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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ansicht verholfen, als gehe Deutschland wegen dieses "Fehlers" des Grafen Posa¬
dowsky in Sack und Asche. Nein, so steht die Sache erfreulicherweise nicht. Es
gibt in Deutschland viele Leute, die von Anfang an bedauert haben, daß eine
Persönlichkeit von dem Rang und den Qualitäten des Grafen Posadowsky, dem
man in Wien nichts Gleichwertiges an die Seite zu setzen hat, überhaupt nach
Wien ging. Noch mehr Leute in Deutschland sahen ihn mit Bedauern die Abreise
von Wien immer von neuem aufschieben, er ist ihnen viel zu lange dort geblieben.
Diese Kritiker sind nun aber reichlich versöhnt durch den Umstand, daß der Reichs¬
kanzler und Graf Posadowsky ihr "bis hierher und nicht weiter" sprachen, Graf
Posadowsky hat dann weitere Verhandlungen abgelehnt und Wien verlassen. Es
sind keineswegs einseitig agrarische Anschauungen gewesen, die den Abbruch herbei¬
geführt haben, auch die Industrie, zumal die sächsische, hat ihren Anteil daran.
Aber wenn es auch vom österreichischen Standpunkt aus begreiflich sein mag. für
die Vieheiufuhr nach Deutschland die weitesten Zugeständnisse zu gewinnen, so sind
es doch keineswegs agrarische Interessen allein, die den Vertreter des Deutschen
Reichs zwangen, die endlich und mühsam unter großen Opfern gewonnene Seuchen¬
reinheit aufrecht zu erhalten. Die Seucheneinschleppungen haben nicht nur die
Agrarier, sondern unser gesamtes Nationalvermögen schwer geschädigt, sie haben an
der Erhöhung der Fleischpreise einen nicht geringen Anteil gehabt. Es ist also
dem Grafen Posadowsky nur Dank zu sagen, wenn er in dieser Frage den Fuß
fest beim Mal hielt, er darf der lebhaftesten Zustimmung der Mehrheit des Reichs¬
tags sicher sein, Die Neue freie Presse bedroht zwar das Deutsche Reich mit dem
Abfall von Sachsen und von Bayern. Man darf da billig die Frage wiederholen, die
Bismarck Anno 1865 den Kölnern stellte: "Wohin wollen Sie denn fallen?"
Etwa nach Österreich? Die Drohung macht sich um so komischer, als Graf Posa¬
dowsky gerade für bayrische und für sächsische Interessen in Wien gefochten hat.

Es ist in der Tat am Platze, darauf hinzuweisen, daß die Haltung eines
Teiles unsrer Presse in diesen letzten Wochen nicht wenig dazu beigetragen hat,
die öffentliche Meinung in Österreich und die Voraussetzungen der dortigen Unter¬
händler in die Sackgasse völlig falscher Anschauungen zu drängen. Gewiß wäre
Graf Posadowsky, nachdem er einmal nach Wien gegangen war, gern mit dem
Vertrag in der Tasche zur Neichstagseröffnung zurückgekehrt. Aber die Wiener
Rechnung, daß er sich mit dem Datum des 29. Novembers in einer Zwangslage
befinde, und "entweder mit dem Schilde oder auf demselben" heimkehren müsse,
war doch irrig: die Rechnung war ohne den Wirt gemacht, und der Wirt war
-- obwohl als Gast in Wien -- der deutsche Staatsmann, der sein Terrain viel zu
gut kannte, als daß er ein so wohl vorbereitetes Gefecht hätte verlieren sollen.
