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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

hegendes Wesen/' von dem dann noch bewiesen wird, daß es bewußter Geist und
Liebe sein müsse. Das Freiheitsproblem stellt Wolliger in einem Bilde dar. Ein
Bauer geht mit seiner Kuh zu Markte; er ist frei, sie gezwungen. So wenigstens
meine die Mehrheit. Haben nun etwa die Deterministen Recht mit ihrer Be¬
hauptung, der Bauer und seine Kuh befänden sich in derselben Lage; werde sie an
sichtbaren Seilen geführt, so er an unsichtbaren? Im Gegensatz zu Kant ist Völliger
überzeugt, daß das Handeln des Menschen immer und ausnahmslos durch das Ver¬
langen nach Lust und die Flucht vor Unlust bestimmt werde, aber er findet den
Beweis der Freiheit darin, daß uns nicht immer die höchste im Augenblick erreich¬
bare Lust bestimmt. Die Beweise für das Dasein Gottes und für die Wirklichkeit
der Freiheit befriedigen in ihrer vollständigen Ausführung; weniger unbedingt ver¬
mögen wir dem Beweise für die persönliche Unsterblichkeit beizupflichten, der hier
und da ein wenig an okkultistische Phantasien streift. Im ganzen ist das Büchlein
vortrefflich und sehr zu empfehlen.

Nach Charles Ferguson (Lebensbejahung. Eine Darstellung des Ur¬
sprungs und der Mission des amerikanischen Geistes; Leipzig, Eugen Diederichs,
1903) besteht die Urhunde in der Passivität gegenüber der Außenwelt; der Mensch
hat nicht von dieser das Gesetz zu empfangen, sondern er hat es ihr zu geben.
Sich selbst und die Welt hat der Mensch wollend zu schaffen, zu gestalten, und
dem Willen gebührt die Herrschaft auch über den Intellekt. "Das uneigennützige
Trachten nach Wahrheit ist im besten Fall eine unbewußte Ziererei, die Blindheit
des Pharisäers. . . . Reine Wissenschaft, Wissenschaft um ihrer selbst willen ist
überhaupt keine Wissenschaft. Die Natur verspottet und umgeht den passiven
Intellekt, das Eunuchentum des Geistes." Die Biologen haben uns unsrer äffischen
Verwandtschaft überlassen, ohne uns Winke zur Wahrung unsrer Würde zu geben.
Sie hoben kein Prinzip des Fortschritts entdeckt; sie zeigen uns nichts als zufällige
Veränderungen und einen bedeutungslosen Kreislauf; zu zeigen, wie es zugeht, daß
das Leben aufwärts steigt, daß es zu Höheren, zu Bessern fortschreitet, ist ihnen
nicht gelungen. "Die Religion ist ein Protest gegen die antimenschlichen Elemente,
ein Auflehnen gegen die scheinbar gefühllosen Mächte der Natur; sie vertritt die
Freiheit gegenüber dem Gesetz." Die christliche Kirche wird sich allmählich von
ihren historischen Hülsen, vom Ekklesiastizismus, Sakramentalismus und Dogma¬
tismus befreien und in der demokratischen Laienkirche Amerikas ihre Vollendung
erreichen. Der Verfasser, der Ire und Katholik zu sein scheint, preist das be¬
rüchtigte Tcimmany, das zu herrsche" verdiene, "weil es auf Abstraktionen ver¬
zichtet und in der Kraft des bejahenden Geistes handelt." Es konnte doch auch
sein, daß die Dinge in Amerika zurückgingen, statt sich vorwärts zu entwickeln.
Vorläufig ist nur so viel klar, daß der demokratische, freiheitliche und allen Ab¬
straktionen feindliche Geist Nordamerikas das Produkt der aus Europa einge¬
wanderten, durchweg den niedern und mittlern Volksschichten, den verfolgten und
unterdrückten Parteien entstammenden Massen und des weiten Raumes, des wohl¬
feilen Bodens ist. Je dichter die Bevölkerung wird, und je mehr sie sich differenziert,
desto mehr wird der demokratische Charakter schwinden, und desto mehr wird die
Freiheit eingeengt werden. Es ist darum fraglich, ob der amerikanische Geist der
Geist der Zukunftsmeuschheit, oder ob er nur der Geist einer schon im Schwinden
begriffnen Periode und einer durch äußere Umstände eine Zeit lang begünstigten
Bevölkerung ist. -- Nur in der Bewegungsfreiheit und in der Fülle natürlicher
Güter, die das weite und reiche Nordamerika seinen in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts noch spärlichen Bewohnern bot, konnte die lebens- und genußfreudige,
durch ihren wilden animalischen Charakter den noch in puritanischen Traditionell
befangnen Sinn des Bruders Jonathan beleidigende Poesie Walt Whitmans
entstehn. Von seinen Grashalmen, einer Auswahl nur, hat Wilhelm Schüler¬
in an n eine neue deutsche Übersetzung gewagt und mit einer Einleitung (bei Eugen
Diederichs in Leipzig 1904) herausgegeben.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

