Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Glücksinseln und Träume

Wie von Edelsteinen glitzert und statt des Taues Reisiristalle auf den Halmen
liegen. Da wird es wohl in einer Dezembernacht noch viel stiller, und man wacht
Morgens von der ungewöhnlichen Ruhe auf, in die die Welt tief versunken zu
sein scheint, vielleicht auch von der Kälte, besonders aber von dem sonderbaren
Schein, der durch die Fenster fällt. Das ist ein Schneetag. Die ganze Nacht hat
es ohne Aufhören heruntergeschneit, und nun reicht die Straße fast bis an die
Fensterbrüstungen, und die Dächer sind erhöht, der Brunnen trägt eine weiße
Mütze, und jeder Dvrnzweig ist um einen Silberstreifen verdoppelt. Nichts ist ver¬
gessen, nicht einmal die dürren Wegwartstengel, sie leuchten von ihrer weißen
Auflage. Und alle diese weißen Lasten scheinen den Geräuschen des Tages die
Hand auf den Mund zu legen. Nur Licht der Wolken und leuchtender Schnee,
der einförmige, tiefe Himmel um eine Idee grauer als die Erde, Grau und Grau,
nur Morgens und Abends bei tiefstehender Sonne lange bläuliche Schatten; aber
über das alles eine Einheit der Stimmung, der nur wir gegenüberstelln, wir, eine
kleine Welt, die sich nie so sich selbst fühlt wie in diesen abgeschlossenen Tagen, wo
die "ambre Welt" wie verloren gegangen ist.

Als der Geistliche am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis über die Be¬
kehrung des Kämmerers ans dem Morgenlande predigte, wo es im Text hieß:
"Stehe auf und gehe gen Mittag auf die Straße, die von Jerusalem gehet hinab
nach Gaza, die da wüste ist; und er stand auf und ging hin," und weiter: "Er
aber zog seine Straße fröhlich," überfiel mich eine solche Sehnsucht, hinauszuziehn
auf irgend einer Straße, und ob sie noch so wüst wäre, daß ich nach der Kirche,
ohne einen Menschen zu sprechen oder zu grüßen, hinauseilte und von der Bank
am Föhrenwnld in die Ebne schaute, bis ich sie weit, weit hinaus nach Westen
geöffnet und an ihrem äußersten Rande befreundete Türme ragen sah. Und da
ich nun zum Überfluß in denselben Tagen in Thomas a Kempis den Spruch las:
"Halte dich wie einen Pilger auf Erden, den der Welt Geschäfte nichts angehn.
Bewahre ein freies und zu Gott gerichtetes Herz, weil du hier keine bleibende
Stätte hast," so fühlte ich mich nur um so mehr berechtigt, geistig zu wandern,
und hoffte es mit der Zeit noch dahin zu bringen, meine sterbliche Hülle allein
hier zu lassen und mit der Seele dort zu weilen, wo es sie hinzog. Die Be¬
schäftigung mit den Giftstoffen der Apotheke war sehr geeignet zu Betrachtungen
über die tötenden und die bloß betäubenden Mittel. Man unterhielt sich gern über
das auch heute noch rätselhafte ^oua totans,, dessen furchtbare Wirkungen ähnlich
der des Hundswutgiftes und andrer Krankheitskeime sich erst nach geraumer Zeit
äußern, oder über die traumerzeugenden Dämpfe der Stechnpfelsnmen, unter deren
Einfluß der Geist dessen, der sie einatmete, den Körper verläßt, um umherwandernd
die seltsamsten Erfahrungen zu sammeln. Welche interessante Stufenleiter von diesen
trägen und aussetzenden Giften bis zu der schlagartig wirkenden Blausäure! Kein
Wunder, daß Manfred-Bhrons letzte Worte: 01ä man, 't is not so äMeult to als
