Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.vom Ägäischen Meere liegt auf der Westseite etwa drei Kilometer südlich von der Nordspitze. In ihr In einem Häuschen dieses Dorfes war es, wo ich am Morgen des 4. Mai Hagiostrati ist ja griechisch und hat unter 1303 Bewohnern nur vier Türken, vom Ägäischen Meere liegt auf der Westseite etwa drei Kilometer südlich von der Nordspitze. In ihr In einem Häuschen dieses Dorfes war es, wo ich am Morgen des 4. Mai Hagiostrati ist ja griechisch und hat unter 1303 Bewohnern nur vier Türken, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0322" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296333"/> <fw type="header" place="top"> vom Ägäischen Meere</fw><lb/> <p xml:id="ID_1873" prev="#ID_1872"> liegt auf der Westseite etwa drei Kilometer südlich von der Nordspitze. In ihr<lb/> landeten wir. Östlich über ihr stand auf dem Ende eines Höhenzuges, der<lb/> etwa auf die Mitte des flachen Strandes zuläuft, die antike Ortschaft. Es ist<lb/> eine Stelle, wie sie die Alten liebten: über der Hafenbucht, an der die Schiffe<lb/> an Land gezogen wurden, über dem Fruchtland an ihr und über den beiden<lb/> Tälern im Norden und Süden, den größten und fruchtbarsten der Insel; „Tene-<lb/> diotis" und „Paradisos" heißen sie heilte. Eine Kapelle des Hagios Minas<lb/> steht da oben; alle Mauerreste sind verschwunden, aber die kleinen Terrassen<lb/> sind übersät mit Scherben von Tongefäßen, und geschnittne Steine und Münzen<lb/> werden besonders nach Regengüssen gesammelt. Was ich sah und mitbrachte,<lb/> beweist, daß die Stätte mindestens seit dem fünften Jahrhundert v. Chr. und<lb/> bis in die spätbyzantinische Zeit bewohnt war. Wahrscheinlich wurde sie erst<lb/> am Ende des vierzehnten Jahrhunderts von türkischen Kosaren wüst gelegt;<lb/> davon nachher. Das heutige Dorf wurde in militärisch viel weniger geeigneter,<lb/> gegen den Nordsturm geschützterer Lage im Jahre 1540 angelegt, wie eine In¬<lb/> schrift in der Holztür der ältesten Kirche angibt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1874"> In einem Häuschen dieses Dorfes war es, wo ich am Morgen des 4. Mai<lb/> erwachte und auf gebrechlicher Veranda unter den Blicken der Dorfbewohner<lb/> bei spärlichem Wasser und eher schmutzig machenden Handtüchern meine Toilette<lb/> vollendete. Wir wohnten beim Papas Georgios; er war im hohen Wuchs<lb/> und Aussehen eine echt griechische Priestergestalt, aber auch darin, daß er vor<lb/> allem auf sein eignes Wohl bedacht war. Er hatte offenbar seinen Amts¬<lb/> bruder ausgestochen, der auch Georgios hieß, ein kleiner freundlicher Herr,<lb/> der sich im Dorfe größerer Sympathien erfreute. Sie waren natürlich spinne¬<lb/> feind; und es war eine Hauptaufgabe ihres Vorgesetzten, ihre gegenseitigen<lb/> Klagen anzuhören und die der Dorfbewohner gegen beide entgegenzunehmen; es<lb/> kam dabei zu Auftritten, die in ihrer Leidenschaftlichkeit hoch dramatisch wirkten;<lb/> und es handelte sich fast ausschließlich — um Geld. Immer wieder schob sich<lb/> ein Mann oder ein Weib durch die Tür, und die alten Frauen zumal fielen<lb/> zuerst auf die Kniee vor dem Despotis, küßten aufgerichtet seine Hand mit dem<lb/> erzbischöflichen Ring, fielen wieder auf die Kniee und erhoben sich dann erst zur<lb/> Verhandlung, in der die entsprechende Achtung oft nicht mehr zu finden war.<lb/> Diese kirchlichen Streitigkeiten, dazu Eifersüchteleien und Kleinlichkeiten — ein<lb/> Schulbau wurde unterbrochen, weil man sich nach wilden Debatten über die<lb/> Form und die Größe der Tür nicht einigen konnte — ersetzen auf dieser Insel<lb/> die politischen Kämpfe.</p><lb/> <p xml:id="ID_1875" next="#ID_1876"> Hagiostrati ist ja griechisch und hat unter 1303 Bewohnern nur vier Türken,<lb/> aber es gehört zum türkischen Reiche, und zwar zum Wilajet „Archipel." Der<lb/> höchste Beamte (Müdüris etwa — Schulze) war ein einäugiger kleiner Türke, der<lb/> noch jeden Namenszug des Sultans küßte, von mir ein Zeugnis über gute<lb/> Führung zu haben wünschte und vom Griechischen wenig mehr als das oft<lb/> gebrauchte „ich danke" kannte. Sein Sekretär, ein Schwarzer aus Nordafrika,<lb/> sprach Griechisch und war mein immer hilfbereiter Begleiter zusammen mit dem<lb/> Polizeimeister, der die vier höchst wenig präsentabeln Saptiehs griechischer Na¬<lb/> tionalität befehligte und Italienisch verstand. Der vierte Türke und Beamte ist</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0322]
