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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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iLhamberlciins britische Reichspolitik

Der Übergang Englands zum Freihandel erfolgte nicht mit einemmal,
sondern langsam seit dem Jahre 1822, seit den ersten Tarifreformen Ccmnings
und Huskissons, die dann durch die Reformen Peels und Gladstones 1860
zum Abschluß gelangten. Der Zolltarif Peels war noch ein gemäßigter Schutz¬
zolltarif und enthielt, was besonders wichtig ist, Differentialzölle zugunsten der
Kolonien. Diese zahlten in der Regel nur die halben Zölle. Allmählich
wurden die Jndustriezölle beseitigt, und am 1. Juni 1849 fielen nach einem
mehrjährigen erbitterten Kampfe der Antikornzollliga unter Cobden die Getreide¬
zölle. Es war im wesentlichen ein Kampf der Industrie und des Kapitals gegen
die Landwirtschaft. Man ging, wie ich oben schon erwähnt habe, von dem Ge¬
danken aus, England müsse nur den Freihandel einführen, dann würden die
andern Völker schon nachfolgen, und damit würde der englischen Industrie der große
Weltmarkt frei bleiben. Wenn der Freihandel herrsche, so würden die Völker
nicht künstlich Industrien züchten können, sondern diese würden nur da entstehn,
wo die natürlichen Bedingungen besonders günstig wären, im übrigen werde
eine rationelle Arbeitsteilung unter den Völkern entstehn, die einen würden das
Getreide bauen, die andern die Jndustrieprodnkte liefern und gegenseitig aus¬
tauschen, und eitel Glück und Freude müsse bei diesem Verfahren auf der Erde
herrschen.

Dabei war freilich stille Voraussetzung, daß die natürlichen Bedingungen
für die Pflege der Industrie in keinem Lande so trefflich vorhanden wären
wie in England, und die Versorgung der englischen Arbeiter mit billigem Brod¬
getreide erschien als eine sehr schätzenswerte Wirkung des Freihandels. Nun,
die andern Völker glaubten diesem Sirenengesänge nicht, besonders Deutschland
ging, angefeuert durch den genialen Friedrich List, seine eignen Wege zum
Schutzzoll, aber diese Anschauungen galten in England jahrzehntelang als
Dogma, wenn auch uicht unbestritten von der Industrie, und sind es heute
noch für weite Kreise. Ein wirklicher Freihandel besteht freilich auch heilte
noch in England nicht, da Tabak, Branntwein, Tee, Kaffee und einige andre
Waren mit Finanzzöllen belegt sind, und gerade diese Zölle ja die arbeitende
Klasse besonders belasten. Immerhin hatte das englische Vorgehn den Erfolg
gehabt, schon vor der letzten großen Tarifreform Frankreich zu bestimmen,
eine gemäßigtere Schutzzollpolitik zu treiben als bisher und den berühmten
englisch-französischen Handelvertrag, den Cobdenvertrag 1860 abzuschließen,
der die von den englischen Fabrikanten erwarteten Zollerleichtcrungen tatsächlich
brachte.

Frankreich baute diese Art der Handelverträge nun weiter aus, es ge¬
währte den wichtigsten kontinentalen Staaten später noch viel weiter gehende
Zollnachlässe als England. Diese mußten England in Frankreich selbst gemäß
der Meistbegünstigung allerdings auch eingeräumt werden, aber nicht in den
andern Staaten, mit denen Frankreich die Verträge abgeschlossen hatte. Eng¬
land sah sich so bald in ganz eigentümlicher Weise mit Hilfe seines eignen
"Systems" überall von der französischen Industrie bedroht. Es mußte nun
selbst versuchen, mit diesen andern kontinentalen Ländern Verträge abzuschließen.
Da es aber seine Jndustriezölle ganz beseitigt hatte, konnte es diesen Staaten


iLhamberlciins britische Reichspolitik

Der Übergang Englands zum Freihandel erfolgte nicht mit einemmal,
sondern langsam seit dem Jahre 1822, seit den ersten Tarifreformen Ccmnings
und Huskissons, die dann durch die Reformen Peels und Gladstones 1860
zum Abschluß gelangten. Der Zolltarif Peels war noch ein gemäßigter Schutz¬
zolltarif und enthielt, was besonders wichtig ist, Differentialzölle zugunsten der
Kolonien. Diese zahlten in der Regel nur die halben Zölle. Allmählich
wurden die Jndustriezölle beseitigt, und am 1. Juni 1849 fielen nach einem
mehrjährigen erbitterten Kampfe der Antikornzollliga unter Cobden die Getreide¬
zölle. Es war im wesentlichen ein Kampf der Industrie und des Kapitals gegen
die Landwirtschaft. Man ging, wie ich oben schon erwähnt habe, von dem Ge¬
danken aus, England müsse nur den Freihandel einführen, dann würden die
andern Völker schon nachfolgen, und damit würde der englischen Industrie der große
Weltmarkt frei bleiben. Wenn der Freihandel herrsche, so würden die Völker
nicht künstlich Industrien züchten können, sondern diese würden nur da entstehn,
wo die natürlichen Bedingungen besonders günstig wären, im übrigen werde
eine rationelle Arbeitsteilung unter den Völkern entstehn, die einen würden das
Getreide bauen, die andern die Jndustrieprodnkte liefern und gegenseitig aus¬
tauschen, und eitel Glück und Freude müsse bei diesem Verfahren auf der Erde
herrschen.

