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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

Astern und purpurne Disteln, die steinigen Boden lieben. Wenn der Acker be¬
stellt und wieder wenn er gemäht wird, was bei uns durchaus mit der Sense
geschieht, ist die Landschaft reich belebt. Doch bleibt sie fast immer gleich still,
was Laute anbetrifft. Ein Ruf, der die Pferde ermuntert, ein kurzes Befehlswort
des Bauern an den Knecht, ein Rabenschrei ist stundenlang alles, was man hört.
Die Hauptarbeiten: Pflügen, Säen und Ernten vollzieh" sich in aller Stille; sie
sind zu schwer, als daß die Lust zum Reden oder Singen auskäme.

Anders ist es im Spätjahr, wenn sie erledigt sind. Dann steigen aus den
Ackerfurchen die blauen qualmenden Rauchsäulen des verbrannten Unkrauts, dessen
Geruch der Luft weithin eine Schärfe erteilt, und die begraste Bühel, wo man
Ziegen und Schafe und die kleinsten magersten Kühe zur Weide treibt, umwölkt
der Rauch der Hirtenfeuer, die einen seltsamen Eindruck besonders am Abend
machen, wenn dunkle Gestalten um sie schwanken. In derselben Zeit gehn die Kühe
und die Rinder zur Weide auf die Wiesen, und die Landschaft bekommt einen
niederländischen Zug. Auf einzelnen Waldwiesen, auf Stoppelfeldern und abge¬
ernteten Kleeäckern weiden ganze Herden von Kühen, stolze Tiere, die zu sagen
scheinen: Unser Herr ist ein reicher Bauer, verwechsle uns nicht mit deu Kühlein
armer Leute; diese sieht man genügsam und einsam an Rainen grasen.

An einem Waldeck steht ein uralter Grenzstein, um ihn drei mächtige Buchen,
gleichsam eine Vorhalle, einen Vorhof des Waldes bildend, in dessen Dunkel man
nun eintritt. Dort lagern die Herden an den warmen Herbsttagen, die Kinder,
die sie hüten, finden dort Haselnüsse und Bucheckern. Dann hört man dort zu¬
zeiten seltsame Musik. Aus dem Walde heraus klingen die Glocken der Herden
wegen der großen Entfernung der einzelne" Gruppen auf ihren Waldwiesen und
wegen der dazwischenstehenden Bäume nicht einzeln, fondern wie ein Gesang; oft
klingen die hochgetönten zufällig zusammen, und das läutet wie ein Heller Ruf aus
Waldcstiefen.

Die Gemarkung könnte man die politische Grenze des Dorfes nennen, wenn
der Horizont als seine natürliche gilt. So wie jedes Kind, das kaum noch fest
auf den Beinen steht, die Felder und Wiesen seines Vaters kennt, kennt jeder
Knabe die Grenzen der Dorfgemarkung; er tritt nicht auf den Rain vor dem Stein-
Wald oder auf die andre Seite der Vizinalstraße nach Sensenheim ohne das Ge¬
fühl, fremden Boden zu betreten. Wenn die Burschen von Eichelberg in einem
Nachbardorf eine Schlägerei inszeniert haben, halten sie sich für sicherer, sobald sie
den Grenzgraben überschritten haben. Zwei uralte Steinkreuze, die bis an die
Querarme in den Boden gesunken sind, erzählen, wo der Waldpfad von Michels¬
berg her die Grenze schneidet, die Sage von einer grausen Bluttat.

Da sich bei uns nnr die großen Bauernhöfe ungeteilt vererben, und zwar
ebenso oft auf den ältesten wie auf den jüngsten Sohn, ist das Dorflnnd immer
mehr zerteilt worden, und die Stücke wechseln um so leichter ihre Besitzer, je
kleiner sie geworden sind. Es gibt zwar in meiner Erinnerung kein Beispiel, daß
ein wirklich reicher Bauer ganz arm geworden sei, aber Abbröcklungen erlebt man
alle Tage. Kinder der Ärmsten sind mit nichts auf die Wanderschaft gegangen,
und als sie nach einem Jahrzehnt oder länger zurückgekehrt waren, haben sie mit
den Ersparnissen einen Acker gekauft und sind bei gedeihenden Handwerk in den
Mittelstand der Bauern eingetreten und haben sich genug Feld erheiratet, daß sie vier
oder fünf Kühe halten konnten. Damit ist das Bild der Landschaft immer mannig¬
faltiger und bunter geworden. Jetzt liegt kaum einmal ein Feld brach, es erregt
Staunen, wo es vorkommt. Dagegen sind es der Feldfrüchte weniger geworden,
und von dieser Seite her zog Einförmigkeit in die Gemcirknngen. Der zarte Flachs
mit seinen hellblauen Blüten ist verschwunden, die gelben Rapsfelder sind selten
geworden, von den Getreidearten wird der Dinkel weniger angebaut als früher,
nur die Luzerne und der hohe Pferdezahnmciis haben an Ausbreitung gewonnen.
Im Sommer die Kartoffel, im Herbst die Futterrübe: diese beiden niedrigen, an-


Glücksinseln und Träume

Astern und purpurne Disteln, die steinigen Boden lieben. Wenn der Acker be¬
stellt und wieder wenn er gemäht wird, was bei uns durchaus mit der Sense
geschieht, ist die Landschaft reich belebt. Doch bleibt sie fast immer gleich still,
was Laute anbetrifft. Ein Ruf, der die Pferde ermuntert, ein kurzes Befehlswort
des Bauern an den Knecht, ein Rabenschrei ist stundenlang alles, was man hört.
Die Hauptarbeiten: Pflügen, Säen und Ernten vollzieh» sich in aller Stille; sie
sind zu schwer, als daß die Lust zum Reden oder Singen auskäme.