dem Jüngling-Knaben durchaus uicht mehr fremd ins Ohr klangen. Es schien ihm
ja gar nichts so Unvermitteltes und Unvorbereitetes mehr, was man Sterben
nannte. Ist Sterben denn notwendig immer Tod? Könnte nicht der Geist diese
Hülle verlassen und wieder in sie zurückkehren? Die Alten glaubten, daß er in
ihrer Nähe noch längere Zeit verweile, nachdem der Leichnam kalt geworden, und
sie ehrten sie, brachten ihr Opfer dar. Was wissen wir denn überhaupt vom
Tode? Es hängt doch alles, was wir davon halten, vom Glauben ab. Das
Sterben allein ist gewiß, vom Tod, der dahintersteht, wissen wir nichts. Wie wenn
sich nun die freigewordne Seele aufschwänge und zu den lieben Orten flöge, an
denen ohnehin unsre Gedanken weilen? Dann wäre ja der Tod das Schönste,
was nur zu denken ist. Es gibt kein andres Mittel, zu wandern. Körperlich bin
ich für viele lange Jahre an diese Stelle gebunden, seelisch steht mir die Welt
offen. Versuche ichs nicht einmal, zu fliegen? Hier steht in steinernen Krüger
Kirschlorbeerwasser, ein blansäurehaltiges Präparat, dessen scharfer Duft etwas Ele-


Grenzbotcn IV 1904 SJ
Glücksinseln und Träume

Wie von Edelsteinen glitzert und statt des Taues Reisiristalle auf den Halmen
liegen. Da wird es wohl in einer Dezembernacht noch viel stiller, und man wacht
Morgens von der ungewöhnlichen Ruhe auf, in die die Welt tief versunken zu
sein scheint, vielleicht auch von der Kälte, besonders aber von dem sonderbaren
Schein, der durch die Fenster fällt. Das ist ein Schneetag. Die ganze Nacht hat
es ohne Aufhören heruntergeschneit, und nun reicht die Straße fast bis an die
Fensterbrüstungen, und die Dächer sind erhöht, der Brunnen trägt eine weiße
Mütze, und jeder Dvrnzweig ist um einen Silberstreifen verdoppelt. Nichts ist ver¬
gessen, nicht einmal die dürren Wegwartstengel, sie leuchten von ihrer weißen
Auflage. Und alle diese weißen Lasten scheinen den Geräuschen des Tages die
Hand auf den Mund zu legen. Nur Licht der Wolken und leuchtender Schnee,
der einförmige, tiefe Himmel um eine Idee grauer als die Erde, Grau und Grau,
nur Morgens und Abends bei tiefstehender Sonne lange bläuliche Schatten; aber
über das alles eine Einheit der Stimmung, der nur wir gegenüberstelln, wir, eine
kleine Welt, die sich nie so sich selbst fühlt wie in diesen abgeschlossenen Tagen, wo
die „ambre Welt" wie verloren gegangen ist.

Als der Geistliche am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis über die Be¬
kehrung des Kämmerers ans dem Morgenlande predigte, wo es im Text hieß:
„Stehe auf und gehe gen Mittag auf die Straße, die von Jerusalem gehet hinab
nach Gaza, die da wüste ist; und er stand auf und ging hin," und weiter: „Er
aber zog seine Straße fröhlich," überfiel mich eine solche Sehnsucht, hinauszuziehn
auf irgend einer Straße, und ob sie noch so wüst wäre, daß ich nach der Kirche,
ohne einen Menschen zu sprechen oder zu grüßen, hinauseilte und von der Bank
am Föhrenwnld in die Ebne schaute, bis ich sie weit, weit hinaus nach Westen
geöffnet und an ihrem äußersten Rande befreundete Türme ragen sah. Und da
ich nun zum Überfluß in denselben Tagen in Thomas a Kempis den Spruch las:
„Halte dich wie einen Pilger auf Erden, den der Welt Geschäfte nichts angehn.