Dabei war freilich stille Voraussetzung, daß die natürlichen Bedingungen
für die Pflege der Industrie in keinem Lande so trefflich vorhanden wären
wie in England, und die Versorgung der englischen Arbeiter mit billigem Brod¬
getreide erschien als eine sehr schätzenswerte Wirkung des Freihandels. Nun,
die andern Völker glaubten diesem Sirenengesänge nicht, besonders Deutschland
ging, angefeuert durch den genialen Friedrich List, seine eignen Wege zum
Schutzzoll, aber diese Anschauungen galten in England jahrzehntelang als
Dogma, wenn auch uicht unbestritten von der Industrie, und sind es heute
noch für weite Kreise. Ein wirklicher Freihandel besteht freilich auch heilte
noch in England nicht, da Tabak, Branntwein, Tee, Kaffee und einige andre
Waren mit Finanzzöllen belegt sind, und gerade diese Zölle ja die arbeitende
Klasse besonders belasten. Immerhin hatte das englische Vorgehn den Erfolg
gehabt, schon vor der letzten großen Tarifreform Frankreich zu bestimmen,
eine gemäßigtere Schutzzollpolitik zu treiben als bisher und den berühmten
englisch-französischen Handelvertrag, den Cobdenvertrag 1860 abzuschließen,
der die von den englischen Fabrikanten erwarteten Zollerleichtcrungen tatsächlich
brachte.

Frankreich baute diese Art der Handelverträge nun weiter aus, es ge¬
währte den wichtigsten kontinentalen Staaten später noch viel weiter gehende
Zollnachlässe als England. Diese mußten England in Frankreich selbst gemäß
der Meistbegünstigung allerdings auch eingeräumt werden, aber nicht in den
andern Staaten, mit denen Frankreich die Verträge abgeschlossen hatte. Eng¬
land sah sich so bald in ganz eigentümlicher Weise mit Hilfe seines eignen
„Systems" überall von der französischen Industrie bedroht. Es mußte nun
selbst versuchen, mit diesen andern kontinentalen Ländern Verträge abzuschließen.
Da es aber seine Jndustriezölle ganz beseitigt hatte, konnte es diesen Staaten


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[0323] iLhamberlciins britische Reichspolitik Der Übergang Englands zum Freihandel erfolgte nicht mit einemmal, sondern langsam seit dem Jahre 1822, seit den ersten Tarifreformen Ccmnings und Huskissons, die dann durch die Reformen Peels und Gladstones 1860 zum Abschluß gelangten. Der Zolltarif Peels war noch ein gemäßigter Schutz¬ zolltarif und enthielt, was besonders wichtig ist, Differentialzölle zugunsten der Kolonien. Diese zahlten in der Regel nur die halben Zölle. Allmählich wurden die Jndustriezölle beseitigt, und am 1. Juni 1849 fielen nach einem mehrjährigen erbitterten Kampfe der Antikornzollliga unter Cobden die Getreide¬ zölle. Es war im wesentlichen ein Kampf der Industrie und des Kapitals gegen die Landwirtschaft. Man ging, wie ich oben schon erwähnt habe, von dem Ge¬ danken aus, England müsse nur den Freihandel einführen, dann würden die andern Völker schon nachfolgen, und damit würde der englischen Industrie der große Weltmarkt frei bleiben. Wenn der Freihandel herrsche, so würden die Völker nicht künstlich Industrien züchten können, sondern diese würden nur da entstehn, wo die natürlichen Bedingungen besonders günstig wären, im übrigen werde eine rationelle Arbeitsteilung unter den Völkern entstehn, die einen würden das Getreide bauen, die andern die Jndustrieprodnkte liefern und gegenseitig aus¬ tauschen, und eitel Glück und Freude müsse bei diesem Verfahren auf der Erde herrschen. Dabei war freilich stille Voraussetzung, daß die natürlichen Bedingungen für die Pflege der Industrie in keinem Lande so trefflich vorhanden wären wie in England, und die Versorgung der englischen Arbeiter mit billigem Brod¬ getreide erschien als eine sehr schätzenswerte Wirkung des Freihandels. Nun, die andern Völker glaubten diesem Sirenengesänge nicht, besonders Deutschland ging, angefeuert durch den genialen Friedrich List, seine eignen Wege zum Schutzzoll, aber diese Anschauungen galten in England jahrzehntelang als Dogma, wenn auch uicht unbestritten von der Industrie, und sind es heute noch für weite Kreise. Ein wirklicher Freihandel besteht freilich auch heilte noch in England nicht, da Tabak, Branntwein, Tee, Kaffee und einige andre Waren mit Finanzzöllen belegt sind, und gerade diese Zölle ja die arbeitende Klasse besonders belasten. Immerhin hatte das englische Vorgehn den Erfolg gehabt, schon vor der letzten großen Tarifreform Frankreich zu bestimmen, eine gemäßigtere Schutzzollpolitik zu treiben als bisher und den berühmten englisch-französischen Handelvertrag, den Cobdenvertrag 1860 abzuschließen, der die von den englischen Fabrikanten erwarteten Zollerleichtcrungen tatsächlich brachte. Frankreich baute diese Art der Handelverträge nun weiter aus, es ge¬ währte den wichtigsten kontinentalen Staaten später noch viel weiter gehende Zollnachlässe als England. Diese mußten England in Frankreich selbst gemäß der Meistbegünstigung allerdings auch eingeräumt werden, aber nicht in den andern Staaten, mit denen Frankreich die Verträge abgeschlossen hatte. Eng¬ land sah sich so bald in ganz eigentümlicher Weise mit Hilfe seines eignen „Systems" überall von der französischen Industrie bedroht. Es mußte nun selbst versuchen, mit diesen andern kontinentalen Ländern Verträge abzuschließen. Da es aber seine Jndustriezölle ganz beseitigt hatte, konnte es diesen Staaten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/323>, abgerufen am 23.07.2024.