Anders ist es im Spätjahr, wenn sie erledigt sind. Dann steigen aus den
Ackerfurchen die blauen qualmenden Rauchsäulen des verbrannten Unkrauts, dessen
Geruch der Luft weithin eine Schärfe erteilt, und die begraste Bühel, wo man
Ziegen und Schafe und die kleinsten magersten Kühe zur Weide treibt, umwölkt
der Rauch der Hirtenfeuer, die einen seltsamen Eindruck besonders am Abend
machen, wenn dunkle Gestalten um sie schwanken. In derselben Zeit gehn die Kühe
und die Rinder zur Weide auf die Wiesen, und die Landschaft bekommt einen
niederländischen Zug. Auf einzelnen Waldwiesen, auf Stoppelfeldern und abge¬
ernteten Kleeäckern weiden ganze Herden von Kühen, stolze Tiere, die zu sagen
scheinen: Unser Herr ist ein reicher Bauer, verwechsle uns nicht mit deu Kühlein
armer Leute; diese sieht man genügsam und einsam an Rainen grasen.

An einem Waldeck steht ein uralter Grenzstein, um ihn drei mächtige Buchen,
gleichsam eine Vorhalle, einen Vorhof des Waldes bildend, in dessen Dunkel man
nun eintritt. Dort lagern die Herden an den warmen Herbsttagen, die Kinder,
die sie hüten, finden dort Haselnüsse und Bucheckern. Dann hört man dort zu¬
zeiten seltsame Musik. Aus dem Walde heraus klingen die Glocken der Herden
wegen der großen Entfernung der einzelne» Gruppen auf ihren Waldwiesen und
wegen der dazwischenstehenden Bäume nicht einzeln, fondern wie ein Gesang; oft
klingen die hochgetönten zufällig zusammen, und das läutet wie ein Heller Ruf aus
Waldcstiefen.

Die Gemarkung könnte man die politische Grenze des Dorfes nennen, wenn
der Horizont als seine natürliche gilt. So wie jedes Kind, das kaum noch fest
auf den Beinen steht, die Felder und Wiesen seines Vaters kennt, kennt jeder
Knabe die Grenzen der Dorfgemarkung; er tritt nicht auf den Rain vor dem Stein-
Wald oder auf die andre Seite der Vizinalstraße nach Sensenheim ohne das Ge¬
fühl, fremden Boden zu betreten. Wenn die Burschen von Eichelberg in einem
Nachbardorf eine Schlägerei inszeniert haben, halten sie sich für sicherer, sobald sie
den Grenzgraben überschritten haben. Zwei uralte Steinkreuze, die bis an die
Querarme in den Boden gesunken sind, erzählen, wo der Waldpfad von Michels¬
berg her die Grenze schneidet, die Sage von einer grausen Bluttat.

Da sich bei uns nnr die großen Bauernhöfe ungeteilt vererben, und zwar
ebenso oft auf den ältesten wie auf den jüngsten Sohn, ist das Dorflnnd immer
mehr zerteilt worden, und die Stücke wechseln um so leichter ihre Besitzer, je
kleiner sie geworden sind. Es gibt zwar in meiner Erinnerung kein Beispiel, daß
ein wirklich reicher Bauer ganz arm geworden sei, aber Abbröcklungen erlebt man
alle Tage. Kinder der Ärmsten sind mit nichts auf die Wanderschaft gegangen,
und als sie nach einem Jahrzehnt oder länger zurückgekehrt waren, haben sie mit
den Ersparnissen einen Acker gekauft und sind bei gedeihenden Handwerk in den
Mittelstand der Bauern eingetreten und haben sich genug Feld erheiratet, daß sie vier
oder fünf Kühe halten konnten. Damit ist das Bild der Landschaft immer mannig¬
faltiger und bunter geworden. Jetzt liegt kaum einmal ein Feld brach, es erregt
Staunen, wo es vorkommt. Dagegen sind es der Feldfrüchte weniger geworden,
und von dieser Seite her zog Einförmigkeit in die Gemcirknngen. Der zarte Flachs
mit seinen hellblauen Blüten ist verschwunden, die gelben Rapsfelder sind selten
geworden, von den Getreidearten wird der Dinkel weniger angebaut als früher,
nur die Luzerne und der hohe Pferdezahnmciis haben an Ausbreitung gewonnen.
Im Sommer die Kartoffel, im Herbst die Futterrübe: diese beiden niedrigen, an-