Bewahre ein freies und zu Gott gerichtetes Herz, weil du hier keine bleibende
Stätte hast," so fühlte ich mich nur um so mehr berechtigt, geistig zu wandern,
und hoffte es mit der Zeit noch dahin zu bringen, meine sterbliche Hülle allein
hier zu lassen und mit der Seele dort zu weilen, wo es sie hinzog. Die Be¬
schäftigung mit den Giftstoffen der Apotheke war sehr geeignet zu Betrachtungen
über die tötenden und die bloß betäubenden Mittel. Man unterhielt sich gern über
das auch heute noch rätselhafte ^oua totans,, dessen furchtbare Wirkungen ähnlich
der des Hundswutgiftes und andrer Krankheitskeime sich erst nach geraumer Zeit
äußern, oder über die traumerzeugenden Dämpfe der Stechnpfelsnmen, unter deren
Einfluß der Geist dessen, der sie einatmete, den Körper verläßt, um umherwandernd
die seltsamsten Erfahrungen zu sammeln. Welche interessante Stufenleiter von diesen
trägen und aussetzenden Giften bis zu der schlagartig wirkenden Blausäure! Kein
Wunder, daß Manfred-Bhrons letzte Worte: 01ä man, 't is not so äMeult to als
dem Jüngling-Knaben durchaus uicht mehr fremd ins Ohr klangen. Es schien ihm
ja gar nichts so Unvermitteltes und Unvorbereitetes mehr, was man Sterben
nannte. Ist Sterben denn notwendig immer Tod? Könnte nicht der Geist diese
Hülle verlassen und wieder in sie zurückkehren? Die Alten glaubten, daß er in
ihrer Nähe noch längere Zeit verweile, nachdem der Leichnam kalt geworden, und
sie ehrten sie, brachten ihr Opfer dar. Was wissen wir denn überhaupt vom
Tode? Es hängt doch alles, was wir davon halten, vom Glauben ab. Das
Sterben allein ist gewiß, vom Tod, der dahintersteht, wissen wir nichts. Wie wenn
sich nun die freigewordne Seele aufschwänge und zu den lieben Orten flöge, an
denen ohnehin unsre Gedanken weilen? Dann wäre ja der Tod das Schönste,
was nur zu denken ist. Es gibt kein andres Mittel, zu wandern. Körperlich bin
ich für viele lange Jahre an diese Stelle gebunden, seelisch steht mir die Welt
offen. Versuche ichs nicht einmal, zu fliegen? Hier steht in steinernen Krüger
Kirschlorbeerwasser, ein blansäurehaltiges Präparat, dessen scharfer Duft etwas Ele-


Grenzbotcn IV 1904 SJ
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0167" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295386"/>
            <fw type="header" place="top"> Glücksinseln und Träume</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_753" prev="#ID_752"> Wie von Edelsteinen glitzert und statt des Taues Reisiristalle auf den Halmen<lb/>
liegen. Da wird es wohl in einer Dezembernacht noch viel stiller, und man wacht<lb/>
Morgens von der ungewöhnlichen Ruhe auf, in die die Welt tief versunken zu<lb/>
sein scheint, vielleicht auch von der Kälte, besonders aber von dem sonderbaren<lb/>
Schein, der durch die Fenster fällt. Das ist ein Schneetag. Die ganze Nacht hat<lb/>
es ohne Aufhören heruntergeschneit, und nun reicht die Straße fast bis an die<lb/>
Fensterbrüstungen, und die Dächer sind erhöht, der Brunnen trägt eine weiße<lb/>
Mütze, und jeder Dvrnzweig ist um einen Silberstreifen verdoppelt. Nichts ist ver¬<lb/>
gessen, nicht einmal die dürren Wegwartstengel, sie leuchten von ihrer weißen<lb/>
Auflage. Und alle diese weißen Lasten scheinen den Geräuschen des Tages die<lb/>
Hand auf den Mund zu legen. Nur Licht der Wolken und leuchtender Schnee,<lb/>
der einförmige, tiefe Himmel um eine Idee grauer als die Erde, Grau und Grau,<lb/>
nur Morgens und Abends bei tiefstehender Sonne lange bläuliche Schatten; aber<lb/>
über das alles eine Einheit der Stimmung, der nur wir gegenüberstelln, wir, eine<lb/>
kleine Welt, die sich nie so sich selbst fühlt wie in diesen abgeschlossenen Tagen, wo<lb/>
die &#x201E;ambre Welt" wie verloren gegangen ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_754" next="#ID_755"> Als der Geistliche am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis über die Be¬<lb/>
