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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

zu Verzichten, sei unmöglich, weil der Nationalitäten sieben seien, und man den
Mitgliedern der Behörden nicht zumuten könne, daß jedes sieben Sprachen spreche
und schreibe, weil keine der Nationalitäten ein geschlossenes Gebiet bewohne (die
Deutschen bewohnten eine größere und fünfzehn kleinere Sprachinseln, von denen
jede mit Ansiedlungen andrer Nationalität durchsetzt sei), und weil jeder der
Nativnalitätensplitter nach der außerhalb des Staates wohnenden Hauptmasse seiner
Nationalität gravitiere. Namentlich die achtzig (?) Millionen Deutschen seien eine
gefährliche Nachbarschaft und bedrohten den schwächern Nachbarn durch das bloße
Übergewicht ihrer Zahl und Kultur. Es bleibe also, wenn man den ungarischen
Staat wolle, nichts übrig als die ungarische Staatssprache. Das sähen auch die
Gebildeten aller Nationalitäten ein und magyarisierten sich gern und freudig;
hauptsächlich die "rückständigen" sächsischen Bauern widerstrebten. Ein organischer
Völkerbildungsprozeß sei im Gange. Die Regierung tue wenig dazu und könne
wenig tun. Ehedem sei, zum Schmerz aller patriotischen Ungarn, das Magyarische
von den die Schulen autonom beherrschenden Konfessionen aus dem Unterricht ver¬
bannt gewesen, und die Schule zum Tummelplatz einer staatsfeindlichen Agitation
gemacht worden; erst 1879 habe die Regierung angeordnet, daß in allen Schulen
die ungarische Sprache in wöchentlich zwei Stunden als Lehrgegenstand behandelt
werden solle, und auch jetzt beschränke sie sich auf sehr bescheidne Forderungen.
Von Zwangsmagycirisierung, von Gewaltmaßregeln sei keine Rede. Am wenigsten
hätten die 200000 Sachsen Grund zu Beschwerden, die sechzehn Abgeordnete in
den Reichstag schickten, während im Durchschnitt auf 35000 Einwohner ein Ab¬
geordneter falle. "Es ist eine böswillige Unterstellung, wenn man unsern Wider¬
stand gegen das Schreckbild der Germanisation als Deutschenhaß denunziert. Wir
hassen nicht die Deutschen, wir bekämpfen und fürchten nur die Germanisation."
Die amtlichen Kreise Deutschlands verhielten sich zwar untadlig korrekt und loyal,
aber da sie die pangermanische Agitation nicht einzudämmen vermöchten, so
bleibe den Ungarn nichts übrig, als sich ihrer Haut zu wehren und die Agitatoren
zu bestrafen, wie sie es verdienen. Wenn die Reichsdeutschen über alle Deutschen
auf dem Erdenrund eine Schutzherrschaft ausüben wollen, so stellten sie damit einen
revolutionären Grundsatz von unberechenbarer Tragweite auf, und auch solche, die
das Alldeutschtum formell ablehnten, schienen diesem Grundsatze, zu huldigen. Von
allen Gegnern sei den Ungarn Professor Hasse der liebste; man wisse bei ihm
doch, wie und wo; er spreche offen, ohne Hehl und Zweideutigkeit.

Das alles klingt sehr plausibel; man muß es dem Verfasser lassen: er argu¬
mentiert vom magyarischen Standpunkt aus vernünftig, beinahe überzeugend, und
er spricht im anständigsten Tone. Ob alles einzelne, was er anführt, genau der
Wahrheit entspricht, mögen die Landeskundigen entscheiden. Im Reichstage machen
die Ungarn nicht den Eindruck so sanftmütiger, gutherziger, weichmtttiger Lämmer,
als die sie Rado darstellt. Das ist jedoch ebenso Nebensache wie die nicht immer
besonders kluge altdeutsche Agitation. Die Frage ist, ob es einen Sinn hat, auf
der heutigen Stufe des Weltverkehrs eine neue Nationalität mit einer barbarischen,
dem indogermanischen Sprachstämme fremden Sprache schaffen zu wollen. In
Nordamerika sehen wir eine neue Nationalität entstehn, aber die spricht eine Welt¬
sprache. Die Ungarn selbst müssen deutsch sprechen und schreiben, wenn sie über
ihren kleinen Staat hinaus verstanden werden wollen, und der gebildete Rumäne,
der Kroate, der Slowake muß also, vom Englischen und Französischen abgesehen,
zwei neuere Sprachen lernen, die magyarische und die deutsche. Das ist ein bißchen
viel und wird auf die Dauer unbequem werden. Vielleicht werden die Magyaren
selbst, obwohl sie immer noch besser daran sind als ihre Slawen, zu allererst die
Unbequemlichkeit empfinden und sich fragen, ob sie nicht klüger getan hätten, bei
der Praxis ihrer Großväter zu bleiben, die, wenn sie nicht gerade mit ihren
Bauern redeten, sich entweder der deutschen oder der lateinischen Sprache bedienten.
Falls einmal große historische Strömungen den Ungarnstaat wegschwemmen sollten,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

