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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Ungarn

wähnung getan worden ist, und man kann sich daraus ein klares Bild vom
ungarischen Wirtschaftsleben entwerfen.

Erst vor wenig Monaten hat bei der Budgetberatung der Handelsminister
Hieronymi ein Klagelied darüber angestimmt, daß im Handel und in der
Industrie Ungarns noch immer kein beachtenswerter Aufschwung zu sehen ist.
Er meinte, es sei sehr unvorteilhaft für das Laud, wenn es nur von der
Landwirtschaft abhänge. Es müsse endlich auch einmal eine nennenswerte
Industrie geschaffen werden, damit das Volk bei Mißernten wie in diesem
Jahre nicht gleich an den Bettelstab gebracht werde, sondern noch auf andre
Art seinen Verdienst finden könne. Landwirtschaft und Industrie könnten sehr
gut nebeneinander bestehn, wie dies doch auch in dem mächtigen Deutsche"
Reiche der Fall sei. Warum sollte das nicht auch in Ungarn gelingen? --
Diese Frage läßt sich freilich nicht so leicht bejahen. Die wirtschaftliche Rück¬
ständigkeit ist ein Erbübel aller rein agrarischen Länder, die wirtschaftliche
Überlegenheit Deutschlands ist in der Stärke der deutschen Industrie begründet,
und der Vorteil Österreichs über Ungarn besteht auch nur noch darin, daß es
industriell stärker ist. An und für sich war also die ungarische Wirtschafts¬
politik der letzten Jahrzehnte, die sich die Schaffung und Stärkung der
ungarischen Industrie zum Ziel setzte, durchaus angebracht. Aber man braucht
nur Umschau zu halten in den jetzigen industriellen Anlagen Ungarns, und
man wird erkennen, daß das ungarische Volk für industrielle Betätiguttg so
gut wie gar keine Anlage und Lust hat. Auch die bestehenden industriellen
Betriebe sind in der Mehrzahl von deutschen Ingenieuren gebaut worden und
stehn unter der Leitung von Deutschen. Die sich Ungarn nennen, sind aus¬
nahmlos ungarische Juden, was bei der fast führenden Rolle, die das Juden¬
tum in Ungarn spielt, uur selbstverständlich ist. Wenn eine industrielle Gründung
im Lande erfolgt, sind es in den meisten Fällen Ausländer, die mit ihrem
fremden Kapital Ungarn die Segnungen der modernen Industrie zuteil werden
lassen. Im ungarischen Volke herrscht eine auffallende Abneigung gegen die
industrielle und die kaufmännische Laufbahn, es fehlt ihm dafür jedes tiefere
Verständnis. Wohl hat der Reichstag wieder dreihundert Millionen Kronen
für das Handelsministerium bewilligt, aber sie werden auch nicht viel nützen,
denn die seit Jahrhunderten bestehende Abneigung der Magyaren gegen den
Betrieb von bürgerlichen Gewerben wird damit nicht überwunden werden, ganz
abgesehen davon, daß die große Summe in der Hauptsache schwerlich in die
rechten Hände kommen wird. Der junge Mann aus besserer Familie will
lieber Advokat werden, damit selbstverständlich auch Politiker und Reichstags¬
abgeordneter, was viel glänzender aussieht und manchem auch Erkleckliches
abwirft. Die Mehrzahl wirft aber bei dieser Laufbahn die Wurst nach der
Speckseite und opfert nur ihr Vermögen.

Das laufende Jahr hat in Ungarn einen unverkennbaren Aufschwung in
Handel und Industrie gezeigt, der auch im Sommer noch angehalten hat.
Dafür wird das Land von einer landwirtschaftlichen Notlage heimgesucht, die es
übrigens mit den übrigen mitteleuropäischen Ländern teilt, infolge des außer¬
ordentlichen Mangels an Regen. Anfang August, also zu einer Zeit, wo sonst


Ungarn

wähnung getan worden ist, und man kann sich daraus ein klares Bild vom
ungarischen Wirtschaftsleben entwerfen.

Erst vor wenig Monaten hat bei der Budgetberatung der Handelsminister
Hieronymi ein Klagelied darüber angestimmt, daß im Handel und in der
Industrie Ungarns noch immer kein beachtenswerter Aufschwung zu sehen ist.
Er meinte, es sei sehr unvorteilhaft für das Laud, wenn es nur von der
Landwirtschaft abhänge. Es müsse endlich auch einmal eine nennenswerte
Industrie geschaffen werden, damit das Volk bei Mißernten wie in diesem
Jahre nicht gleich an den Bettelstab gebracht werde, sondern noch auf andre
Art seinen Verdienst finden könne. Landwirtschaft und Industrie könnten sehr
gut nebeneinander bestehn, wie dies doch auch in dem mächtigen Deutsche»
Reiche der Fall sei. Warum sollte das nicht auch in Ungarn gelingen? —
Diese Frage läßt sich freilich nicht so leicht bejahen. Die wirtschaftliche Rück¬
ständigkeit ist ein Erbübel aller rein agrarischen Länder, die wirtschaftliche
Überlegenheit Deutschlands ist in der Stärke der deutschen Industrie begründet,
und der Vorteil Österreichs über Ungarn besteht auch nur noch darin, daß es
industriell stärker ist. An und für sich war also die ungarische Wirtschafts¬
politik der letzten Jahrzehnte, die sich die Schaffung und Stärkung der
ungarischen Industrie zum Ziel setzte, durchaus angebracht. Aber man braucht
nur Umschau zu halten in den jetzigen industriellen Anlagen Ungarns, und
man wird erkennen, daß das ungarische Volk für industrielle Betätiguttg so
gut wie gar keine Anlage und Lust hat. Auch die bestehenden industriellen
Betriebe sind in der Mehrzahl von deutschen Ingenieuren gebaut worden und
stehn unter der Leitung von Deutschen. Die sich Ungarn nennen, sind aus¬
nahmlos ungarische Juden, was bei der fast führenden Rolle, die das Juden¬
tum in Ungarn spielt, uur selbstverständlich ist. Wenn eine industrielle Gründung
im Lande erfolgt, sind es in den meisten Fällen Ausländer, die mit ihrem
fremden Kapital Ungarn die Segnungen der modernen Industrie zuteil werden
lassen. Im ungarischen Volke herrscht eine auffallende Abneigung gegen die
industrielle und die kaufmännische Laufbahn, es fehlt ihm dafür jedes tiefere
Verständnis. Wohl hat der Reichstag wieder dreihundert Millionen Kronen
für das Handelsministerium bewilligt, aber sie werden auch nicht viel nützen,
denn die seit Jahrhunderten bestehende Abneigung der Magyaren gegen den
Betrieb von bürgerlichen Gewerben wird damit nicht überwunden werden, ganz
abgesehen davon, daß die große Summe in der Hauptsache schwerlich in die
rechten Hände kommen wird. Der junge Mann aus besserer Familie will
lieber Advokat werden, damit selbstverständlich auch Politiker und Reichstags¬
abgeordneter, was viel glänzender aussieht und manchem auch Erkleckliches
abwirft. Die Mehrzahl wirft aber bei dieser Laufbahn die Wurst nach der
Speckseite und opfert nur ihr Vermögen.