Österreich und Ungarn brauchen die Kaufkraft des Deutschen Reiches mit seiner so
stark anwachsenden Bevölkerung sehr viel mehr, als wir die unsrer lieben Ver¬
bündeten. Deutschland sitzt in diesem Falle am längern Arm des Hebels und kann
warten. Auch die Meinung, daß Österreich schließlich mit eineni Meistbegünstigungs¬
vertrage auskommen könnte, hat sich nicht als stichhaltig erwiesen. Zu einem solchen
gehören gegenseitige Zugeständnisse, und da Österreich-Ungarn uns solche an¬
scheinend nicht machen konnte, so waren die Chancen eines Meistbegünstigungsver¬
trags sicherlich noch geringer als die eines Handelsvertrags. In Österreich domi¬
niert immer noch die Kaunitz-Metternichsche Tradition, den gegnerischen Unterhändler
durch Zähigkeit zu ermüden und aufzureiben. Das hat man namentlich in Ver¬
handlungen mit Preußen und mit Deutschland immer gern getan. Von den Olmützer
und den Dresdner Verhandlungen von 1850 an, an denen Bismarck die österreichische
Superiorität so launig schildert: "Schwarzenberg mit Livreen, Silbergeschirr und
Champagner im ersten Stock, der preußische Minister (Manteuffel) mit Kanzlei¬
dienern und Wassergläsern eine Treppe höher" (G. u. E. I, 76) -- bis zu den
Wiener Besprechungen im Jahre 1879, bei denen sogar Bismarck die von ihm
erstrebte Aufnahme des Bündnisses in die Verfassung der österreichisch-ungarischen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Ansicht verholfen, als gehe Deutschland wegen dieses „Fehlers" des Grafen Posa¬
dowsky in Sack und Asche. Nein, so steht die Sache erfreulicherweise nicht. Es
gibt in Deutschland viele Leute, die von Anfang an bedauert haben, daß eine
Persönlichkeit von dem Rang und den Qualitäten des Grafen Posadowsky, dem
man in Wien nichts Gleichwertiges an die Seite zu setzen hat, überhaupt nach
Wien ging. Noch mehr Leute in Deutschland sahen ihn mit Bedauern die Abreise
von Wien immer von neuem aufschieben, er ist ihnen viel zu lange dort geblieben.
Diese Kritiker sind nun aber reichlich versöhnt durch den Umstand, daß der Reichs¬
kanzler und Graf Posadowsky ihr „bis hierher und nicht weiter" sprachen, Graf
Posadowsky hat dann weitere Verhandlungen abgelehnt und Wien verlassen. Es
sind keineswegs einseitig agrarische Anschauungen gewesen, die den Abbruch herbei¬
geführt haben, auch die Industrie, zumal die sächsische, hat ihren Anteil daran.
Aber wenn es auch vom österreichischen Standpunkt aus begreiflich sein mag. für
die Vieheiufuhr nach Deutschland die weitesten Zugeständnisse zu gewinnen, so sind
es doch keineswegs agrarische Interessen allein, die den Vertreter des Deutschen
Reichs zwangen, die endlich und mühsam unter großen Opfern gewonnene Seuchen¬
reinheit aufrecht zu erhalten. Die Seucheneinschleppungen haben nicht nur die
Agrarier, sondern unser gesamtes Nationalvermögen schwer geschädigt, sie haben an
der Erhöhung der Fleischpreise einen nicht geringen Anteil gehabt. Es ist also
dem Grafen Posadowsky nur Dank zu sagen, wenn er in dieser Frage den Fuß
fest beim Mal hielt, er darf der lebhaftesten Zustimmung der Mehrheit des Reichs¬
tags sicher sein, Die Neue freie Presse bedroht zwar das Deutsche Reich mit dem
Abfall von Sachsen und von Bayern. Man darf da billig die Frage wiederholen, die
Bismarck Anno 1865 den Kölnern stellte: „Wohin wollen Sie denn fallen?"
Etwa nach Österreich? Die Drohung macht sich um so komischer, als Graf Posa¬
dowsky gerade für bayrische und für sächsische Interessen in Wien gefochten hat.

