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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Aonstantinopolitcmische Reiseerlebnisse

In der Nähe des Schlusses Jeti-Knie führt el" Tor hinaus ins Freie. Draußen
begleitet die Mauer mehr als sechs Kilometer weit ein breiter, staubiger Fahrweg.
Verkehr ist auf ihm so gut wie gar nicht zu spüren. Kaum daß dem einsamen
Wandrer einmal ein dürftiges Eselgefährt oder ein Bauer mit Grünzeug begegnet.
Diese Einsamkeit hat etwas Unheimliches, zumal in dieser Umgebung. Links dehnen
sich endlose düstere Zypressenhaine aus, alte Friedhöfe, auf denen die Krieger ruhen
sollen, die einst bei der Erstürmung der Stadt Allah zu Ehre" ihr Leben gelassen
haben. Zur Rechten aber hat man die alte, einst so stolze Mauer, das ergreifende
Denkmal einer gestürzten Größe. Was nutzte diese doppelte Ringmauer, die hohe
innere und die niedre äußere, was die 120 gewaltigen Türme in jener, die etwa
hundert kleinern in dieser, was der mindestens zehn Meter tiefe, jetzt halb oder
ganz verschüttete Graben mit seiner besondern Brustwehr, was nutzte diese ganze
unüberwindlich scheinende dreifache Verteidigungslinie gegen den wilden Ansturm
des todverachtenden Fanatismus! Es fehlte an Männern, an Kraft, an Mut und
Begeisterung, Byzanz vermochte nur noch ehrenvoll zu fallen. Das bezeugen die
Breschen, die nach der Eroberung zwar geschlossen, dann aber durch Erdbeben
wieder geöffnet wurden, das die über eiuzelue Tore eingemauerten Kanonenkugeln.
Wie eine steinerne Riesenschlange, so läuft die Doppelmauer Hügelauf und hügelab,
scharf hebt sie sich auf der Höhe vor uns vom blauen Himmel ab. In regel¬
mäßigen Abständen steigen die gewaltigen Trutztürme empor in allen möglichen
Formen, vom Viereck bis zum Achteck. Aber fast keiner ist mehr ganz unversehrt,
und an manchen Stellen liegen ihre massigen Trümmer pittoresk übereinander, als
hätten soeben erst die Trompeten von Jericho geblasen. Noch mehr zerfallen als
die innere ist die niedrigere Außenmauer, auf der nur noch 71 Türme stehn,
und von der Brustwehr um Graben, hinter der die Schützen auf dem Erdboden
standen, ist überhaupt nichts mehr zu bemerken. Der Graben selbst ist teilweise
halb verschüttet, teilweise ganz ausgefüllt und in Gärten verwandelt. Das gesamte
schwärzliche Mauerwerk ist vou üppiger Vegetation überwuchert. Sträucher und
Bänme wachsen auf dem Mauerrande und zwischen den Zinnen der Türme und
beseelen mit ihrem frischen Grün die altersgrauen Ruinen. Aus jeder Spalte
drängt sich Gestrüpp, Schlingpflanzen ranken sich klammernd um die losgelösten
Blöcke, und dunkler Efeu überspinnt die breiter" Flächen. Das Leben führt hier
einen langwierigen, stillen, unerbittlichen Kampf gegen die Starrheit des Todes.
In jeden Spalt, in jede Ritze weiß es seine schwellenden Wurzeln zu treiben, und
doch trotzen ihm die toten Ruinen schon so viele Jahrhunderte.

