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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

nämlich aus dicken gerippten Gläsern, die Bauern aus dünnen glatten. Der Effekt
war schön, aber die Bemerkung des Forstgehilfen fand darum doch kein Echo, weil
die andern fanden, daß er sich zu viel für seine Jugend herausnehme, und daß
man übrigens auch Lichteffekte weiter nicht schätzte, nicht einmal in Biergläsern.

Doch ich will ja noch nicht von den merkwürdigen Bewohnern der erhöhten,
weißwcmdigen Häusergruppe um den Kirchturm, sondern von Eichelberg im allge¬
meinen und besonders als Dörfchen sprechen. Wenn es sich nun darum handelt,
den Überblick von einer der herabsteigenden Landstraßen zu vollenden, die wir
genannt haben, so sei der geneigte Leser zunächst darauf vorbereitet, daß er nicht
vieles und nicht vielerlei sehen wird. Eichelberg ist nur ein Dörfchen, hatte zu der
Zeit, von der wir sprechen, siebenhundert Einwohner in achtundneunzig Häusern oder
Hütten, und man mochte das Ganze in weniger als einer halben Stunde um-
schritten haben. Dafür hat es, wie jedes normale Dorf -- stadtähnliche Dörfer
wie in der Rheinpfalz gibt es bei uns nicht --, die zwei großen Vorzüge: daß
man es leicht als Ganzes übersieht, und daß man jeden Augenblick aus seinem
Bann in die weite, freie Natur hinaustritt. In kleinen und mittlern Dörfern
öffnet sich noch jedes Haus nach irgend einer Seite ins Freie, entweder schaut
seine Vorderfront auf Felder und Wiesen, oder, was viel häufiger der Fall ist,
man tritt aus dem Garten, der sich an seine Rückseite anschließt, unmittelbar ins
Unbewohnte hinaus. Auch dem Bauern, dem man darin wenig Empfindung zu¬
traut, tut es wohl, sich aus dem "Gedränge" der Häuser und Nachbarn hinaus-
zufluchten. Wenn er einen Schmerz überwinden, einen Groll auskochen lassen will,
macht er ganz sachte das kleine Pförtchen auf, das hinten hinausführt, überschreitet
die Bohle, die einen kleinen von der Mühle herkommenden Wassergraben überbrückt,
und macht sich auf seiner anstoßenden Wiese oder ein paar hundert Schritt auf¬
wärts in dem Weinberge zu schaffen, der bei uns häufig gerade gegenüber dem
Hausgcirtchen liegt. Oder er lehnt sich auf sein Gartengitter, schaut hinaus, wo
keine Menschen sind, und fühlt, daß es noch eine Welt außerhalb seines Schmerzes
oder seines Grolls und außerhalb des Bereichs fremder Menschen gibt. Auf den¬
selben Pfaden treffen sich auch gern die Burschen und die Mädchen, die sich etwas
zu sagen haben; besonders die Burschen gehn hier gern am stillen Abend, wenn
sie noch eine "Traget" Gras gemäht haben. Wenn er erzählen könnte, der kleine
Weg am Wasser hin! Wie manche Sorge aus dem Dorf ist auf ihm hinaus-,
auf ihm ist aber auch in mancher Dämmerung oder grauen Nacht Unglück und
Schande hineingetragen worden, die das Tageslicht scheuen.

Auf einem der uhrglusförmigen, flachgerundeten Buntsandsteinhügel, der un¬
merklich seinen ihm zum Verwechseln ähnlichen Genossen überragt, ist 1843 eine
Eiche zur Erinnerung an die Schlacht bei Leipzig gepflanzt worden. Dort hinauf
habe ich viel mehr als hundertmal einen alten Freund nieiner Jugend, den Dekan
Se., begleitet, dem ich es verdanke, daß ich die Liebe zur Wissenschaft mit meinem
Kinderglauben vereinigen konnte. Man sieht von jener banmgekröntcn Stelle elf
Dörfer und wohl ebensoviele Höfe. Se. zitierte dort gern das Wort des Erasmus
von Rotterdam in seiner Beschreibung von Holland: "Dieses Land ist mir zum
Vaterland geworden, und wollte Gott, daß ich ihm sowohl zur Freude wäre, als
es mir ist." Ich habe dort auch sagen hören: Dein erster Gedanke, wenn du
über dieses weite Gefilde hinschaust, ist wohl: So weit vermag ich mich zu regen;
der zweite: Was du siehst, hat dir Gott zur genußreichen Anschauung gegeben.
Also Freiheit und Fülle.

Was aber die Möglichkeit betrifft, das ganze Dorf mit einem Blick zu über¬
schauen, so hörte ich sagen: Wer nie das Nest, in dem er lebt, von oben sieht,
der hat auch keine rechte Vorstellung von dem Ganzen, dem er angeschlossen, ein¬
gegliedert ist. Und auch das ist eine große Wahrheit. Ich liebte mein Dorf, so
wie ich es vom Behrberg aus sah, vom Schusterhäuschen auf der einen Seite bis
zum Haus des Straßenwärters auf der andern. Da sah ich es zuerst als ein


Glücksinseln und Träume

nämlich aus dicken gerippten Gläsern, die Bauern aus dünnen glatten. Der Effekt
war schön, aber die Bemerkung des Forstgehilfen fand darum doch kein Echo, weil
die andern fanden, daß er sich zu viel für seine Jugend herausnehme, und daß
man übrigens auch Lichteffekte weiter nicht schätzte, nicht einmal in Biergläsern.