hegendes Wesen/' von dem dann noch bewiesen wird, daß es bewußter Geist und
Liebe sein müsse. Das Freiheitsproblem stellt Wolliger in einem Bilde dar. Ein
Bauer geht mit seiner Kuh zu Markte; er ist frei, sie gezwungen. So wenigstens
meine die Mehrheit. Haben nun etwa die Deterministen Recht mit ihrer Be¬
hauptung, der Bauer und seine Kuh befänden sich in derselben Lage; werde sie an
sichtbaren Seilen geführt, so er an unsichtbaren? Im Gegensatz zu Kant ist Völliger
überzeugt, daß das Handeln des Menschen immer und ausnahmslos durch das Ver¬
langen nach Lust und die Flucht vor Unlust bestimmt werde, aber er findet den
Beweis der Freiheit darin, daß uns nicht immer die höchste im Augenblick erreich¬
bare Lust bestimmt. Die Beweise für das Dasein Gottes und für die Wirklichkeit
der Freiheit befriedigen in ihrer vollständigen Ausführung; weniger unbedingt ver¬
mögen wir dem Beweise für die persönliche Unsterblichkeit beizupflichten, der hier
und da ein wenig an okkultistische Phantasien streift. Im ganzen ist das Büchlein
vortrefflich und sehr zu empfehlen.

Nach Charles Ferguson (Lebensbejahung. Eine Darstellung des Ur¬
sprungs und der Mission des amerikanischen Geistes; Leipzig, Eugen Diederichs,
1903) besteht die Urhunde in der Passivität gegenüber der Außenwelt; der Mensch
hat nicht von dieser das Gesetz zu empfangen, sondern er hat es ihr zu geben.
Sich selbst und die Welt hat der Mensch wollend zu schaffen, zu gestalten, und
dem Willen gebührt die Herrschaft auch über den Intellekt. „Das uneigennützige
Trachten nach Wahrheit ist im besten Fall eine unbewußte Ziererei, die Blindheit
des Pharisäers. . . . Reine Wissenschaft, Wissenschaft um ihrer selbst willen ist
überhaupt keine Wissenschaft. Die Natur verspottet und umgeht den passiven
Intellekt, das Eunuchentum des Geistes." Die Biologen haben uns unsrer äffischen
Verwandtschaft überlassen, ohne uns Winke zur Wahrung unsrer Würde zu geben.
Sie hoben kein Prinzip des Fortschritts entdeckt; sie zeigen uns nichts als zufällige
Veränderungen und einen bedeutungslosen Kreislauf; zu zeigen, wie es zugeht, daß
das Leben aufwärts steigt, daß es zu Höheren, zu Bessern fortschreitet, ist ihnen
nicht gelungen. „Die Religion ist ein Protest gegen die antimenschlichen Elemente,
ein Auflehnen gegen die scheinbar gefühllosen Mächte der Natur; sie vertritt die
Freiheit gegenüber dem Gesetz." Die christliche Kirche wird sich allmählich von
ihren historischen Hülsen, vom Ekklesiastizismus, Sakramentalismus und Dogma¬
tismus befreien und in der demokratischen Laienkirche Amerikas ihre Vollendung
erreichen. Der Verfasser, der Ire und Katholik zu sein scheint, preist das be¬
rüchtigte Tcimmany, das zu herrsche» verdiene, „weil es auf Abstraktionen ver¬
zichtet und in der Kraft des bejahenden Geistes handelt." Es konnte doch auch
sein, daß die Dinge in Amerika zurückgingen, statt sich vorwärts zu entwickeln.
Vorläufig ist nur so viel klar, daß der demokratische, freiheitliche und allen Ab¬
straktionen feindliche Geist Nordamerikas das Produkt der aus Europa einge¬
wanderten, durchweg den niedern und mittlern Volksschichten, den verfolgten und
unterdrückten Parteien entstammenden Massen und des weiten Raumes, des wohl¬
feilen Bodens ist. Je dichter die Bevölkerung wird, und je mehr sie sich differenziert,
desto mehr wird der demokratische Charakter schwinden, und desto mehr wird die
Freiheit eingeengt werden. Es ist darum fraglich, ob der amerikanische Geist der
Geist der Zukunftsmeuschheit, oder ob er nur der Geist einer schon im Schwinden
begriffnen Periode und einer durch äußere Umstände eine Zeit lang begünstigten
Bevölkerung ist. — Nur in der Bewegungsfreiheit und in der Fülle natürlicher
Güter, die das weite und reiche Nordamerika seinen in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts noch spärlichen Bewohnern bot, konnte die lebens- und genußfreudige,
durch ihren wilden animalischen Charakter den noch in puritanischen Traditionell
befangnen Sinn des Bruders Jonathan beleidigende Poesie Walt Whitmans
entstehn. Von seinen Grashalmen, einer Auswahl nur, hat Wilhelm Schüler¬
in an n eine neue deutsche Übersetzung gewagt und mit einer Einleitung (bei Eugen
Diederichs in Leipzig 1904) herausgegeben.