Es ist in der Tat am Platze, darauf hinzuweisen, daß die Haltung eines
Teiles unsrer Presse in diesen letzten Wochen nicht wenig dazu beigetragen hat,
die öffentliche Meinung in Österreich und die Voraussetzungen der dortigen Unter¬
händler in die Sackgasse völlig falscher Anschauungen zu drängen. Gewiß wäre
Graf Posadowsky, nachdem er einmal nach Wien gegangen war, gern mit dem
Vertrag in der Tasche zur Neichstagseröffnung zurückgekehrt. Aber die Wiener
Rechnung, daß er sich mit dem Datum des 29. Novembers in einer Zwangslage
befinde, und „entweder mit dem Schilde oder auf demselben" heimkehren müsse,
war doch irrig: die Rechnung war ohne den Wirt gemacht, und der Wirt war
— obwohl als Gast in Wien — der deutsche Staatsmann, der sein Terrain viel zu
gut kannte, als daß er ein so wohl vorbereitetes Gefecht hätte verlieren sollen.
Österreich und Ungarn brauchen die Kaufkraft des Deutschen Reiches mit seiner so
stark anwachsenden Bevölkerung sehr viel mehr, als wir die unsrer lieben Ver¬
bündeten. Deutschland sitzt in diesem Falle am längern Arm des Hebels und kann
warten. Auch die Meinung, daß Österreich schließlich mit eineni Meistbegünstigungs¬
vertrage auskommen könnte, hat sich nicht als stichhaltig erwiesen. Zu einem solchen
gehören gegenseitige Zugeständnisse, und da Österreich-Ungarn uns solche an¬
scheinend nicht machen konnte, so waren die Chancen eines Meistbegünstigungsver¬
trags sicherlich noch geringer als die eines Handelsvertrags. In Österreich domi¬
niert immer noch die Kaunitz-Metternichsche Tradition, den gegnerischen Unterhändler
durch Zähigkeit zu ermüden und aufzureiben. Das hat man namentlich in Ver¬
handlungen mit Preußen und mit Deutschland immer gern getan. Von den Olmützer
und den Dresdner Verhandlungen von 1850 an, an denen Bismarck die österreichische
Superiorität so launig schildert: „Schwarzenberg mit Livreen, Silbergeschirr und
Champagner im ersten Stock, der preußische Minister (Manteuffel) mit Kanzlei¬
dienern und Wassergläsern eine Treppe höher" (G. u. E. I, 76) — bis zu den
Wiener Besprechungen im Jahre 1879, bei denen sogar Bismarck die von ihm
erstrebte Aufnahme des Bündnisses in die Verfassung der österreichisch-ungarischen


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[0593] Maßgebliches und Unmaßgebliches Ansicht verholfen, als gehe Deutschland wegen dieses „Fehlers" des Grafen Posa¬ dowsky in Sack und Asche. Nein, so steht die Sache erfreulicherweise nicht. Es gibt in Deutschland viele Leute, die von Anfang an bedauert haben, daß eine Persönlichkeit von dem Rang und den Qualitäten des Grafen Posadowsky, dem man in Wien nichts Gleichwertiges an die Seite zu setzen hat, überhaupt nach Wien ging. Noch mehr Leute in Deutschland sahen ihn mit Bedauern die Abreise von Wien immer von neuem aufschieben, er ist ihnen viel zu lange dort geblieben. Diese Kritiker sind nun aber reichlich versöhnt durch den Umstand, daß der Reichs¬ kanzler und Graf Posadowsky ihr „bis hierher und nicht weiter" sprachen, Graf Posadowsky hat dann weitere Verhandlungen abgelehnt und Wien verlassen. Es sind keineswegs einseitig agrarische Anschauungen gewesen, die den Abbruch herbei¬ geführt haben, auch die Industrie, zumal die sächsische, hat ihren Anteil daran. Aber wenn es auch vom österreichischen Standpunkt aus begreiflich sein