kehrung des Kämmerers ans dem Morgenlande predigte, wo es im Text hieß:<lb/>
&#x201E;Stehe auf und gehe gen Mittag auf die Straße, die von Jerusalem gehet hinab<lb/>
nach Gaza, die da wüste ist; und er stand auf und ging hin," und weiter: &#x201E;Er<lb/>
aber zog seine Straße fröhlich," überfiel mich eine solche Sehnsucht, hinauszuziehn<lb/>
auf irgend einer Straße, und ob sie noch so wüst wäre, daß ich nach der Kirche,<lb/>
ohne einen Menschen zu sprechen oder zu grüßen, hinauseilte und von der Bank<lb/>
am Föhrenwnld in die Ebne schaute, bis ich sie weit, weit hinaus nach Westen<lb/>
geöffnet und an ihrem äußersten Rande befreundete Türme ragen sah. Und da<lb/>
ich nun zum Überfluß in denselben Tagen in Thomas a Kempis den Spruch las:<lb/>
&#x201E;Halte dich wie einen Pilger auf Erden, den der Welt Geschäfte nichts angehn.<lb/>
Bewahre ein freies und zu Gott gerichtetes Herz, weil du hier keine bleibende<lb/>
Stätte hast," so fühlte ich mich nur um so mehr berechtigt, geistig zu wandern,<lb/>
und hoffte es mit der Zeit noch dahin zu bringen, meine sterbliche Hülle allein<lb/>
hier zu lassen und mit der Seele dort zu weilen, wo es sie hinzog. Die Be¬<lb/>
schäftigung mit den Giftstoffen der Apotheke war sehr geeignet zu Betrachtungen<lb/>
über die tötenden und die bloß betäubenden Mittel. Man unterhielt sich gern über<lb/>
das auch heute noch rätselhafte ^oua totans,, dessen furchtbare Wirkungen ähnlich<lb/>
der des Hundswutgiftes und andrer Krankheitskeime sich erst nach geraumer Zeit<lb/>
äußern, oder über die traumerzeugenden Dämpfe der Stechnpfelsnmen, unter deren<lb/>
Einfluß der Geist dessen, der sie einatmete, den Körper verläßt, um umherwandernd<lb/>
die seltsamsten Erfahrungen zu sammeln. Welche interessante Stufenleiter von diesen<lb/>
trägen und aussetzenden Giften bis zu der schlagartig wirkenden Blausäure! Kein<lb/>
Wunder, daß Manfred-Bhrons letzte Worte: 01ä man, 't is not so äMeult to als<lb/>
dem Jüngling-Knaben durchaus uicht mehr fremd ins Ohr klangen. Es schien ihm<lb/>
ja gar nichts so Unvermitteltes und Unvorbereitetes mehr, was man Sterben<lb/>
nannte. Ist Sterben denn notwendig immer Tod? Könnte nicht der Geist diese<lb/>
Hülle verlassen und wieder in sie zurückkehren? Die Alten glaubten, daß er in<lb/>
ihrer Nähe noch längere Zeit verweile, nachdem der Leichnam kalt geworden, und<lb/>
sie ehrten sie, brachten ihr Opfer dar. Was wissen wir denn überhaupt vom<lb/>
Tode? Es hängt doch alles, was wir davon halten, vom Glauben ab. Das<lb/>
Sterben allein ist gewiß, vom Tod, der dahintersteht, wissen wir nichts. Wie wenn<lb/>
sich nun die freigewordne Seele aufschwänge und zu den lieben Orten flöge, an<lb/>
denen ohnehin unsre Gedanken weilen? Dann wäre ja der Tod das Schönste,<lb/>
was nur zu denken ist. Es gibt kein andres Mittel, zu wandern. Körperlich bin<lb/>
ich für viele lange Jahre an diese Stelle gebunden, seelisch steht mir die Welt<lb/>
offen. Versuche ichs nicht einmal, zu fliegen? Hier steht in steinernen Krüger<lb/>
Kirschlorbeerwasser, ein blansäurehaltiges Präparat, dessen scharfer Duft etwas Ele-</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbotcn IV 1904 SJ</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0167] Glücksinseln und Träume Wie von Edelsteinen glitzert und statt des Taues Reisiristalle auf den Halmen liegen. Da wird es wohl in einer Dezembernacht noch viel stiller, und man wacht Morgens von der ungewöhnlichen Ruhe auf, in die die Welt tief versunken zu sein scheint, vielleicht auch von der Kälte, besonders aber von dem sonderbaren Schein, der durch die Fenster fällt. Das ist ein Schneetag. Die ganze Nacht hat es ohne Aufhören heruntergeschneit, und nun reicht die Straße fast bis an die Fensterbrüstungen, und die Dächer sind erhöht, der Brunnen trägt