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[0336] Glücksinseln und Träume Astern und purpurne Disteln, die steinigen Boden lieben. Wenn der Acker be¬ stellt und wieder wenn er gemäht wird, was bei uns durchaus mit der Sense geschieht, ist die Landschaft reich belebt. Doch bleibt sie fast immer gleich still, was Laute anbetrifft. Ein Ruf, der die Pferde ermuntert, ein kurzes Befehlswort des Bauern an den Knecht, ein Rabenschrei ist stundenlang alles, was man hört. Die Hauptarbeiten: Pflügen, Säen und Ernten vollzieh» sich in aller Stille; sie sind zu schwer, als daß die Lust zum Reden oder Singen auskäme. Anders ist es im Spätjahr, wenn sie erledigt sind. Dann steigen aus den Ackerfurchen die blauen qualmenden Rauchsäulen des verbrannten Unkrauts, dessen Geruch der Luft weithin eine Schärfe erteilt, und die begraste Bühel, wo man Ziegen und Schafe und die kleinsten magersten Kühe zur Weide treibt, umwölkt der Rauch der Hirtenfeuer, die einen seltsamen Eindruck besonders am Abend machen, wenn dunkle Gestalten um sie schwanken. In derselben Zeit gehn die Kühe und die Rinder zur Weide auf die Wiesen, und die Landschaft bekommt einen niederländischen Zug. Auf einzelnen Waldwiesen, auf Stoppelfeldern und abge¬ ernteten Kleeäckern weiden ganze Herden von Kühen, stolze Tiere, die zu sagen scheinen: Unser Herr ist ein reicher Bauer, verwechsle uns nicht mit deu Kühlein armer Leute; diese sieht man genügsam und einsam an Rainen grasen. An einem Waldeck steht ein uralter Grenzstein, um ihn drei mächtige Buchen, gleichsam eine Vorhalle, einen Vorhof des Waldes bildend, in dessen Dunkel man nun eintritt. Dort lagern die Herden an den warmen Herbsttagen, die Kinder, die sie hüten, finden dort Haselnüsse und Bucheckern. Dann hört man dort zu¬ zeiten seltsame Musik. Aus dem Walde heraus klingen die Glocken der Herden wegen der großen Entfernung der einzelne» Gruppen auf ihren Waldwiesen und wegen der dazwischenstehenden Bäume nicht einzeln, fondern wie ein Gesang; oft klingen die hochgetönten zufällig zusammen, und das läutet wie ein Heller Ruf aus Waldcstiefen. Die Gemarkung könnte man die politische Grenze des Dorfes nennen, wenn der Horizont als seine natürliche gilt. So wie jedes Kind, das kaum noch fest auf den Beinen steht, die Felder und Wiesen seines Vaters kennt, kennt jeder Knabe die Grenzen der Dorfgemarkung; er tritt nicht auf den Rain vor dem Stein- Wald oder auf die andre Seite der Vizinalstraße nach Sensenheim ohne das Ge¬ fühl, fremden Boden zu betreten. Wenn die Burschen von Eichelberg in einem Nachbardorf eine Schlägerei inszeniert haben, halten sie sich für sicherer, sobald sie den Grenzgraben überschritten haben. Zwei uralte Steinkreuze, die bis an die Querarme in den Boden gesunken sind, erzählen, wo der Waldpfad von Michels¬ berg her die Grenze schneidet, die Sage von einer grausen Bluttat. Da sich bei uns nnr die großen Bauernhöfe ungeteilt vererben, und zwar ebenso oft auf den ältesten wie auf den jüngsten Sohn, ist das Dorflnnd immer mehr zerteilt worden, und die Stücke wechseln um so leichter ihre Besitzer, je kleiner sie geworden sind. Es gibt zwar in meiner Erinnerung kein Beispiel, daß ein wirklich reicher Bauer ganz arm geworden sei, aber Abbröcklungen erlebt man alle Tage. Kinder der Ärmsten sind mit nichts auf die Wanderschaft gegangen, und als sie nach einem Jahrzehnt oder länger zurückgekehrt waren, haben sie mit den Ersparnissen einen Acker gekauft und sind bei gedeihenden Handwerk in den Mittelstand der Bauern eingetreten und haben sich genug Feld erheiratet, daß sie vier oder fünf Kühe halten konnten. Damit ist das Bild der Landschaft immer mannig¬ faltiger und bunter geworden. Jetzt liegt kaum einmal ein Feld brach, es erregt Staunen, wo es vorkommt. Dagegen sind es der Feldfrüchte weniger geworden, und von dieser Seite her zog Einförmigkeit in die Gemcirknngen. Der zarte Flachs mit seinen hellblauen Blüten ist verschwunden, die gelben Rapsfelder sind selten geworden, von den Getreidearten wird der Dinkel weniger angebaut als früher, nur die Luzerne und der hohe Pferdezahnmciis haben an Ausbreitung gewonnen. Im Sommer die Kartoffel, im Herbst die Futterrübe: diese beiden niedrigen, an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/336>, abgerufen am 23.07.2024.