Vor diesen Mauern fühlen wir uns nicht im Stambul des zwanzigsten Jahr¬
hunderts, sondern in dein Byzanz Konstantins und Iustinians. Die Vergangenheit
spricht hier mit steinernen Zungen zu uus, als wäre sie Gegenwart, und wie im
Traume schreiten wir zwischen dem Zypressenwald und dem Nuinenwald weiter in
ernster melancholischer Stimmung, bis wir zu der Stelle der furchtbaren Katastrophe
von 1453 gelangen. Es ist das Tor des heiligen Romanus, von den Türken Top
Kapu, "das Kanonentvr," genannt. Dieses war die schwächste Stelle der Verteidigung.
Gegen sie ließ Mohammed die von dem Ungarn Urbau verfertigte Niesenkcmone
auffahren, die Steinkugelu von dreieinhalb Zentnern Gewicht schoß. Er selbst,
der Sultan, hatte sein Zelt auf dem Hügel dem Tor gegenüber, vou wo er sich
wie ein Raubtier zum tödlichen Sprung vorbereitete. Das kleene Häuflein der
Griechen und der Genuesen kämpfte gegen den furchtbaren Andrang mit dem Mute
der Verzweiflung und warf am 29. Mai zweimal die anstürmenden Janitscharen
zurück. Aber durch eine bei einem Ausfall offengelassene Seitenpforte, die weiter
nördlich am Hebdomonpalciste lag, drang ein Trupp Türken in die Stadt und fiel
den Verteidigern am Top Kapu in den Rücken. Der letzte Kaiser, Konstantin der
Elfte, fiel hier auf der Bresche tapfer kämpfend. Sein Leichnam war so entstellt,
daß er nur an den mit den kaiserlichen Adlern geschmückten Schuhen erkannt wurde,
^.etzt liegt er bei der Wefa-Moschee im Winkel eines von Schuhmachern und Sattlern


Aonstantinopolitcmische Reiseerlebnisse

In der Nähe des Schlusses Jeti-Knie führt el» Tor hinaus ins Freie. Draußen
begleitet die Mauer mehr als sechs Kilometer weit ein breiter, staubiger Fahrweg.
Verkehr ist auf ihm so gut wie gar nicht zu spüren. Kaum daß dem einsamen
Wandrer einmal ein dürftiges Eselgefährt oder ein Bauer mit Grünzeug begegnet.
Diese Einsamkeit hat etwas Unheimliches, zumal in dieser Umgebung. Links dehnen
sich endlose düstere Zypressenhaine aus, alte Friedhöfe, auf denen die Krieger ruhen
sollen, die einst bei der Erstürmung der Stadt Allah zu Ehre» ihr Leben gelassen
haben. Zur Rechten aber hat man die alte, einst so stolze Mauer, das ergreifende
Denkmal einer gestürzten Größe. Was nutzte diese doppelte Ringmauer, die hohe
innere und die niedre äußere, was die 120 gewaltigen Türme in jener, die etwa
hundert kleinern in dieser, was der mindestens zehn Meter tiefe, jetzt halb oder
ganz verschüttete Graben mit seiner besondern Brustwehr, was nutzte diese ganze
unüberwindlich scheinende dreifache Verteidigungslinie gegen den wilden Ansturm
des todverachtenden Fanatismus! Es fehlte an Männern, an Kraft, an Mut und
Begeisterung, Byzanz vermochte nur noch ehrenvoll zu fallen. Das bezeugen die
Breschen, die nach der Eroberung zwar geschlossen, dann aber durch Erdbeben
wieder geöffnet wurden, das die über eiuzelue Tore eingemauerten Kanonenkugeln.
Wie eine steinerne Riesenschlange, so läuft die Doppelmauer Hügelauf und hügelab,
scharf hebt sie sich auf der Höhe vor uns vom blauen Himmel ab. In regel¬
mäßigen Abständen steigen die gewaltigen Trutztürme empor in allen möglichen
Formen, vom Viereck bis zum Achteck. Aber fast keiner ist mehr ganz unversehrt,
und an manchen Stellen liegen ihre massigen Trümmer pittoresk übereinander, als
hätten soeben erst die Trompeten von Jericho geblasen. Noch mehr zerfallen als
die innere ist die niedrigere Außenmauer, auf der nur noch 71 Türme stehn,
und von der Brustwehr um Graben, hinter der die Schützen auf dem Erdboden
standen, ist überhaupt nichts mehr zu bemerken. Der Graben selbst ist teilweise
halb verschüttet, teilweise ganz ausgefüllt und in Gärten verwandelt. Das gesamte
schwärzliche Mauerwerk ist vou üppiger Vegetation überwuchert. Sträucher und
Bänme wachsen auf dem Mauerrande und zwischen den Zinnen der Türme und
beseelen mit ihrem frischen Grün die altersgrauen Ruinen. Aus jeder Spalte
drängt sich Gestrüpp, Schlingpflanzen ranken sich klammernd um die losgelösten
Blöcke, und dunkler Efeu überspinnt die breiter» Flächen. Das Leben führt hier
einen langwierigen, stillen, unerbittlichen Kampf gegen die Starrheit des Todes.
In jeden Spalt, in jede Ritze weiß es seine schwellenden Wurzeln zu treiben, und
doch trotzen ihm die toten Ruinen schon so viele Jahrhunderte.