Doch ich will ja noch nicht von den merkwürdigen Bewohnern der erhöhten,
weißwcmdigen Häusergruppe um den Kirchturm, sondern von Eichelberg im allge¬
meinen und besonders als Dörfchen sprechen. Wenn es sich nun darum handelt,
den Überblick von einer der herabsteigenden Landstraßen zu vollenden, die wir
genannt haben, so sei der geneigte Leser zunächst darauf vorbereitet, daß er nicht
vieles und nicht vielerlei sehen wird. Eichelberg ist nur ein Dörfchen, hatte zu der
Zeit, von der wir sprechen, siebenhundert Einwohner in achtundneunzig Häusern oder
Hütten, und man mochte das Ganze in weniger als einer halben Stunde um-
schritten haben. Dafür hat es, wie jedes normale Dorf — stadtähnliche Dörfer
wie in der Rheinpfalz gibt es bei uns nicht —, die zwei großen Vorzüge: daß
man es leicht als Ganzes übersieht, und daß man jeden Augenblick aus seinem
Bann in die weite, freie Natur hinaustritt. In kleinen und mittlern Dörfern
öffnet sich noch jedes Haus nach irgend einer Seite ins Freie, entweder schaut
seine Vorderfront auf Felder und Wiesen, oder, was viel häufiger der Fall ist,
man tritt aus dem Garten, der sich an seine Rückseite anschließt, unmittelbar ins
Unbewohnte hinaus. Auch dem Bauern, dem man darin wenig Empfindung zu¬
traut, tut es wohl, sich aus dem „Gedränge" der Häuser und Nachbarn hinaus-
zufluchten. Wenn er einen Schmerz überwinden, einen Groll auskochen lassen will,
macht er ganz sachte das kleine Pförtchen auf, das hinten hinausführt, überschreitet
die Bohle, die einen kleinen von der Mühle herkommenden Wassergraben überbrückt,
und macht sich auf seiner anstoßenden Wiese oder ein paar hundert Schritt auf¬
wärts in dem Weinberge zu schaffen, der bei uns häufig gerade gegenüber dem
Hausgcirtchen liegt. Oder er lehnt sich auf sein Gartengitter, schaut hinaus, wo
keine Menschen sind, und fühlt, daß es noch eine Welt außerhalb seines Schmerzes
oder seines Grolls und außerhalb des Bereichs fremder Menschen gibt. Auf den¬
selben Pfaden treffen sich auch gern die Burschen und die Mädchen, die sich etwas
zu sagen haben; besonders die Burschen gehn hier gern am stillen Abend, wenn
sie noch eine „Traget" Gras gemäht haben. Wenn er erzählen könnte, der kleine
Weg am Wasser hin! Wie manche Sorge aus dem Dorf ist auf ihm hinaus-,
auf ihm ist aber auch in mancher Dämmerung oder grauen Nacht Unglück und
Schande hineingetragen worden, die das Tageslicht scheuen.

Auf einem der uhrglusförmigen, flachgerundeten Buntsandsteinhügel, der un¬
merklich seinen ihm zum Verwechseln ähnlichen Genossen überragt, ist 1843 eine
Eiche zur Erinnerung an die Schlacht bei Leipzig gepflanzt worden. Dort hinauf
habe ich viel mehr als hundertmal einen alten Freund nieiner Jugend, den Dekan
Se., begleitet, dem ich es verdanke, daß ich die Liebe zur Wissenschaft mit meinem
Kinderglauben vereinigen konnte. Man sieht von jener banmgekröntcn Stelle elf
Dörfer und wohl ebensoviele Höfe. Se. zitierte dort gern das Wort des Erasmus
von Rotterdam in seiner Beschreibung von Holland: „Dieses Land ist mir zum
Vaterland geworden, und wollte Gott, daß ich ihm sowohl zur Freude wäre, als
es mir ist." Ich habe dort auch sagen hören: Dein erster Gedanke, wenn du
über dieses weite Gefilde hinschaust, ist wohl: So weit vermag ich mich zu regen;
der zweite: Was du siehst, hat dir Gott zur genußreichen Anschauung gegeben.
Also Freiheit und Fülle.

