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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Auf rätischen Alpenstraßen

licher Verkehr bestand freilich von jeher, schon um 1200, aber es gab noch
1439 hier keine Transportgesellschaften, freilich auch keine Zölle. Gerade
diese Zollfreiheit lockte die Kaufleute an, und so verbündeten sich 1473 die
Talgcmeinden am Hinterrhein und im Jakobstal (Vs,1 Lau elisoomo auf der
Südseite) zur Erbauung der ersten Fahrstraße durch die Hintere Via mal"
und zur Gründung einer Portcngesellschaft. Ohne solche Einrichtungen blieb
die Straße über den Bernhardin, der seinen alten Namen Vogelsberg (wegen
des Flugs der Zugvögel) erst in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahr¬
hunderts mit seinem jetzigen (nach dem heiligen Bernhard von Siena, ge¬
storben 1444) vertauschte.

Diese Verkehrsorganisationen und diese Straßen haben jahrhundertelang
den Bedürfnissen des Handels und des Reifens genügt. Sie verschafften dem
jungen graubündischen Freistaat vorübergehend sogar eine selbständige europäische
Bedeutung, als im Dreißigjährigen Kriege Spanien und Österreich verbündet
waren und dieser Pässe bedurften, um von Mailand und Tirol aus auch ihre
militärische Verbindung zu sichern, und ohne die rücksichtslose Energie des
Jürg Jcnatsch hätten sie der rätischen Freiheit den Untergang gebracht.
Auch in den Koalitionskriegen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts sind
nicht selten Heeresabteilungen auf diesen Straßen marschiert. Aber allmählich
wurden das Monopol der Porter, die zahlreichen Durchgangszölle und die
trotzdem schlechte Beschaffenheit der Straßen als unerträglich empfunden, und
nach 1815 begann Graubünden, seit 1803 vollberechtigter Kanton der
Schweizerischen Eidgenossenschaft, von dieser unterstützt, den Bau moderner
Kunststraßen, 1818 bis 1825 über deu Splügen, 1820 bis 1840 in mehreren
Abschnitten über den Julier und die Majola, 1823 über den Bernhardin,
endlich auch über den Lukmanier. Und wie nun hier Kanton und Bund die
Fürsorge für die Straßen übernahmen, so ging die Post 1813 an den Kanton,
1849 an den Bund über. Die letzten Rechte der Porter wurden aber erst
durch den Bundesratsbeschluß vom 23. Juli 1861 ausgehoben. Auch die Eisen¬
bahn fand bald Eingang, denn im Jahre 1858 wurde die Linie von Rorschach
bis Chur eröffnet. Den Bau der geplanten Durchgangsliuie über den Lukmanier
vereitelte die Entscheidung für den Se. Gotthard, es blieb bei einzelnen kürzern
Strecken bis Jlanz und Thusis, und auch die erst im Juli 1904 vollständig
dein Verkehr übergebne landschaftlich wunderschöne Albulabahn nach dem Ober-
Engadin stellte keine durchgehende Linie nach Italien her. Die nächste Ver¬
bindung würde von ihrem Endpunkte Se. Moritz aus über den Berninapas;
nach Tirano im Veltlin führen, doch ist diese Bahn wie alle Mischen Eisen¬
bahnen zunächst mir schmalspurig erbaut. So hat Graubünden seine alte Be¬
deutung als Paßland für den Weltverkehr vorläufig eingebüßt.

(Fortsetzung folgt)




Auf rätischen Alpenstraßen

licher Verkehr bestand freilich von jeher, schon um 1200, aber es gab noch
1439 hier keine Transportgesellschaften, freilich auch keine Zölle. Gerade
diese Zollfreiheit lockte die Kaufleute an, und so verbündeten sich 1473 die
Talgcmeinden am Hinterrhein und im Jakobstal (Vs,1 Lau elisoomo auf der
Südseite) zur Erbauung der ersten Fahrstraße durch die Hintere Via mal«
und zur Gründung einer Portcngesellschaft. Ohne solche Einrichtungen blieb
die Straße über den Bernhardin, der seinen alten Namen Vogelsberg (wegen
des Flugs der Zugvögel) erst in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahr¬
hunderts mit seinem jetzigen (nach dem heiligen Bernhard von Siena, ge¬
storben 1444) vertauschte.