Vor diesen Mauern fühlen wir uns nicht im Stambul des zwanzigsten Jahr¬
hunderts, sondern in dein Byzanz Konstantins und Iustinians. Die Vergangenheit
spricht hier mit steinernen Zungen zu uus, als wäre sie Gegenwart, und wie im
Traume schreiten wir zwischen dem Zypressenwald und dem Nuinenwald weiter in
ernster melancholischer Stimmung, bis wir zu der Stelle der furchtbaren Katastrophe
von 1453 gelangen. Es ist das Tor des heiligen Romanus, von den Türken Top
Kapu, „das Kanonentvr," genannt. Dieses war die schwächste Stelle der Verteidigung.
Gegen sie ließ Mohammed die von dem Ungarn Urbau verfertigte Niesenkcmone
auffahren, die Steinkugelu von dreieinhalb Zentnern Gewicht schoß. Er selbst,
der Sultan, hatte sein Zelt auf dem Hügel dem Tor gegenüber, vou wo er sich
wie ein Raubtier zum tödlichen Sprung vorbereitete. Das kleene Häuflein der
Griechen und der Genuesen kämpfte gegen den furchtbaren Andrang mit dem Mute
der Verzweiflung und warf am 29. Mai zweimal die anstürmenden Janitscharen
zurück. Aber durch eine bei einem Ausfall offengelassene Seitenpforte, die weiter
nördlich am Hebdomonpalciste lag, drang ein Trupp Türken in die Stadt und fiel
den Verteidigern am Top Kapu in den Rücken. Der letzte Kaiser, Konstantin der
Elfte, fiel hier auf der Bresche tapfer kämpfend. Sein Leichnam war so entstellt,
daß er nur an den mit den kaiserlichen Adlern geschmückten Schuhen erkannt wurde,
^.etzt liegt er bei der Wefa-Moschee im Winkel eines von Schuhmachern und Sattlern


