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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Die Damen auf Marl'by

Julie steckte unbemerkt ihr Taschentuch ein, indem sie ans der Fensternische trat.

Gute Nacht, Robert, sagte sie, fast ohne aufzusehen. Vergiß nicht, Gerda von
mir zu grüßen.

Eine merkwürdig matte Stimmung legte sich über das Zimmer, als der Rechts¬
anwalt schließlich mit seinen Verbeugungen fertig geworden war, und Elu den
Flügel verließ.--

Wir müssen wohl bald den Wagen bestellen, Julie? Olga behandelte ihre
Stieftochter immer demonstrativ als das Oberhaupt der Familie -- sie, die Erbin,
die Besitzerin von Groß-Markby.--

Ja, wenn Tante Albertine auch der Meinung ist, dann nicht wahr, Arvid?
wandte sie sich an ihren Bräutigam.

Arvid tadelte eben eine Klavierbegleitung, die Elu gespielt hatte, gab dann
aber zu, daß möglicherweise auch der Komponist selbst schuld sein könne, und so
hörte er nicht sogleich, was Julie gesagt hatte.

Den Wagen, ja natürlich, wenn du es wünschest! Aber er blieb stehn und
sah Elu forschend in die wie Phosphor leuchtenden, unbeschatteten Augen, während
er weiter sprach. Mit Herzklopfen fiel es Elu ans, wie eigentümlich feurig, fast
hungrig sein dunkler Blick manchmal sein konnte.

Ja, sagte Elu, nachdem das Gespräch eine andre Richtung genommen hatte,
ich müßte eigentlich meine Arme massieren lassen.

Auf einem niedrigen Schemel vor dem Kamin hockend, strich sie bekümmert
über ihren engen grünen Cheviotärmel. Ich merke, daß es sie schrecklich angreift,
so viel zu spielen.

Zögernd glitt sein Blick einen Augenblick über das leuchtende Haargcwoge,
aus dem ein durchsichtiges Ohr hervorsnh, und folgte dem weichen Schatten am
Halse und unter dem Kinn. Dann sagte er, indem er seiner Nase entlang den Blick
langsam auf seinen gewichsten Schnurrbart senkte, den er geistesabwesend und nervös
immerfort drehte:

Ja, wenn sich niemand tüchtigeres und kein geübterer Masseur findet -- er
verbeugte sich halb --, wäre es ja nicht unmöglich, daß ich, der ich ja auch
das Zentralinstitut durchgemacht habe . . .

Nein, das hieße Ihre Liebenswürdigkeit doch mißbrauchen! murmelte Elu
schüchtern abwehrend. Sie dachte nicht genauer darüber nach, woher es eigentlich
kommen könnte, daß sein liebenswürdiger Vorschlag, den jedermann hätte mit an¬
hören können, sie in eine so tödliche Verlegenheit brachte; aber das wußte sie, daß
sie nie, nein niemals, und wenn der elende Arm noch so schlimm werden sollte,
ihre Zuflucht zu ihm nehmen würde . . . obgleich es dumm war, Herzklopfen zu
bekommen und krebsrot zu werden, weil er, der Verlobte Mensch! in° aller Freund¬
lichkeit einen Dienst anbot, den jeder Arzt oder examinierte Masseur im ganzen
Lande um zwei Kronen die Stunde leisten konnte, ohne daß es ihre Ehrbarkeit
im geringsten zu genieren brauchte! Nein er nicht!

Sie schaute auf -- etwas von der Seite -- scheu und merkwürdig unsicher --
und ihre Blicke trafen sich in dem flackernden Feuerschein. Da wandte er schnell
die Augen ab, und glühend rot beugte er sich tief über den Kamin.

Verzeihen Sie! sagte er leise. In dem Augenblick, wo sich ihre Augen trafen,
hatte das eine gewußt, was das andre dachte, es eben so deutlich gewußt, als ob
sie es einander gesagt hätten. Und im nächsten Augenblick war er wütend über
seine dummen Worte.

Elu stand auf; sie meinte vor Scham in den Boden sinken zu müssen.
Warum konnte er denn nicht schweigen? Sie hätte, gleich nachdem sie seine Worte
vernommen hatte, auf den Boden stampfen können, um ihn zum Schweigen zu
bringen. Vorher -- war es nichts gewesen -- er hatte ja nicht ein Wort ge¬
sagt, das nicht alle Anwesenden hätten hören dürfen. Jetzt -- erst jetzt wurde es
zu etwas -- zu etwas mehr, zu etwas ganz anderen!