Das laufende Jahr hat in Ungarn einen unverkennbaren Aufschwung in
Handel und Industrie gezeigt, der auch im Sommer noch angehalten hat.
Dafür wird das Land von einer landwirtschaftlichen Notlage heimgesucht, die es
übrigens mit den übrigen mitteleuropäischen Ländern teilt, infolge des außer¬
ordentlichen Mangels an Regen. Anfang August, also zu einer Zeit, wo sonst


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[0671] Ungarn wähnung getan worden ist, und man kann sich daraus ein klares Bild vom ungarischen Wirtschaftsleben entwerfen. Erst vor wenig Monaten hat bei der Budgetberatung der Handelsminister Hieronymi ein Klagelied darüber angestimmt, daß im Handel und in der Industrie Ungarns noch immer kein beachtenswerter Aufschwung zu sehen ist. Er meinte, es sei sehr unvorteilhaft für das Laud, wenn es nur von der Landwirtschaft abhänge. Es müsse endlich auch einmal eine nennenswerte Industrie geschaffen werden, damit das Volk bei Mißernten wie in diesem Jahre nicht gleich an den Bettelstab gebracht werde, sondern noch auf andre Art seinen Verdienst finden könne. Landwirtschaft und Industrie könnten sehr gut nebeneinander bestehn, wie dies doch auch in dem mächtigen Deutsche» Reiche der Fall sei. Warum sollte das nicht auch in Ungarn gelingen? — Diese Frage läßt sich freilich nicht so leicht bejahen. Die wirtschaftliche Rück¬ ständigkeit ist ein Erbübel aller rein agrarischen Länder, die wirtschaftliche Überlegenheit Deutschlands ist in der Stärke der deutschen Industrie begründet, und der Vorteil Österreichs über Ungarn besteht auch nur noch darin, daß es industriell stärker ist. An und für sich war also die ungarische Wirtschafts¬ politik der letzten Jahrzehnte, die sich die Schaffung und Stärkung der ungarischen Industrie zum Ziel setzte, durchaus angebracht. Aber man braucht nur Umschau zu halten in den jetzigen industriellen Anlagen Ungarns, und man wird erkennen, daß das ungarische Volk für industrielle Betätiguttg so gut wie gar keine Anlage und Lust hat. Auch die bestehenden industriellen Betriebe sind in der Mehrzahl von deutschen Ingenieuren gebaut worden und stehn unter der Leitung von Deutschen. Die sich Ungarn nennen, sind aus¬ nahmlos ungarische Juden, was bei der fast führenden Rolle, die das Juden¬ tum in Ungarn spielt, uur selbstverständlich ist. Wenn eine industrielle Gründung im Lande erfolgt, sind es in den meisten Fällen Ausländer, die mit ihrem fremden Kapital Ungarn die Segnungen der modernen Industrie zuteil werden lassen. Im ungarischen Volke herrscht eine auffallende Abneigung gegen die industrielle und die kaufmännische Laufbahn, es fehlt ihm dafür jedes tiefere Verständnis. Wohl hat der Reichstag wieder dreihundert Millionen Kronen für das Handelsministerium bewilligt, aber sie werden auch nicht viel nützen, denn die seit Jahrhunderten bestehende Abneigung der Magyaren gegen den Betrieb von bürgerlichen Gewerben wird damit nicht überwunden werden, ganz abgesehen davon, daß die große Summe in der Hauptsache schwerlich in die rechten Hände kommen wird. Der junge Mann aus besserer Familie will lieber Advokat werden, damit selbstverständlich auch Politiker und Reichstags¬ abgeordneter, was viel glänzender aussieht und manchem auch Erkleckliches abwirft. Die Mehrzahl wirft aber bei dieser Laufbahn die Wurst nach der Speckseite und opfert nur ihr Vermögen. Das laufende Jahr hat in Ungarn einen unverkennbaren Aufschwung in Handel und Industrie gezeigt, der auch im Sommer noch angehalten hat. Dafür wird das Land von einer landwirtschaftlichen Notlage heimgesucht, die es übrigens mit den übrigen mitteleuropäischen Ländern teilt, infolge des außer¬ ordentlichen Mangels an Regen. Anfang August, also zu einer Zeit, wo sonst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/671>, abgerufen am 23.07.2024.