mag. für die Vieheiufuhr nach Deutschland die weitesten Zugeständnisse zu gewinnen, so sind es doch keineswegs agrarische Interessen allein, die den Vertreter des Deutschen Reichs zwangen, die endlich und mühsam unter großen Opfern gewonnene Seuchen¬ reinheit aufrecht zu erhalten. Die Seucheneinschleppungen haben nicht nur die Agrarier, sondern unser gesamtes Nationalvermögen schwer geschädigt, sie haben an der Erhöhung der Fleischpreise einen nicht geringen Anteil gehabt. Es ist also dem Grafen Posadowsky nur Dank zu sagen, wenn er in dieser Frage den Fuß fest beim Mal hielt, er darf der lebhaftesten Zustimmung der Mehrheit des Reichs¬ tags sicher sein, Die Neue freie Presse bedroht zwar das Deutsche Reich mit dem Abfall von Sachsen und von Bayern. Man darf da billig die Frage wiederholen, die Bismarck Anno 1865 den Kölnern stellte: „Wohin wollen Sie denn fallen?" Etwa nach Österreich? Die Drohung macht sich um so komischer, als Graf Posa¬ dowsky gerade für bayrische und für sächsische Interessen in Wien gefochten hat. Es ist in der Tat am Platze, darauf hinzuweisen, daß die Haltung eines Teiles unsrer Presse in diesen letzten Wochen nicht wenig dazu beigetragen hat, die öffentliche Meinung in Österreich und die Voraussetzungen der dortigen Unter¬ händler in die Sackgasse völlig falscher Anschauungen zu drängen. Gewiß wäre Graf Posadowsky, nachdem er einmal nach Wien gegangen war, gern mit dem Vertrag in der Tasche zur Neichstagseröffnung zurückgekehrt. Aber die Wiener Rechnung, daß er sich mit dem Datum des 29. Novembers in einer Zwangslage befinde, und „entweder mit dem Schilde oder auf demselben" heimkehren müsse, war doch irrig: die Rechnung war ohne den Wirt gemacht, und der Wirt war — obwohl als Gast in Wien — der deutsche Staatsmann, der sein Terrain viel zu gut kannte, als daß er ein so wohl vorbereitetes Gefecht hätte verlieren sollen. Österreich und Ungarn brauchen die Kaufkraft des Deutschen Reiches mit seiner so stark anwachsenden Bevölkerung sehr viel mehr, als wir die unsrer lieben Ver¬ bündeten. Deutschland sitzt in diesem Falle am längern Arm des Hebels und kann warten. Auch die Meinung, daß Österreich schließlich mit eineni Meistbegünstigungs¬ vertrage auskommen könnte, hat sich nicht als stichhaltig erwiesen. Zu einem solchen gehören gegenseitige Zugeständnisse, und da Österreich-Ungarn uns solche an¬ scheinend nicht machen konnte, so waren die Chancen eines Meistbegünstigungsver¬ trags sicherlich noch geringer als die eines Handelsvertrags. In Österreich domi¬ niert immer noch die Kaunitz-Metternichsche Tradition, den gegnerischen Unterhändler durch Zähigkeit zu ermüden und aufzureiben. Das hat man namentlich in Ver¬ handlungen mit Preußen und mit Deutschland immer gern getan. Von den Olmützer und den Dresdner Verhandlungen von 1850 an, an denen Bismarck die österreichische Superiorität so launig schildert: „Schwarzenberg mit Livreen, Silbergeschirr und Champagner im ersten Stock, der preußische Minister (Manteuffel) mit Kanzlei¬ dienern und Wassergläsern eine Treppe höher" (G. u. E. I, 76) — bis zu den Wiener Besprechungen im Jahre 1879, bei denen sogar Bismarck die von ihm erstrebte Aufnahme des Bündnisses in die Verfassung der österreichisch-ungarischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/593>, abgerufen am 23.07.2024.