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[0184] Maßgebliches und Unmaßgebliches hegendes Wesen/' von dem dann noch bewiesen wird, daß es bewußter Geist und Liebe sein müsse. Das Freiheitsproblem stellt Wolliger in einem Bilde dar. Ein Bauer geht mit seiner Kuh zu Markte; er ist frei, sie gezwungen. So wenigstens meine die Mehrheit. Haben nun etwa die Deterministen Recht mit ihrer Be¬ hauptung, der Bauer und seine Kuh befänden sich in derselben Lage; werde sie an sichtbaren Seilen geführt, so er an unsichtbaren? Im Gegensatz zu Kant ist Völliger überzeugt, daß das Handeln des Menschen immer und ausnahmslos durch das Ver¬ langen nach Lust und die Flucht vor Unlust bestimmt werde, aber er findet den Beweis der Freiheit darin, daß uns nicht immer die höchste im Augenblick erreich¬ bare Lust bestimmt. Die Beweise für das Dasein Gottes und für die Wirklichkeit der Freiheit befriedigen in ihrer vollständigen Ausführung; weniger unbedingt ver¬ mögen wir dem Beweise für die persönliche Unsterblichkeit beizupflichten, der hier und da ein wenig an okkultistische Phantasien streift. Im ganzen ist das Büchlein vortrefflich und sehr zu empfehlen. Nach Charles Ferguson (Lebensbejahung. Eine Darstellung des Ur¬ sprungs und der Mission des amerikanischen Geistes; Leipzig, Eugen Diederichs, 1903) besteht die Urhunde in der Passivität gegenüber der Außenwelt; der Mensch hat nicht von dieser das Gesetz zu empfangen, sondern er hat es ihr zu geben. Sich selbst und die Welt hat der Mensch wollend zu schaffen, zu gestalten, und dem Willen gebührt die Herrschaft auch über den Intellekt. „Das uneigennützige Trachten nach Wahrheit ist im besten Fall eine unbewußte Ziererei, die Blindheit des Pharisäers. . . . Reine Wissenschaft, Wissenschaft um ihrer selbst willen ist überhaupt keine Wissenschaft. Die Natur verspottet und umgeht den passiven Intellekt, das Eunuchentum des Geistes." Die Biologen haben uns unsrer äffischen Verwandtschaft überlassen, ohne uns Winke zur Wahrung unsrer Würde zu geben. Sie hoben kein Prinzip des Fortschritts entdeckt; sie zeigen uns nichts als zufällige Veränderungen und einen bedeutungslosen Kreislauf; zu zeigen, wie es zugeht, daß das Leben aufwärts steigt, daß es zu Höheren, zu Bessern fortschreitet, ist ihnen nicht gelungen. „Die Religion ist ein Protest gegen die antimenschlichen Elemente, ein Auflehnen gegen die scheinbar gefühllosen Mächte der Natur; sie vertritt die Freiheit gegenüber dem Gesetz." Die christliche Kirche wird sich allmählich von ihren historischen Hülsen, vom Ekklesiastizismus, Sakramentalismus und Dogma¬ tismus befreien und in der demokratischen Laienkirche Amerikas ihre Vollendung erreichen. Der Verfasser, der Ire und Katholik zu sein scheint, preist das be¬ rüchtigte Tcimmany, das zu herrsche» verdiene, „weil es auf Abstraktionen ver¬ zichtet und in der Kraft des bejahenden Geistes handelt." Es konnte doch auch sein, daß die Dinge in Amerika zurückgingen, statt sich vorwärts zu entwickeln. Vorläufig ist nur so viel klar, daß der demokratische, freiheitliche und allen Ab¬ straktionen feindliche Geist Nordamerikas das Produkt der aus Europa einge¬ wanderten, durchweg den niedern und mittlern Volksschichten, den verfolgten und unterdrückten Parteien entstammenden Massen und des weiten Raumes, des wohl¬ feilen Bodens ist. Je dichter die Bevölkerung wird, und je mehr sie sich differenziert, desto mehr wird der demokratische Charakter schwinden, und desto mehr wird die Freiheit eingeengt werden. Es ist darum fraglich, ob der amerikanische Geist der Geist der Zukunftsmeuschheit, oder ob er nur der Geist einer schon im Schwinden begriffnen Periode und einer durch äußere Umstände eine Zeit lang begünstigten Bevölkerung ist. — Nur in der Bewegungsfreiheit und in der Fülle natürlicher Güter, die das weite und reiche Nordamerika seinen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts noch spärlichen Bewohnern bot, konnte die lebens- und genußfreudige, durch ihren wilden animalischen Charakter den noch in puritanischen Traditionell befangnen Sinn des Bruders Jonathan beleidigende Poesie Walt Whitmans entstehn. Von seinen Grashalmen, einer Auswahl nur, hat Wilhelm Schüler¬ in an n eine neue deutsche Übersetzung gewagt und mit einer Einleitung (bei Eugen Diederichs in Leipzig 1904) herausgegeben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/184>, abgerufen am 23.07.2024.