Diese Verkehrsorganisationen und diese Straßen haben jahrhundertelang
den Bedürfnissen des Handels und des Reifens genügt. Sie verschafften dem
jungen graubündischen Freistaat vorübergehend sogar eine selbständige europäische
Bedeutung, als im Dreißigjährigen Kriege Spanien und Österreich verbündet
waren und dieser Pässe bedurften, um von Mailand und Tirol aus auch ihre
militärische Verbindung zu sichern, und ohne die rücksichtslose Energie des
Jürg Jcnatsch hätten sie der rätischen Freiheit den Untergang gebracht.
Auch in den Koalitionskriegen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts sind
nicht selten Heeresabteilungen auf diesen Straßen marschiert. Aber allmählich
wurden das Monopol der Porter, die zahlreichen Durchgangszölle und die
trotzdem schlechte Beschaffenheit der Straßen als unerträglich empfunden, und
nach 1815 begann Graubünden, seit 1803 vollberechtigter Kanton der
Schweizerischen Eidgenossenschaft, von dieser unterstützt, den Bau moderner
Kunststraßen, 1818 bis 1825 über deu Splügen, 1820 bis 1840 in mehreren
Abschnitten über den Julier und die Majola, 1823 über den Bernhardin,
endlich auch über den Lukmanier. Und wie nun hier Kanton und Bund die
Fürsorge für die Straßen übernahmen, so ging die Post 1813 an den Kanton,
1849 an den Bund über. Die letzten Rechte der Porter wurden aber erst
durch den Bundesratsbeschluß vom 23. Juli 1861 ausgehoben. Auch die Eisen¬
bahn fand bald Eingang, denn im Jahre 1858 wurde die Linie von Rorschach
bis Chur eröffnet. Den Bau der geplanten Durchgangsliuie über den Lukmanier
vereitelte die Entscheidung für den Se. Gotthard, es blieb bei einzelnen kürzern
Strecken bis Jlanz und Thusis, und auch die erst im Juli 1904 vollständig
dein Verkehr übergebne landschaftlich wunderschöne Albulabahn nach dem Ober-
Engadin stellte keine durchgehende Linie nach Italien her. Die nächste Ver¬
bindung würde von ihrem Endpunkte Se. Moritz aus über den Berninapas;
nach Tirano im Veltlin führen, doch ist diese Bahn wie alle Mischen Eisen¬
bahnen zunächst mir schmalspurig erbaut. So hat Graubünden seine alte Be¬
deutung als Paßland für den Weltverkehr vorläufig eingebüßt.

(Fortsetzung folgt)




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[0197] Auf rätischen Alpenstraßen licher Verkehr bestand freilich von jeher, schon um 1200, aber es gab noch 1439 hier keine Transportgesellschaften, freilich auch keine Zölle. Gerade diese Zollfreiheit lockte die Kaufleute an, und so verbündeten sich 1473 die Talgcmeinden am Hinterrhein und im Jakobstal (Vs,1 Lau elisoomo auf der Südseite) zur Erbauung der ersten Fahrstraße durch die Hintere Via mal« und zur Gründung einer Portcngesellschaft. Ohne solche Einrichtungen blieb die Straße über den Bernhardin, der seinen alten Namen Vogelsberg (wegen des Flugs der Zugvögel) erst in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahr¬ hunderts mit seinem jetzigen (nach dem heiligen Bernhard von Siena, ge¬ storben 1444) vertauschte. Diese Verkehrsorganisationen und diese Straßen haben jahrhundertelang den Bedürfnissen des Handels und des Reifens genügt. Sie verschafften dem jungen graubündischen Freistaat vorübergehend sogar eine selbständige europäische Bedeutung, als im Dreißigjährigen Kriege Spanien und Österreich verbündet waren und dieser Pässe bedurften, um von Mailand und Tirol aus auch ihre militärische Verbindung zu sichern, und ohne die rücksichtslose Energie des Jürg Jcnatsch hätten sie der rätischen Freiheit den Untergang gebracht. Auch in den Koalitionskriegen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts sind nicht selten Heeresabteilungen auf diesen Straßen marschiert. Aber allmählich wurden das Monopol der Porter, die zahlreichen Durchgangszölle und die trotzdem schlechte Beschaffenheit der Straßen als unerträglich empfunden, und nach 1815 begann Graubünden, seit 1803 vollberechtigter Kanton der Schweizerischen Eidgenossenschaft, von dieser unterstützt, den Bau moderner Kunststraßen, 1818 bis 1825 über deu Splügen, 1820 bis 1840 in mehreren Abschnitten über den Julier und die Majola, 1823 über den Bernhardin, endlich auch über den Lukmanier. Und wie nun hier Kanton und Bund die Fürsorge für die Straßen übernahmen, so ging die Post 1813 an den Kanton, 1849 an den Bund über. Die letzten Rechte der Porter wurden aber erst durch den Bundesratsbeschluß vom 23. Juli 1861 ausgehoben. Auch die Eisen¬ bahn fand bald Eingang, denn im Jahre 1858 wurde die Linie von Rorschach bis Chur eröffnet. Den Bau der geplanten Durchgangsliuie über den Lukmanier vereitelte die Entscheidung für den Se. Gotthard, es blieb bei einzelnen kürzern Strecken bis Jlanz und Thusis, und auch die erst im Juli 1904 vollständig dein Verkehr übergebne landschaftlich wunderschöne Albulabahn nach dem Ober- Engadin stellte keine durchgehende Linie nach Italien her. Die nächste Ver¬ bindung würde von ihrem Endpunkte Se. Moritz aus über den Berninapas; nach Tirano im Veltlin führen, doch ist diese Bahn wie alle Mischen Eisen¬ bahnen zunächst mir schmalspurig erbaut. So hat Graubünden seine alte Be¬ deutung als Paßland für den Weltverkehr vorläufig eingebüßt. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/197>, abgerufen am 23.07.2024.