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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Goethe als Erneuerer

Den tröstlichen Spruch "Wo mirs wohlgeht, ist mein Vaterland" findet er
in den Wanderjahren besser so ausgedrückt: "Wo ich nütze, ist mein Vater¬
land." Als in der Neuen Melusine der erzählende Barbier gegen seine wunder¬
schöne Gemahlin mit den verratenden Worten herausfährt: "Was will der
Zwerg?" und dabei den Becher umstößt, wird ihm von ihr die vielsagende
Antwort: "Hier ist viel verschüttet." In Venedig spazierend beobachtet Goethe
manche architektonische Vorrichtungen, die von der Absicht trefflicher Baumeister
zeugen, "Venedig zu der reinsten Stadt zu machen. Ich konnte nicht unter¬
lassen, gleich im Spazierengehn eine Anordnung deshalb zu entwerfen und
einem Polizeivorsteher, dem es Ernst wäre, in Gedanken vorzuarbeiten. So
hat man immer Trieb und Lust, vor fremden Türen zu kehren" -- woran sich
dann später schließt:

Es bedarf kaum des Hinweises, daß Goethes Vermögen, alte poetische
Pläne, zeitweise nur schwankend gesehene Gestalten spät in dem Licht vollendeter
Dichtung plastisch werden zu lassen, ebenso wie sein sehr bewußt zugreifendes
Unbilden alter fertiger Werke zusammenhängt mit der immer wieder sich ein¬
stellenden Frische seines -- wenn auch auf verschiedner ästhetischer Stufe --
zugleich Objekt und Subjekt erneuernden Gemüts. Man denke an die ver-
schiednen Fassungen der Iphigenie und des Götz, an die periodische Stückarbeit
am Faust, an Äußerungen aus Italien wie die, daß Claudine ganz neu aus¬
geführt und die alte Spreu seiner Existenz herausgeschwungen, daß der ganze
Tasso um und um, durch und durch gedacht werde. Die Grundgedanken der
Ballade Mignon -- auch dies eine der wunderlichen Schatzhebungen in den
Wanderjahren -- werden dort (II, Kap. 7) fast alle abermals dargeboten,
ebenso wie eine Erneuerung von Motiven aus dem Sänger; auch die Vor¬
stellung von dem Schleier der Dichtung, den die Wahrheit reicht, klingt dort
wieder an in den Zeilen:

ähnlich wie das epigrammatische Distichon über Selbsterkenntnis und Ver¬
ständnis der andern dort in der mildern Form wiederkehrt:


mitten auf dem friedlichsten Frühlingsspaziergang durch ein Tal bei Palermo Hannibals hier
gelieferte Schlachten auftischt, verweist er unfreundlich "das fatale Hervorrufen solcher abge-
fchiednen Gespenster." Und er selbst ist es, der in dem Gedicht "Rechenschaft" berichtet:
Grenzboten III 1904 21
Goethe als Erneuerer

Den tröstlichen Spruch „Wo mirs wohlgeht, ist mein Vaterland" findet er
in den Wanderjahren besser so ausgedrückt: „Wo ich nütze, ist mein Vater¬
land." Als in der Neuen Melusine der erzählende Barbier gegen seine wunder¬
schöne Gemahlin mit den verratenden Worten herausfährt: „Was will der
Zwerg?" und dabei den Becher umstößt, wird ihm von ihr die vielsagende
Antwort: „Hier ist viel verschüttet." In Venedig spazierend beobachtet Goethe
manche architektonische Vorrichtungen, die von der Absicht trefflicher Baumeister
zeugen, „Venedig zu der reinsten Stadt zu machen. Ich konnte nicht unter¬
lassen, gleich im Spazierengehn eine Anordnung deshalb zu entwerfen und
einem Polizeivorsteher, dem es Ernst wäre, in Gedanken vorzuarbeiten. So
hat man immer Trieb und Lust, vor fremden Türen zu kehren" — woran sich
dann später schließt:

Es bedarf kaum des Hinweises, daß Goethes Vermögen, alte poetische
Pläne, zeitweise nur schwankend gesehene Gestalten spät in dem Licht vollendeter
Dichtung plastisch werden zu lassen, ebenso wie sein sehr bewußt zugreifendes
Unbilden alter fertiger Werke zusammenhängt mit der immer wieder sich ein¬
stellenden Frische seines — wenn auch auf verschiedner ästhetischer Stufe —
zugleich Objekt und Subjekt erneuernden Gemüts. Man denke an die ver-
schiednen Fassungen der Iphigenie und des Götz, an die periodische Stückarbeit
am Faust, an Äußerungen aus Italien wie die, daß Claudine ganz neu aus¬
geführt und die alte Spreu seiner Existenz herausgeschwungen, daß der ganze
Tasso um und um, durch und durch gedacht werde. Die Grundgedanken der
Ballade Mignon — auch dies eine der wunderlichen Schatzhebungen in den
Wanderjahren — werden dort (II, Kap. 7) fast alle abermals dargeboten,
ebenso wie eine Erneuerung von Motiven aus dem Sänger; auch die Vor¬
stellung von dem Schleier der Dichtung, den die Wahrheit reicht, klingt dort
wieder an in den Zeilen:

ähnlich wie das epigrammatische Distichon über Selbsterkenntnis und Ver¬
ständnis der andern dort in der mildern Form wiederkehrt:


mitten auf dem friedlichsten Frühlingsspaziergang durch ein Tal bei Palermo Hannibals hier
gelieferte Schlachten auftischt, verweist er unfreundlich „das fatale Hervorrufen solcher abge-
fchiednen Gespenster." Und er selbst ist es, der in dem Gedicht „Rechenschaft" berichtet:
Grenzboten III 1904 21
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[0161] Goethe als Erneuerer Den tröstlichen Spruch „Wo mirs wohlgeht, ist mein Vaterland" findet er in den Wanderjahren besser so ausgedrückt: „Wo ich nütze, ist mein Vater¬ land." Als in der Neuen Melusine der erzählende Barbier gegen seine wunder¬ schöne Gemahlin mit den verratenden Worten herausfährt: „Was will der Zwerg?" und dabei den Becher umstößt, wird ihm von ihr die vielsagende Antwort: „Hier ist viel verschüttet." In Venedig spazierend beobachtet Goethe manche architektonische Vorrichtungen, die von der Absicht trefflicher Baumeister zeugen, „Venedig zu der reinsten Stadt zu machen. Ich konnte nicht unter¬ lassen, gleich im Spazierengehn eine Anordnung deshalb zu entwerfen und einem Polizeivorsteher, dem es Ernst wäre, in Gedanken vorzuarbeiten. So hat man immer Trieb und Lust, vor fremden Türen zu kehren" — woran sich dann später schließt: Es bedarf kaum des Hinweises, daß Goethes Vermögen, alte poetische Pläne, zeitweise nur schwankend gesehene Gestalten spät in dem Licht vollendeter Dichtung plastisch werden zu lassen, ebenso wie sein sehr bewußt zugreifendes Unbilden alter fertiger Werke zusammenhängt mit der immer wieder sich ein¬ stellenden Frische seines — wenn auch auf verschiedner ästhetischer Stufe — zugleich Objekt und Subjekt erneuernden Gemüts. Man denke an die ver- schiednen Fassungen der Iphigenie und des Götz, an die periodische Stückarbeit am Faust, an Äußerungen aus Italien wie die, daß Claudine ganz neu aus¬ geführt und die alte Spreu seiner Existenz herausgeschwungen, daß der ganze Tasso um und um, durch und durch gedacht werde. Die Grundgedanken der Ballade Mignon — auch dies eine der wunderlichen Schatzhebungen in den Wanderjahren — werden dort (II, Kap. 7) fast alle abermals dargeboten, ebenso wie eine Erneuerung von Motiven aus dem Sänger; auch die Vor¬ stellung von dem Schleier der Dichtung, den die Wahrheit reicht, klingt dort wieder an in den Zeilen: ähnlich wie das epigrammatische Distichon über Selbsterkenntnis und Ver¬ ständnis der andern dort in der mildern Form wiederkehrt: mitten auf dem friedlichsten Frühlingsspaziergang durch ein Tal bei Palermo Hannibals hier gelieferte Schlachten auftischt, verweist er unfreundlich „das fatale Hervorrufen solcher abge- fchiednen Gespenster." Und er selbst ist es, der in dem Gedicht „Rechenschaft" berichtet: Grenzboten III 1904 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/161>, abgerufen am 23.07.2024.