eine weiße Mütze, und jeder Dvrnzweig ist um einen Silberstreifen verdoppelt. Nichts ist ver¬ gessen, nicht einmal die dürren Wegwartstengel, sie leuchten von ihrer weißen Auflage. Und alle diese weißen Lasten scheinen den Geräuschen des Tages die Hand auf den Mund zu legen. Nur Licht der Wolken und leuchtender Schnee, der einförmige, tiefe Himmel um eine Idee grauer als die Erde, Grau und Grau, nur Morgens und Abends bei tiefstehender Sonne lange bläuliche Schatten; aber über das alles eine Einheit der Stimmung, der nur wir gegenüberstelln, wir, eine kleine Welt, die sich nie so sich selbst fühlt wie in diesen abgeschlossenen Tagen, wo die „ambre Welt" wie verloren gegangen ist. Als der Geistliche am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis über die Be¬ kehrung des Kämmerers ans dem Morgenlande predigte, wo es im Text hieß: „Stehe auf und gehe gen Mittag auf die Straße, die von Jerusalem gehet hinab nach Gaza, die da wüste ist; und er stand auf und ging hin," und weiter: „Er aber zog seine Straße fröhlich," überfiel mich eine solche Sehnsucht, hinauszuziehn auf irgend einer Straße, und ob sie noch so wüst wäre, daß ich nach der Kirche, ohne einen Menschen zu sprechen oder zu grüßen, hinauseilte und von der Bank am Föhrenwnld in die Ebne schaute, bis ich sie weit, weit hinaus nach Westen geöffnet und an ihrem äußersten Rande befreundete Türme ragen sah. Und da ich nun zum Überfluß in denselben Tagen in Thomas a Kempis den Spruch las: „Halte dich wie einen Pilger auf Erden, den der Welt Geschäfte nichts angehn. Bewahre ein freies und zu Gott gerichtetes Herz, weil du hier keine bleibende Stätte hast," so fühlte ich mich nur um so mehr berechtigt, geistig zu wandern, und hoffte es mit der Zeit noch dahin zu bringen, meine sterbliche Hülle allein hier zu lassen und mit der Seele dort zu weilen, wo es sie hinzog. Die Be¬ schäftigung mit den Giftstoffen der Apotheke war sehr geeignet zu Betrachtungen über die tötenden und die bloß betäubenden Mittel. Man unterhielt sich gern über das auch heute noch rätselhafte ^oua totans,, dessen furchtbare Wirkungen ähnlich der des Hundswutgiftes und andrer Krankheitskeime sich erst nach geraumer Zeit äußern, oder über die traumerzeugenden Dämpfe der Stechnpfelsnmen, unter deren Einfluß der Geist dessen, der sie einatmete, den Körper verläßt, um umherwandernd die seltsamsten Erfahrungen zu sammeln. Welche interessante Stufenleiter von diesen trägen und aussetzenden Giften bis zu der schlagartig wirkenden Blausäure! Kein Wunder, daß Manfred-Bhrons letzte Worte: 01ä man, 't is not so äMeult to als dem Jüngling-Knaben durchaus uicht mehr fremd ins Ohr klangen. Es schien ihm ja gar nichts so Unvermitteltes und Unvorbereitetes mehr, was man Sterben nannte. Ist Sterben denn notwendig immer Tod? Könnte nicht der Geist diese Hülle verlassen und wieder in sie zurückkehren? Die Alten glaubten, daß er in ihrer Nähe noch längere Zeit verweile, nachdem der Leichnam kalt geworden, und sie ehrten sie, brachten ihr Opfer dar. Was wissen wir denn überhaupt vom Tode? Es hängt doch alles, was wir davon halten, vom Glauben ab. Das Sterben allein ist gewiß, vom Tod, der dahintersteht, wissen wir nichts. Wie wenn sich nun die freigewordne Seele aufschwänge und zu den lieben Orten flöge, an denen ohnehin unsre Gedanken weilen? Dann wäre ja der Tod das Schönste, was nur zu denken ist. Es gibt kein andres Mittel, zu wandern. Körperlich bin ich für viele lange Jahre an diese Stelle gebunden, seelisch steht mir die Welt offen. Versuche ichs nicht einmal, zu fliegen? Hier steht in steinernen Krüger Kirschlorbeerwasser, ein blansäurehaltiges Präparat, dessen scharfer Duft etwas Ele- Grenzbotcn IV 1904 SJ

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/167
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/167>, abgerufen am 29.06.2024.