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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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von alten Büchern

War sie früher gesitteter? Die Polemik, die Faust und Werther hervor¬
riefen, die Travestien der klassischen Dramen lassen fast daran zweifeln.
Jedenfalls war sie produktiver. Es sind jetzt fünfzig Jahre her. daß Eichrodt
seine "Lyrischen Karikaturen" dichtete. Das kleine Büchlein mit seinem feinen
unaufdringlichen Humor wird wenig mehr gelesen, nur sein wackrer "Bieder-
maier" lebt noch fort. Seitdem ist außer "Der Tragödie Faust dritten Teil"
von Bischer und Mauthners zwei Novellenbündchen "Nach berühmten Mustern"
(die wohl nach dem berühmten Muster von Bret Hartes vonäenssÄ Aovsls
gearbeitet sind) von Parodien wenig zutage gekommen. Heute sagt der Kritiker:
NsWisurs, siÄs disn, in-us,js us obants pas. Aber vordem fehlte es im
deutschen Dichterwald nicht an lustigen Spottdrosseln, deren übermütigen Lied¬
lein man oft lieber zuhörte als den Weisen der verspotteten Sänger. Die
schwungvollen Parabasen der Verhängnisvollen Gabel zitiert mancher, der von
den parodierten Schicksalsdramen nie eine Zeile gelesen hat, Platens Roman¬
tischer Ödipus bewahrt Immermanns Trauerspiele vor der Vergessenheit.
Hauffs "Mann im Mond," das Spiegelbild der Claurenschen Romane, wurde,
besonders in Süddeutschland, noch gelesen, als den naiven Mimilis niemand
mehr nachfragte. Und wer auf Erden wüßte noch etwas von Ernst Philippi
und von dem Magister Sivers, hätte nicht die satirische Kritik ihre Namen
der Nachwelt überliefert.




Es war zu der Zeit, als die deutsche Literatur unter der Herrschaft
Gottscheds stand, als in der Kirche Pietisten und Orthodoxe einander be¬
fehdeten, da predigten in Lübeck zwei junge Gottesgelehrte, der rsv. oancl.
Backmeister und Herr Magister Sivers, des Kantors ehrgeiziger Sohn. Der
war eben von der Universität nach Hause gekommen, hatte sein bißchen Schul¬
weisheit noch hübsch beisammen und war nicht gewillt, das gelehrte Rüstzeug
einrosten zu lassen. Er brachte seinen ganzen Schulsack mit auf die Kanzel,
trug der Gemeinde allsonntäglich theologische Streitfragen vor und warnte die
Spittelweibchen und Pfründnerinnen vom Se. Annenkloster vor den gefähr¬
lichen Irrlehren der Gnostiker und Aphtardozeten, der Marcioniten und
Euthychianer. Dabei hatte er wie Lessings "Junger Gelehrter" mit zwanzig
Jahren schon "hundert kleine Bücherchen" geschrieben und sandte gewissenhaft
jedes Wort, das er drucken ließ, allen gelehrten Gesellschaften zu.

Herr Lukas Backmeister hatte seinen Sinn nicht auf so hohe Dinge ge¬
richtet. Er wandelte durch die Straßen der alten Hansastadt mit nieder¬
geschlagnen Augen und sittsamen Gebärden und war froh, wenn er aus Gottes
Wort und einer alten Postille seine Predigt schlecht und recht zusammen¬
getragen und sie bis zum Sonntag mühsam und fleißig auswendig ge¬
lernt hatte.

Wie mußten da die Lübecker erstaunen, als unter dem Namen dieses
harmlosen, furchtsamen Jünglings eine scharfe Satire gegen seinen geistlichen
Mitbruder zum Vorschein kam! Es war freilich nicht das erstemal, daß dem
so übles widerfuhr. Zu seiner "Geschichte der Zerstörung Jerusalems" waren


von alten Büchern

War sie früher gesitteter? Die Polemik, die Faust und Werther hervor¬
riefen, die Travestien der klassischen Dramen lassen fast daran zweifeln.
Jedenfalls war sie produktiver. Es sind jetzt fünfzig Jahre her. daß Eichrodt
seine „Lyrischen Karikaturen" dichtete. Das kleine Büchlein mit seinem feinen
unaufdringlichen Humor wird wenig mehr gelesen, nur sein wackrer „Bieder-
maier" lebt noch fort. Seitdem ist außer „Der Tragödie Faust dritten Teil"
von Bischer und Mauthners zwei Novellenbündchen „Nach berühmten Mustern"
(die wohl nach dem berühmten Muster von Bret Hartes vonäenssÄ Aovsls
gearbeitet sind) von Parodien wenig zutage gekommen. Heute sagt der Kritiker:
NsWisurs, siÄs disn, in-us,js us obants pas. Aber vordem fehlte es im
deutschen Dichterwald nicht an lustigen Spottdrosseln, deren übermütigen Lied¬
lein man oft lieber zuhörte als den Weisen der verspotteten Sänger. Die
schwungvollen Parabasen der Verhängnisvollen Gabel zitiert mancher, der von
den parodierten Schicksalsdramen nie eine Zeile gelesen hat, Platens Roman¬
tischer Ödipus bewahrt Immermanns Trauerspiele vor der Vergessenheit.
Hauffs „Mann im Mond," das Spiegelbild der Claurenschen Romane, wurde,
besonders in Süddeutschland, noch gelesen, als den naiven Mimilis niemand
mehr nachfragte. Und wer auf Erden wüßte noch etwas von Ernst Philippi
und von dem Magister Sivers, hätte nicht die satirische Kritik ihre Namen
der Nachwelt überliefert.