Grenzboten IV 1904 46
Die Damen auf Marl'by

Julie steckte unbemerkt ihr Taschentuch ein, indem sie ans der Fensternische trat.

Gute Nacht, Robert, sagte sie, fast ohne aufzusehen. Vergiß nicht, Gerda von
mir zu grüßen.

Eine merkwürdig matte Stimmung legte sich über das Zimmer, als der Rechts¬
anwalt schließlich mit seinen Verbeugungen fertig geworden war, und Elu den
Flügel verließ.—

Wir müssen wohl bald den Wagen bestellen, Julie? Olga behandelte ihre
Stieftochter immer demonstrativ als das Oberhaupt der Familie — sie, die Erbin,
die Besitzerin von Groß-Markby.—

Ja, wenn Tante Albertine auch der Meinung ist, dann nicht wahr, Arvid?
wandte sie sich an ihren Bräutigam.

Arvid tadelte eben eine Klavierbegleitung, die Elu gespielt hatte, gab dann
aber zu, daß möglicherweise auch der Komponist selbst schuld sein könne, und so
hörte er nicht sogleich, was Julie gesagt hatte.

Den Wagen, ja natürlich, wenn du es wünschest! Aber er blieb stehn und
sah Elu forschend in die wie Phosphor leuchtenden, unbeschatteten Augen, während
er weiter sprach. Mit Herzklopfen fiel es Elu ans, wie eigentümlich feurig, fast
hungrig sein dunkler Blick manchmal sein konnte.

Ja, sagte Elu, nachdem das Gespräch eine andre Richtung genommen hatte,
ich müßte eigentlich meine Arme massieren lassen.

Auf einem niedrigen Schemel vor dem Kamin hockend, strich sie bekümmert
über ihren engen grünen Cheviotärmel. Ich merke, daß es sie schrecklich angreift,
so viel zu spielen.

Zögernd glitt sein Blick einen Augenblick über das leuchtende Haargcwoge,
aus dem ein durchsichtiges Ohr hervorsnh, und folgte dem weichen Schatten am
Halse und unter dem Kinn. Dann sagte er, indem er seiner Nase entlang den Blick
langsam auf seinen gewichsten Schnurrbart senkte, den er geistesabwesend und nervös
immerfort drehte:

Ja, wenn sich niemand tüchtigeres und kein geübterer Masseur findet — er
verbeugte sich halb —, wäre es ja nicht unmöglich, daß ich, der ich ja auch
das Zentralinstitut durchgemacht habe . . .

Nein, das hieße Ihre Liebenswürdigkeit doch mißbrauchen! murmelte Elu
schüchtern abwehrend. Sie dachte nicht genauer darüber nach, woher es eigentlich
kommen könnte, daß sein liebenswürdiger Vorschlag, den jedermann hätte mit an¬
hören können, sie in eine so tödliche Verlegenheit brachte; aber das wußte sie, daß
sie nie, nein niemals, und wenn der elende Arm noch so schlimm werden sollte,
ihre Zuflucht zu ihm nehmen würde . . . obgleich es dumm war, Herzklopfen zu
bekommen und krebsrot zu werden, weil er, der Verlobte Mensch! in° aller Freund¬
lichkeit einen Dienst anbot, den jeder Arzt oder examinierte Masseur im ganzen
Lande um zwei Kronen die Stunde leisten konnte, ohne daß es ihre Ehrbarkeit
im geringsten zu genieren brauchte! Nein er nicht!

Sie schaute auf — etwas von der Seite — scheu und merkwürdig unsicher —
und ihre Blicke trafen sich in dem flackernden Feuerschein. Da wandte er schnell
die Augen ab, und glühend rot beugte er sich tief über den Kamin.

Verzeihen Sie! sagte er leise. In dem Augenblick, wo sich ihre Augen trafen,
hatte das eine gewußt, was das andre dachte, es eben so deutlich gewußt, als ob
sie es einander gesagt hätten. Und im nächsten Augenblick war er wütend über
seine dummen Worte.

Elu stand auf; sie meinte vor Scham in den Boden sinken zu müssen.
Warum konnte er denn nicht schweigen? Sie hätte, gleich nachdem sie seine Worte
vernommen hatte, auf den Boden stampfen können, um ihn zum Schweigen zu
bringen. Vorher — war es nichts gewesen — er hatte ja nicht ein Wort ge¬
sagt, das nicht alle Anwesenden hätten hören dürfen. Jetzt — erst jetzt wurde es
zu etwas — zu etwas mehr, zu etwas ganz anderen!


