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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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weltliche Musik im alten Leipzig

in den zweiten vier Takten auf die tiefere Quarte ihre Freude und an dem
bescheidnen Lauf- und Kräuselspiel der Melodie und den kleinen fugischen Nach¬
ahmungen zwischen Tenor und Baß. Wie reizend klang es vollends, wenn
vielleicht jede der viertaktigen Gruppen das erstemal frisch und stark, bei der
sogleich folgenden Wiederholung aber leise und lieblich geblasen wurde!

Das bildungsstolze Wort eines Meistersingers des dreizehnten Jahrhun¬
derts "Getön ohne Worte ist ein toter Lärm" galt nicht mehr. Und doch:
war es verwehrt, auch jetzt noch in eine Tanzmelodie mitzusingen, wenn sie
zugleich die eines Liedes war, etwa das auch als Tanz aus dem Leipzig des
sechzehnten Jahrhunderts bezeugte "Die Mägdlein sind von Flandern"? Gewiß
bestand ja doch die Hälfte eines Straßenstündchens der hofierenden Stadtpfeifer
aus mehrstimmig gesetzten Liedern, deren volkstümliche Hauptmelodie hüben in
der Reichsstraße an dem offnen Erkerfenster des ersten Stocks die Patriziertöchter
und drüben in der Grimmischen Straße im offnen Dachfensterchen der verliebte
Schiller mitsummten. Und zu Hochzeiten wurden nicht nur die Pfeifer bestellt,
sondern anch der Schulkantor mit einem Altisten, einem Bassisten und einem
kleinen Diskcmtisten: diese sangen Trink- und Liebeslieder, wie "Frisch auf. gut
Gsell, laß umher gahn," oder "Ach du edler Rebensaft" und "Ich bitt dich
Mägdlein, hab mich hold," und die Jnstrumentisten bliesen die vier Stimmen
mit. Auf der Leipziger Messe erschienen noch immer "fahrende Sänger" und
trugen politische Lieder des Tages zu der seit uralten Zeiten im Volke kaun,
veränderten Harfe vor, die gesungne Melodie auf den Harfensaiten mitklimpernd.
Entsprechend dem Dudelsack der Bläser war ebenfalls längst und erst recht noch
um sechzehnten Jahrhundert das primitivste mehrstimmige Saiteninstrument in
Gebrauch, die Drehleier, mit ihren beiden liegenden, wie eine Hummel brum¬
menden Quintbaßsaiten und der einen durch Greifen verkürzbaren, d. h. melo¬
disch veränderbaren Melodiesaite, die alle drei zusammen durch ein mit der
Rechten gedrehtes Rad zum Klingen gebracht wurden. Sie war das Begleit¬
instrument der liedersiugenden niedrigen Stadtkreise, namentlich der Handwerks¬
gesellen, wenn sie, wie Hans Sachs sagt,

"der gar als volle Bruder

Wer ein wenig mehr von Musik verstand und eine mehrstimmige Kompo¬
sition übersehen konnte, nahm zur Begleitung seines Gesanges am liebsten die
Laute in die Hand. Weit verbreitet war namentlich ihre geringere Zwillings-
schwester. die Quinterne, die Vorläuferin der Guitarre, auf der man eine ein¬
fachere mehrstimmige Liedbearbeitung vortrug und nur den Tenor mit hinein-
s""g- Es ist Messe, dort hat ein Zahnbrecher seinen Handel aufgeschlagen
und läßt einen Leipziger zur Ader, der läßt sich derweile etwas vormusizieren,
um während der Kur bei guter Laune zu bleiben:


weltliche Musik im alten Leipzig

in den zweiten vier Takten auf die tiefere Quarte ihre Freude und an dem
bescheidnen Lauf- und Kräuselspiel der Melodie und den kleinen fugischen Nach¬
ahmungen zwischen Tenor und Baß. Wie reizend klang es vollends, wenn
vielleicht jede der viertaktigen Gruppen das erstemal frisch und stark, bei der
sogleich folgenden Wiederholung aber leise und lieblich geblasen wurde!

Das bildungsstolze Wort eines Meistersingers des dreizehnten Jahrhun¬
derts „Getön ohne Worte ist ein toter Lärm" galt nicht mehr. Und doch:
war es verwehrt, auch jetzt noch in eine Tanzmelodie mitzusingen, wenn sie
zugleich die eines Liedes war, etwa das auch als Tanz aus dem Leipzig des
sechzehnten Jahrhunderts bezeugte „Die Mägdlein sind von Flandern"? Gewiß
bestand ja doch die Hälfte eines Straßenstündchens der hofierenden Stadtpfeifer
aus mehrstimmig gesetzten Liedern, deren volkstümliche Hauptmelodie hüben in
der Reichsstraße an dem offnen Erkerfenster des ersten Stocks die Patriziertöchter
und drüben in der Grimmischen Straße im offnen Dachfensterchen der verliebte
Schiller mitsummten. Und zu Hochzeiten wurden nicht nur die Pfeifer bestellt,
sondern anch der Schulkantor mit einem Altisten, einem Bassisten und einem
kleinen Diskcmtisten: diese sangen Trink- und Liebeslieder, wie „Frisch auf. gut
Gsell, laß umher gahn," oder „Ach du edler Rebensaft" und „Ich bitt dich
Mägdlein, hab mich hold," und die Jnstrumentisten bliesen die vier Stimmen
mit. Auf der Leipziger Messe erschienen noch immer „fahrende Sänger" und
trugen politische Lieder des Tages zu der seit uralten Zeiten im Volke kaun,
veränderten Harfe vor, die gesungne Melodie auf den Harfensaiten mitklimpernd.
Entsprechend dem Dudelsack der Bläser war ebenfalls längst und erst recht noch
um sechzehnten Jahrhundert das primitivste mehrstimmige Saiteninstrument in
Gebrauch, die Drehleier, mit ihren beiden liegenden, wie eine Hummel brum¬
menden Quintbaßsaiten und der einen durch Greifen verkürzbaren, d. h. melo¬
disch veränderbaren Melodiesaite, die alle drei zusammen durch ein mit der
Rechten gedrehtes Rad zum Klingen gebracht wurden. Sie war das Begleit¬
instrument der liedersiugenden niedrigen Stadtkreise, namentlich der Handwerks¬
gesellen, wenn sie, wie Hans Sachs sagt,

"der gar als volle Bruder

Wer ein wenig mehr von Musik verstand und eine mehrstimmige Kompo¬
sition übersehen konnte, nahm zur Begleitung seines Gesanges am liebsten die
Laute in die Hand. Weit verbreitet war namentlich ihre geringere Zwillings-
schwester. die Quinterne, die Vorläuferin der Guitarre, auf der man eine ein¬
fachere mehrstimmige Liedbearbeitung vortrug und nur den Tenor mit hinein-
s""g- Es ist Messe, dort hat ein Zahnbrecher seinen Handel aufgeschlagen
und läßt einen Leipziger zur Ader, der läßt sich derweile etwas vormusizieren,
um während der Kur bei guter Laune zu bleiben:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/591>, abgerufen am 26.06.2024.