrüder und Schwestern nicht
weniger willkommen als verheiratete evangelische Missionare (unter den eng¬
lischen gibt es auch klösterlich organisierte unverheiratete). Dem Gewissen der
Ordensleute bleibt es überlassen, ihre religiösen Absichten mit den nichts weniger
als religiösen der Politiker und der Händler in Einklang zu bringen, und die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/543>, abgerufen am 25.01.2025.