Grenzboten IV 1904 46
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[0343] Die Damen auf Marl'by Julie steckte unbemerkt ihr Taschentuch ein, indem sie ans der Fensternische trat. Gute Nacht, Robert, sagte sie, fast ohne aufzusehen. Vergiß nicht, Gerda von mir zu grüßen. Eine merkwürdig matte Stimmung legte sich über das Zimmer, als der Rechts¬ anwalt schließlich mit seinen Verbeugungen fertig geworden war, und Elu den Flügel verließ.— Wir müssen wohl bald den Wagen bestellen, Julie? Olga behandelte ihre Stieftochter immer demonstrativ als das Oberhaupt der Familie — sie, die Erbin, die Besitzerin von Groß-Markby.— Ja, wenn Tante Albertine auch der Meinung ist, dann nicht wahr, Arvid? wandte sie sich an ihren Bräutigam. Arvid tadelte eben eine Klavierbegleitung, die Elu gespielt hatte, gab dann aber zu, daß möglicherweise auch der Komponist selbst schuld sein könne, und so hörte er nicht sogleich, was Julie gesagt hatte. Den Wagen, ja natürlich, wenn du es wünschest! Aber er blieb stehn und sah Elu forschend in die wie Phosphor leuchtenden, unbeschatteten Augen, während er weiter sprach. Mit Herzklopfen fiel es Elu ans, wie eigentümlich feurig, fast hungrig sein dunkler Blick manchmal sein konnte. Ja, sagte Elu, nachdem das Gespräch eine andre Richtung genommen hatte, ich müßte eigentlich meine Arme massieren lassen. Auf einem niedrigen Schemel vor dem Kamin hockend, strich sie bekümmert über ihren engen grünen Cheviotärmel. Ich merke, daß es sie schrecklich angreift, so viel zu spielen. Zögernd glitt sein Blick einen Augenblick über das leuchtende Haargcwoge, aus dem ein durchsichtiges Ohr hervorsnh, und folgte dem weichen Schatten am Halse und unter dem Kinn. Dann sagte er, indem er seiner Nase entlang den Blick langsam auf seinen gewichsten Schnurrbart senkte, den er geistesabwesend und nervös immerfort drehte: Ja, wenn sich niemand tüchtigeres und kein geübterer Masseur findet — er verbeugte sich halb —, wäre es ja nicht unmöglich, daß ich, der ich ja auch das Zentralinstitut durchgemacht habe . . . Nein, das hieße Ihre Liebenswürdigkeit doch mißbrauchen! murmelte Elu schüchtern abwehrend. Sie dachte nicht genauer darüber nach, woher es eigentlich kommen könnte, daß sein liebenswürdiger Vorschlag, den jedermann hätte mit an¬ hören können, sie in eine so tödliche Verlegenheit brachte; aber das wußte sie, daß sie nie, nein niemals, und wenn der elende Arm noch so schlimm werden sollte, ihre Zuflucht zu ihm nehmen würde . . . obgleich es dumm war, Herzklopfen zu bekommen und krebsrot zu werden, weil er, der Verlobte Mensch! in° aller Freund¬ lichkeit einen Dienst anbot, den jeder Arzt oder examinierte Masseur im ganzen Lande um zwei Kronen die Stunde leisten konnte, ohne daß es ihre Ehrbarkeit im geringsten zu genieren brauchte! Nein er nicht! Sie schaute auf — etwas von der Seite — scheu und merkwürdig unsicher — und ihre Blicke trafen sich in dem flackernden Feuerschein. Da wandte er schnell die Augen ab, und glühend rot beugte er sich tief über den Kamin. Verzeihen Sie! sagte er leise. In dem Augenblick, wo sich ihre Augen trafen, hatte das eine gewußt, was das andre dachte, es eben so deutlich gewußt, als ob sie es einander gesagt hätten. Und im nächsten Augenblick war er wütend über seine dummen Worte. Elu stand auf; sie meinte vor Scham in den Boden sinken zu müssen. Warum konnte er denn nicht schweigen? Sie hätte, gleich nachdem sie seine Worte vernommen hatte, auf den Boden stampfen können, um ihn zum Schweigen zu bringen. Vorher — war es nichts gewesen — er hatte ja nicht ein Wort ge¬ sagt, das nicht alle Anwesenden hätten hören dürfen. Jetzt — erst jetzt wurde es zu etwas — zu etwas mehr, zu etwas ganz anderen! Grenzboten IV 1904 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/343>, abgerufen am 07.01.2025.