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[0640] Aonstantinopolitcmische Reiseerlebnisse In der Nähe des Schlusses Jeti-Knie führt el» Tor hinaus ins Freie. Draußen begleitet die Mauer mehr als sechs Kilometer weit ein breiter, staubiger Fahrweg. Verkehr ist auf ihm so gut wie gar nicht zu spüren. Kaum daß dem einsamen Wandrer einmal ein dürftiges Eselgefährt oder ein Bauer mit Grünzeug begegnet. Diese Einsamkeit hat etwas Unheimliches, zumal in dieser Umgebung. Links dehnen sich endlose düstere Zypressenhaine aus, alte Friedhöfe, auf denen die Krieger ruhen sollen, die einst bei der Erstürmung der Stadt Allah zu Ehre» ihr Leben gelassen haben. Zur Rechten aber hat man die alte, einst so stolze Mauer, das ergreifende Denkmal einer gestürzten Größe. Was nutzte diese doppelte Ringmauer, die hohe innere und die niedre äußere, was die 120 gewaltigen Türme in jener, die etwa hundert kleinern in dieser, was der mindestens zehn Meter tiefe, jetzt halb oder ganz verschüttete Graben mit seiner besondern Brustwehr, was nutzte diese ganze unüberwindlich scheinende dreifache Verteidigungslinie gegen den wilden Ansturm des todverachtenden Fanatismus! Es fehlte an Männern, an Kraft, an Mut und Begeisterung, Byzanz vermochte nur noch ehrenvoll zu fallen. Das bezeugen die Breschen, die nach der Eroberung zwar geschlossen, dann aber durch Erdbeben wieder geöffnet wurden, das die über eiuzelue Tore eingemauerten Kanonenkugeln. Wie eine steinerne Riesenschlange, so läuft die Doppelmauer Hügelauf und hügelab, scharf hebt sie sich auf der Höhe vor uns vom blauen Himmel ab. In regel¬ mäßigen Abständen steigen die gewaltigen Trutztürme empor in allen möglichen Formen, vom Viereck bis zum Achteck. Aber fast keiner ist mehr ganz unversehrt, und an manchen Stellen liegen ihre massigen Trümmer pittoresk übereinander, als hätten soeben erst die Trompeten von Jericho geblasen. Noch mehr zerfallen als die innere ist die niedrigere Außenmauer, auf der nur noch 71 Türme stehn, und von der Brustwehr um Graben, hinter der die Schützen auf dem Erdboden standen, ist überhaupt nichts mehr zu bemerken. Der Graben selbst ist teilweise halb verschüttet, teilweise ganz ausgefüllt und in Gärten verwandelt. Das gesamte schwärzliche Mauerwerk ist vou üppiger Vegetation überwuchert. Sträucher und Bänme wachsen auf dem Mauerrande und zwischen den Zinnen der Türme und beseelen mit ihrem frischen Grün die altersgrauen Ruinen. Aus jeder Spalte drängt sich Gestrüpp, Schlingpflanzen ranken sich klammernd um die losgelösten Blöcke, und dunkler Efeu überspinnt die breiter» Flächen. Das Leben führt hier einen langwierigen, stillen, unerbittlichen Kampf gegen die Starrheit des Todes. In jeden Spalt, in jede Ritze weiß es seine schwellenden Wurzeln zu treiben, und doch trotzen ihm die toten Ruinen schon so viele Jahrhunderte. Vor diesen Mauern fühlen wir uns nicht im Stambul des zwanzigsten Jahr¬ hunderts, sondern in dein Byzanz Konstantins und Iustinians. Die Vergangenheit spricht hier mit steinernen Zungen zu uus, als wäre sie Gegenwart, und wie im Traume schreiten wir zwischen dem Zypressenwald und dem Nuinenwald weiter in ernster melancholischer Stimmung, bis wir zu der Stelle der furchtbaren Katastrophe von 1453 gelangen. Es ist das Tor des heiligen Romanus, von den Türken Top Kapu, „das Kanonentvr," genannt. Dieses war die schwächste Stelle der Verteidigung. Gegen sie ließ Mohammed die von dem Ungarn Urbau verfertigte Niesenkcmone auffahren, die Steinkugelu von dreieinhalb Zentnern Gewicht schoß. Er selbst, der Sultan, hatte sein Zelt auf dem Hügel dem Tor gegenüber, vou wo er sich wie ein Raubtier zum tödlichen Sprung vorbereitete. Das kleene Häuflein der Griechen und der Genuesen kämpfte gegen den furchtbaren Andrang mit dem Mute der Verzweiflung und warf am 29. Mai zweimal die anstürmenden Janitscharen zurück. Aber durch eine bei einem Ausfall offengelassene Seitenpforte, die weiter nördlich am Hebdomonpalciste lag, drang ein Trupp Türken in die Stadt und fiel den Verteidigern am Top Kapu in den Rücken. Der letzte Kaiser, Konstantin der Elfte, fiel hier auf der Bresche tapfer kämpfend. Sein Leichnam war so entstellt, daß er nur an den mit den kaiserlichen Adlern geschmückten Schuhen erkannt wurde, ^.etzt liegt er bei der Wefa-Moschee im Winkel eines von Schuhmachern und Sattlern

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/640>, abgerufen am 23.07.2024.