vom Ägäischen Meere
liegt auf der Westseite etwa drei Kilometer südlich von der Nordspitze. In ihr
landeten wir. Östlich über ihr stand auf dem Ende eines Höhenzuges, der
etwa auf die Mitte des flachen Strandes zuläuft, die antike Ortschaft. Es ist
eine Stelle, wie sie die Alten liebten: über der Hafenbucht, an der die Schiffe
an Land gezogen wurden, über dem Fruchtland an ihr und über den beiden
Tälern im Norden und Süden, den größten und fruchtbarsten der Insel; „Tene-
diotis" und „Paradisos" heißen sie heilte. Eine Kapelle des Hagios Minas
steht da oben; alle Mauerreste sind verschwunden, aber die kleinen Terrassen
sind übersät mit Scherben von Tongefäßen, und geschnittne Steine und Münzen
werden besonders nach Regengüssen gesammelt. Was ich sah und mitbrachte,
beweist, daß die Stätte mindestens seit dem fünften Jahrhundert v. Chr. und
bis in die spätbyzantinische Zeit bewohnt war. Wahrscheinlich wurde sie erst
am Ende des vierzehnten Jahrhunderts von türkischen Kosaren wüst gelegt;
davon nachher. Das heutige Dorf wurde in militärisch viel weniger geeigneter,
gegen den Nordsturm geschützterer Lage im Jahre 1540 angelegt, wie eine In¬
schrift in der Holztür der ältesten Kirche angibt.
In einem Häuschen dieses Dorfes war es, wo ich am Morgen des 4. Mai
erwachte und auf gebrechlicher Veranda unter den Blicken der Dorfbewohner
bei spärlichem Wasser und eher schmutzig machenden Handtüchern meine Toilette
vollendete. Wir wohnten beim Papas Georgios; er war im hohen Wuchs
und Aussehen eine echt griechische Priestergestalt, aber auch darin, daß er vor
allem auf sein eignes Wohl bedacht war. Er hatte offenbar seinen Amts¬
bruder ausgestochen, der auch Georgios hieß, ein kleiner freundlicher Herr,
der sich im Dorfe größerer Sympathien erfreute. Sie waren natürlich spinne¬
feind; und es war eine Hauptaufgabe ihres Vorgesetzten, ihre gegenseitigen
Klagen anzuhören und die der Dorfbewohner gegen beide entgegenzunehmen; es
kam dabei zu Auftritten, die in ihrer Leidenschaftlichkeit hoch dramatisch wirkten;
und es handelte sich fast ausschließlich — um Geld. Immer wieder schob sich
ein Mann oder ein Weib durch die Tür, und die alten Frauen zumal fielen
zuerst auf die Kniee vor dem Despotis, küßten aufgerichtet seine Hand mit dem
erzbischöflichen Ring, fielen wieder auf die Kniee und erhoben sich dann erst zur
Verhandlung, in der die entsprechende Achtung oft nicht mehr zu finden war.
Diese kirchlichen Streitigkeiten, dazu Eifersüchteleien und Kleinlichkeiten — ein
Schulbau wurde unterbrochen, weil man sich nach wilden Debatten über die
Form und die Größe der Tür nicht einigen konnte — ersetzen auf dieser Insel
die politischen Kämpfe.
Hagiostrati ist ja griechisch und hat unter 1303 Bewohnern nur vier Türken,
aber es gehört zum türkischen Reiche, und zwar zum Wilajet „Archipel." Der
höchste Beamte (Müdüris etwa — Schulze) war ein einäugiger kleiner Türke, der
noch jeden Namenszug des Sultans küßte, von mir ein Zeugnis über gute
Führung zu haben wünschte und vom Griechischen wenig mehr als das oft
gebrauchte „ich danke" kannte. Sein Sekretär, ein Schwarzer aus Nordafrika,
sprach Griechisch und war mein immer hilfbereiter Begleiter zusammen mit dem
Polizeimeister, der die vier höchst wenig präsentabeln Saptiehs griechischer Na¬
tionalität befehligte und Italienisch verstand. Der vierte Türke und Beamte ist
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |