Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.Kulturkampf und Schisma griffen. Die Prozession, die alljährlich am ersten Sonntage des Augusts zum Wie würden sich nun die kirchlich gesinnten Kreise bei einem Zusammen¬ Kulturkampf und Schisma griffen. Die Prozession, die alljährlich am ersten Sonntage des Augusts zum Wie würden sich nun die kirchlich gesinnten Kreise bei einem Zusammen¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0751" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295168"/> <fw type="header" place="top"> Kulturkampf und Schisma</fw><lb/> <p xml:id="ID_3632" prev="#ID_3631"> griffen. Die Prozession, die alljährlich am ersten Sonntage des Augusts zum<lb/> Denkmal des verbrannten Atheisten Etienne Dolce wallfahrtet, und die vor<lb/> einem Jahre noch eine imposante Kundgebung darstellte, ist diesesmal kläglich<lb/> mißglückt. Kaum so viel Leute hatten sich eingefunden, daß sie einen zu¬<lb/> sammenhängenden Zug bilden konnten. Entschlossene Freidenker sind in Frank¬<lb/> reich ebenso selten wie streng Gläubige.</p><lb/> <p xml:id="ID_3633" next="#ID_3634"> Wie würden sich nun die kirchlich gesinnten Kreise bei einem Zusammen¬<lb/> stoß zwischen der Kirche und dem Vaterlande verhalten? Zweifellos würde<lb/> die Kirche in eine schwere Krise kommen. Die Hunderttausende, die nur aus<lb/> äußerlichen Gründen katholisch sind, werden abfallen, wenn ihnen die Zu¬<lb/> gehörigkeit zu Rom ernste Unannehmlichkeiten zu bereiten anfängt. Gerade<lb/> die sonst kirchentreuen ländlichen Schichten, die sonst zäh an den Formeln des<lb/> Katholizismus festhalten, werden sich an der Geldfrage stoßen, denn es gibt<lb/> Wohl kaum eine Rasse, die so am Gelde hängt, und die so jeden Sou um¬<lb/> dreht, ehe sie ihn ausgibt, wie den französischen Bauern. Viele, und sehr<lb/> viele werden sich von der Kirche abwenden, wenn sie die Kultuskosten, die<lb/> bisher der Staat bezahlte, nun mit einemmal aus eigner Tasche direkt be¬<lb/> gleichen sollen? und der Nachbar, der sich nicht zur Kirche hält, hat diese<lb/> Ausgabe nicht nötig! Dieser Gedanke genügt, daß Vater Jenn oder Pierre<lb/> sehr bald mit sich zu Rate gehn wird, ob er nicht auch außerhalb des<lb/> Schattens der Kirche leben kann, der so kostspielig und dabei doch nicht not¬<lb/> wendig ist, da ja so viele andre auch ohne Priester glücklich und dabei billiger<lb/> leben. Die Optimisten in klerikalen Kreisen setzen sich gern über diese Geld¬<lb/> frage hinweg. Auch der Papst soll, wie kürzlich ein französischer Prälat er¬<lb/> klärte, geäußert haben, er fürchte die Trennung der Kirche vom Staate ganz<lb/> und gar nicht. Im Vatikan sei man auf alle Fälle gerüstet. Doch wird man<lb/> zugeben müssen, daß ein großer Teil der Priester, besonders auf dem Lande<lb/> und in armen, kleinen Gemeinden in eine recht üble, ja fast unhaltbare Lage<lb/> käme, wenn der Staat ihr Gehalt cinbehielte. Da sie einer bürgerlichen Be¬<lb/> schäftigung nicht nachgehn können, wären sie bald vor die Wahl gestellt, zu<lb/> verhungern oder die Soutauc auszuziehn. In den großen Städten gibt es<lb/> Pfarreien mit einem Etat von 150000 Franken nud darüber. Da spielt der<lb/> Betrag von 1500 Franken, die der Staat bisher als Besoldung für einen<lb/> Cure bezahlte, keine Rolle, aber in ländlichen Bezirken von oft nicht mehr<lb/> als dreihundert Seelen? Es ist bitter, daß diese Geldfragen auch in die er¬<lb/> habensten Dinge mit hineinspielen sollen, aber es ist Tatsache, und Tatsachen<lb/> lassen sich nicht wegdeuteln, wie Tocqueville sagt. Sie sind unerbittlich und<lb/> nach dem Worte Montaignes oft sogar unverschämt. Es hilft nichts, die<lb/> Augen vor ihnen zu verschließen. Gerade im Interesse des Klerus und aller<lb/> kirchlichen Kreise läge es, sich auf schlimme Eventualitäten zu rüsten, damit<lb/> die Kirche eher Aussicht hat, die Kraftprobe mit Aussicht auf Erfolg zu be¬<lb/> steh». Um der Gefahr zu begegnen, sollte man jetzt schon an die Bildung<lb/> von Pfarrei- und Diözescmkafsen gehn, um unbemittelte Amtsbruder über<lb/> Wasser zu halten und armen Gemeinden die Seelsorge zu erhalten. Das<lb/> Unterstütznngswesen ans Gegenseitigkeit, die innen.iMv, ist heute eins der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0751]
Kulturkampf und Schisma
griffen. Die Prozession, die alljährlich am ersten Sonntage des Augusts zum
Denkmal des verbrannten Atheisten Etienne Dolce wallfahrtet, und die vor
einem Jahre noch eine imposante Kundgebung darstellte, ist diesesmal kläglich
mißglückt. Kaum so viel Leute hatten sich eingefunden, daß sie einen zu¬
sammenhängenden Zug bilden konnten. Entschlossene Freidenker sind in Frank¬
reich ebenso selten wie streng Gläubige.
Wie würden sich nun die kirchlich gesinnten Kreise bei einem Zusammen¬
stoß zwischen der Kirche und dem Vaterlande verhalten? Zweifellos würde
die Kirche in eine schwere Krise kommen. Die Hunderttausende, die nur aus
äußerlichen Gründen katholisch sind, werden abfallen, wenn ihnen die Zu¬
gehörigkeit zu Rom ernste Unannehmlichkeiten zu bereiten anfängt. Gerade
die sonst kirchentreuen ländlichen Schichten, die sonst zäh an den Formeln des
Katholizismus festhalten, werden sich an der Geldfrage stoßen, denn es gibt
Wohl kaum eine Rasse, die so am Gelde hängt, und die so jeden Sou um¬
dreht, ehe sie ihn ausgibt, wie den französischen Bauern. Viele, und sehr
viele werden sich von der Kirche abwenden, wenn sie die Kultuskosten, die
bisher der Staat bezahlte, nun mit einemmal aus eigner Tasche direkt be¬
gleichen sollen? und der Nachbar, der sich nicht zur Kirche hält, hat diese
Ausgabe nicht nötig! Dieser Gedanke genügt, daß Vater Jenn oder Pierre
sehr bald mit sich zu Rate gehn wird, ob er nicht auch außerhalb des
Schattens der Kirche leben kann, der so kostspielig und dabei doch nicht not¬
wendig ist, da ja so viele andre auch ohne Priester glücklich und dabei billiger
leben. Die Optimisten in klerikalen Kreisen setzen sich gern über diese Geld¬
frage hinweg. Auch der Papst soll, wie kürzlich ein französischer Prälat er¬
klärte, geäußert haben, er fürchte die Trennung der Kirche vom Staate ganz
und gar nicht. Im Vatikan sei man auf alle Fälle gerüstet. Doch wird man
zugeben müssen, daß ein großer Teil der Priester, besonders auf dem Lande
und in armen, kleinen Gemeinden in eine recht üble, ja fast unhaltbare Lage
käme, wenn der Staat ihr Gehalt cinbehielte. Da sie einer bürgerlichen Be¬
schäftigung nicht nachgehn können, wären sie bald vor die Wahl gestellt, zu
verhungern oder die Soutauc auszuziehn. In den großen Städten gibt es
Pfarreien mit einem Etat von 150000 Franken nud darüber. Da spielt der
Betrag von 1500 Franken, die der Staat bisher als Besoldung für einen
Cure bezahlte, keine Rolle, aber in ländlichen Bezirken von oft nicht mehr
als dreihundert Seelen? Es ist bitter, daß diese Geldfragen auch in die er¬
habensten Dinge mit hineinspielen sollen, aber es ist Tatsache, und Tatsachen
lassen sich nicht wegdeuteln, wie Tocqueville sagt. Sie sind unerbittlich und
nach dem Worte Montaignes oft sogar unverschämt. Es hilft nichts, die
Augen vor ihnen zu verschließen. Gerade im Interesse des Klerus und aller
kirchlichen Kreise läge es, sich auf schlimme Eventualitäten zu rüsten, damit
die Kirche eher Aussicht hat, die Kraftprobe mit Aussicht auf Erfolg zu be¬
steh». Um der Gefahr zu begegnen, sollte man jetzt schon an die Bildung
von Pfarrei- und Diözescmkafsen gehn, um unbemittelte Amtsbruder über
Wasser zu halten und armen Gemeinden die Seelsorge zu erhalten. Das
Unterstütznngswesen ans Gegenseitigkeit, die innen.iMv, ist heute eins der
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