Was aber die Möglichkeit betrifft, das ganze Dorf mit einem Blick zu über¬
schauen, so hörte ich sagen: Wer nie das Nest, in dem er lebt, von oben sieht,
der hat auch keine rechte Vorstellung von dem Ganzen, dem er angeschlossen, ein¬
gegliedert ist. Und auch das ist eine große Wahrheit. Ich liebte mein Dorf, so
wie ich es vom Behrberg aus sah, vom Schusterhäuschen auf der einen Seite bis
zum Haus des Straßenwärters auf der andern. Da sah ich es zuerst als ein


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[0338] Glücksinseln und Träume nämlich aus dicken gerippten Gläsern, die Bauern aus dünnen glatten. Der Effekt war schön, aber die Bemerkung des Forstgehilfen fand darum doch kein Echo, weil die andern fanden, daß er sich zu viel für seine Jugend herausnehme, und daß man übrigens auch Lichteffekte weiter nicht schätzte, nicht einmal in Biergläsern. Doch ich will ja noch nicht von den merkwürdigen Bewohnern der erhöhten, weißwcmdigen Häusergruppe um den Kirchturm, sondern von Eichelberg im allge¬ meinen und besonders als Dörfchen sprechen. Wenn es sich nun darum handelt, den Überblick von einer der herabsteigenden Landstraßen zu vollenden, die wir genannt haben, so sei der geneigte Leser zunächst darauf vorbereitet, daß er nicht vieles und nicht vielerlei sehen wird. Eichelberg ist nur ein Dörfchen, hatte zu der Zeit, von der wir sprechen, siebenhundert Einwohner in achtundneunzig Häusern oder Hütten, und man mochte das Ganze in weniger als einer halben Stunde um- schritten haben. Dafür hat es, wie jedes normale Dorf — stadtähnliche Dörfer wie in der Rheinpfalz gibt es bei uns nicht —, die zwei großen Vorzüge: daß man es leicht als Ganzes übersieht, und daß man jeden Augenblick aus seinem Bann in die weite, freie Natur hinaustritt. In kleinen und mittlern Dörfern öffnet sich noch jedes Haus nach irgend einer Seite ins Freie, entweder schaut seine Vorderfront auf Felder und Wiesen, oder, was viel häufiger der Fall ist, man tritt aus dem Garten, der sich an seine Rückseite anschließt, unmittelbar ins Unbewohnte hinaus. Auch dem Bauern, dem man darin wenig Empfindung zu¬ traut, tut es wohl, sich aus dem „Gedränge" der Häuser und Nachbarn hinaus- zufluchten. Wenn er einen Schmerz überwinden, einen Groll auskochen lassen will, macht er ganz sachte das kleine Pförtchen auf, das hinten hinausführt, überschreitet die Bohle, die einen kleinen von der Mühle herkommenden Wassergraben überbrückt, und macht sich auf seiner anstoßenden Wiese oder ein paar hundert Schritt auf¬ wärts in dem Weinberge zu schaffen, der bei uns häufig gerade gegenüber dem Hausgcirtchen liegt. Oder er lehnt sich auf sein Gartengitter, schaut hinaus, wo keine Menschen sind, und fühlt, daß es noch eine Welt außerhalb seines Schmerzes oder seines Grolls und außerhalb des Bereichs fremder Menschen gibt. Auf den¬ selben Pfaden treffen sich auch gern die Burschen und die Mädchen, die sich etwas zu sagen haben; besonders die Burschen gehn hier gern am stillen Abend, wenn sie noch eine „Traget" Gras gemäht haben. Wenn er erzählen könnte, der kleine Weg am Wasser hin! Wie manche Sorge aus dem Dorf ist auf ihm hinaus-, auf ihm ist aber auch in mancher Dämmerung oder grauen Nacht Unglück und Schande hineingetragen worden, die das Tageslicht scheuen. Auf einem der uhrglusförmigen, flachgerundeten Buntsandsteinhügel, der un¬ merklich seinen ihm zum Verwechseln ähnlichen Genossen überragt, ist 1843 eine Eiche zur Erinnerung an die Schlacht bei Leipzig gepflanzt worden. Dort hinauf habe ich viel mehr als hundertmal einen alten Freund nieiner Jugend, den Dekan Se., begleitet, dem ich es verdanke, daß ich die Liebe zur Wissenschaft mit meinem Kinderglauben vereinigen konnte. Man sieht von jener banmgekröntcn Stelle elf Dörfer und wohl ebensoviele Höfe. Se. zitierte dort gern das Wort des Erasmus von Rotterdam in seiner Beschreibung von Holland: „Dieses Land ist mir zum Vaterland geworden, und wollte Gott, daß ich ihm sowohl zur Freude wäre, als es mir ist." Ich habe dort auch sagen hören: Dein erster Gedanke, wenn du über dieses weite Gefilde hinschaust, ist wohl: So weit vermag ich mich zu regen; der zweite: Was du siehst, hat dir Gott zur genußreichen Anschauung gegeben. Also Freiheit und Fülle. Was aber die Möglichkeit betrifft, das ganze Dorf mit einem Blick zu über¬ schauen, so hörte ich sagen: Wer nie das Nest, in dem er lebt, von oben sieht, der hat auch keine rechte Vorstellung von dem Ganzen, dem er angeschlossen, ein¬ gegliedert ist. Und auch das ist eine große Wahrheit. Ich liebte mein Dorf, so wie ich es vom Behrberg aus sah, vom Schusterhäuschen auf der einen Seite bis zum Haus des Straßenwärters auf der andern. Da sah ich es zuerst als ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/338>, abgerufen am 23.07.2024.