Es war zu der Zeit, als die deutsche Literatur unter der Herrschaft
Gottscheds stand, als in der Kirche Pietisten und Orthodoxe einander be¬
fehdeten, da predigten in Lübeck zwei junge Gottesgelehrte, der rsv. oancl.
Backmeister und Herr Magister Sivers, des Kantors ehrgeiziger Sohn. Der
war eben von der Universität nach Hause gekommen, hatte sein bißchen Schul¬
weisheit noch hübsch beisammen und war nicht gewillt, das gelehrte Rüstzeug
einrosten zu lassen. Er brachte seinen ganzen Schulsack mit auf die Kanzel,
trug der Gemeinde allsonntäglich theologische Streitfragen vor und warnte die
Spittelweibchen und Pfründnerinnen vom Se. Annenkloster vor den gefähr¬
lichen Irrlehren der Gnostiker und Aphtardozeten, der Marcioniten und
Euthychianer. Dabei hatte er wie Lessings „Junger Gelehrter" mit zwanzig
Jahren schon „hundert kleine Bücherchen" geschrieben und sandte gewissenhaft
jedes Wort, das er drucken ließ, allen gelehrten Gesellschaften zu.

Herr Lukas Backmeister hatte seinen Sinn nicht auf so hohe Dinge ge¬
richtet. Er wandelte durch die Straßen der alten Hansastadt mit nieder¬
geschlagnen Augen und sittsamen Gebärden und war froh, wenn er aus Gottes
Wort und einer alten Postille seine Predigt schlecht und recht zusammen¬
getragen und sie bis zum Sonntag mühsam und fleißig auswendig ge¬
lernt hatte.

Wie mußten da die Lübecker erstaunen, als unter dem Namen dieses
harmlosen, furchtsamen Jünglings eine scharfe Satire gegen seinen geistlichen
Mitbruder zum Vorschein kam! Es war freilich nicht das erstemal, daß dem
so übles widerfuhr. Zu seiner „Geschichte der Zerstörung Jerusalems" waren


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[0447] von alten Büchern War sie früher gesitteter? Die Polemik, die Faust und Werther hervor¬ riefen, die Travestien der klassischen Dramen lassen fast daran zweifeln. Jedenfalls war sie produktiver. Es sind jetzt fünfzig Jahre her. daß Eichrodt seine „Lyrischen Karikaturen" dichtete. Das kleine Büchlein mit seinem feinen unaufdringlichen Humor wird wenig mehr gelesen, nur sein wackrer „Bieder- maier" lebt noch fort. Seitdem ist außer „Der Tragödie Faust dritten Teil" von Bischer und Mauthners zwei Novellenbündchen „Nach berühmten Mustern" (die wohl nach dem berühmten Muster von Bret Hartes vonäenssÄ Aovsls gearbeitet sind) von Parodien wenig zutage gekommen. Heute sagt der Kritiker: NsWisurs, siÄs disn, in-us,js us obants pas. Aber vordem fehlte es im deutschen Dichterwald nicht an lustigen Spottdrosseln, deren übermütigen Lied¬ lein man oft lieber zuhörte als den Weisen der verspotteten Sänger. Die schwungvollen Parabasen der Verhängnisvollen Gabel zitiert mancher, der von den parodierten Schicksalsdramen nie eine Zeile gelesen hat, Platens Roman¬ tischer Ödipus bewahrt Immermanns Trauerspiele vor der Vergessenheit. Hauffs „Mann im Mond," das Spiegelbild der Claurenschen Romane, wurde, besonders in Süddeutschland, noch gelesen, als den naiven Mimilis niemand mehr nachfragte. Und wer auf Erden wüßte noch etwas von Ernst Philippi und von dem Magister Sivers, hätte nicht die satirische Kritik ihre Namen der Nachwelt überliefert. Es war zu der Zeit, als die deutsche Literatur unter der Herrschaft Gottscheds stand, als in der Kirche Pietisten und Orthodoxe einander be¬ fehdeten, da predigten in Lübeck zwei junge Gottesgelehrte, der rsv. oancl. Backmeister und Herr Magister Sivers, des Kantors ehrgeiziger Sohn. Der war eben von der Universität nach Hause gekommen, hatte sein bißchen Schul¬ weisheit noch hübsch beisammen und war nicht gewillt, das gelehrte Rüstzeug einrosten zu lassen. Er brachte seinen ganzen Schulsack mit auf die Kanzel, trug der Gemeinde allsonntäglich theologische Streitfragen vor und warnte die Spittelweibchen und Pfründnerinnen vom Se. Annenkloster vor den gefähr¬ lichen Irrlehren der Gnostiker und Aphtardozeten, der Marcioniten und Euthychianer. Dabei hatte er wie Lessings „Junger Gelehrter" mit zwanzig Jahren schon „hundert kleine Bücherchen" geschrieben und sandte gewissenhaft jedes Wort, das er drucken ließ, allen gelehrten Gesellschaften zu. Herr Lukas Backmeister hatte seinen Sinn nicht auf so hohe Dinge ge¬ richtet. Er wandelte durch die Straßen der alten Hansastadt mit nieder¬ geschlagnen Augen und sittsamen Gebärden und war froh, wenn er aus Gottes Wort und einer alten Postille seine Predigt schlecht und recht zusammen¬ getragen und sie bis zum Sonntag mühsam und fleißig auswendig ge¬ lernt hatte. Wie mußten da die Lübecker erstaunen, als unter dem Namen dieses harmlosen, furchtsamen Jünglings eine scharfe Satire gegen seinen geistlichen Mitbruder zum Vorschein kam! Es war freilich nicht das erstemal, daß dem so übles widerfuhr. Zu seiner „Geschichte der Zerstörung Jerusalems" waren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/447>, abgerufen am 29.09.2024.