zu Verzichten, sei unmöglich, weil der Nationalitäten sieben seien, und man den
Mitgliedern der Behörden nicht zumuten könne, daß jedes sieben Sprachen spreche
und schreibe, weil keine der Nationalitäten ein geschlossenes Gebiet bewohne (die
Deutschen bewohnten eine größere und fünfzehn kleinere Sprachinseln, von denen
jede mit Ansiedlungen andrer Nationalität durchsetzt sei), und weil jeder der
Nativnalitätensplitter nach der außerhalb des Staates wohnenden Hauptmasse seiner
Nationalität gravitiere. Namentlich die achtzig (?) Millionen Deutschen seien eine
gefährliche Nachbarschaft und bedrohten den schwächern Nachbarn durch das bloße
Übergewicht ihrer Zahl und Kultur. Es bleibe also, wenn man den ungarischen
Staat wolle, nichts übrig als die ungarische Staatssprache. Das sähen auch die
Gebildeten aller Nationalitäten ein und magyarisierten sich gern und freudig;
hauptsächlich die „rückständigen" sächsischen Bauern widerstrebten. Ein organischer
Völkerbildungsprozeß sei im Gange. Die Regierung tue wenig dazu und könne
wenig tun. Ehedem sei, zum Schmerz aller patriotischen Ungarn, das Magyarische
von den die Schulen autonom beherrschenden Konfessionen aus dem Unterricht ver¬
bannt gewesen, und die Schule zum Tummelplatz einer staatsfeindlichen Agitation
gemacht worden; erst 1879 habe die Regierung angeordnet, daß in allen Schulen
die ungarische Sprache in wöchentlich zwei Stunden als Lehrgegenstand behandelt
werden solle, und auch jetzt beschränke sie sich auf sehr bescheidne Forderungen.
Von Zwangsmagycirisierung, von Gewaltmaßregeln sei keine Rede. Am wenigsten
hätten die 200000 Sachsen Grund zu Beschwerden, die sechzehn Abgeordnete in
den Reichstag schickten, während im Durchschnitt auf 35000 Einwohner ein Ab¬
geordneter falle. „Es ist eine böswillige Unterstellung, wenn man unsern Wider¬
stand gegen das Schreckbild der Germanisation als Deutschenhaß denunziert. Wir
hassen nicht die Deutschen, wir bekämpfen und fürchten nur die Germanisation."
Die amtlichen Kreise Deutschlands verhielten sich zwar untadlig korrekt und loyal,
aber da sie die pangermanische Agitation nicht einzudämmen vermöchten, so
bleibe den Ungarn nichts übrig, als sich ihrer Haut zu wehren und die Agitatoren
zu bestrafen, wie sie es verdienen. Wenn die Reichsdeutschen über alle Deutschen
auf dem Erdenrund eine Schutzherrschaft ausüben wollen, so stellten sie damit einen
revolutionären Grundsatz von unberechenbarer Tragweite auf, und auch solche, die
das Alldeutschtum formell ablehnten, schienen diesem Grundsatze, zu huldigen. Von
allen Gegnern sei den Ungarn Professor Hasse der liebste; man wisse bei ihm
doch, wie und wo; er spreche offen, ohne Hehl und Zweideutigkeit.

Das alles klingt sehr plausibel; man muß es dem Verfasser lassen: er argu¬
mentiert vom magyarischen Standpunkt aus vernünftig, beinahe überzeugend, und
er spricht im anständigsten Tone. Ob alles einzelne, was er anführt, genau der
Wahrheit entspricht, mögen die Landeskundigen entscheiden. Im Reichstage machen
die Ungarn nicht den Eindruck so sanftmütiger, gutherziger, weichmtttiger Lämmer,
als die sie Rado darstellt. Das ist jedoch ebenso Nebensache wie die nicht immer
besonders kluge altdeutsche Agitation. Die Frage ist, ob es einen Sinn hat, auf
der heutigen Stufe des Weltverkehrs eine neue Nationalität mit einer barbarischen,
dem indogermanischen Sprachstämme fremden Sprache schaffen zu wollen. In
Nordamerika sehen wir eine neue Nationalität entstehn, aber die spricht eine Welt¬
sprache. Die Ungarn selbst müssen deutsch sprechen und schreiben, wenn sie über
ihren kleinen Staat hinaus verstanden werden wollen, und der gebildete Rumäne,
der Kroate, der Slowake muß also, vom Englischen und Französischen abgesehen,
zwei neuere Sprachen lernen, die magyarische und die deutsche. Das ist ein bißchen
viel und wird auf die Dauer unbequem werden. Vielleicht werden die Magyaren
selbst, obwohl sie immer noch besser daran sind als ihre Slawen, zu allererst die
Unbequemlichkeit empfinden und sich fragen, ob sie nicht klüger getan hätten, bei
der Praxis ihrer Großväter zu bleiben, die, wenn sie nicht gerade mit ihren
Bauern redeten, sich entweder der deutschen oder der lateinischen Sprache bedienten.
Falls einmal große historische Strömungen den Ungarnstaat wegschwemmen sollten,


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[0730] Maßgebliches und Unmaßgebliches zu Verzichten, sei unmöglich, weil der Nationalitäten sieben seien, und man den Mitgliedern der Behörden nicht zumuten könne, daß jedes sieben Sprachen spreche und schreibe, weil keine der Nationalitäten ein geschlossenes Gebiet bewohne (die Deutschen bewohnten eine größere und fünfzehn kleinere Sprachinseln, von denen jede mit Ansiedlungen andrer Nationalität durchsetzt sei), und weil jeder der Nativnalitätensplitter nach der außerhalb des Staates wohnenden Hauptmasse seiner Nationalität gravitiere. Namentlich die achtzig (?) Millionen Deutschen seien eine gefährliche Nachbarschaft und bedrohten den schwächern Nachbarn durch das bloße Übergewicht ihrer Zahl und Kultur. Es bleibe also, wenn man den ungarischen Staat wolle, nichts übrig als die ungarische Staatssprache. Das sähen auch die Gebildeten aller Nationalitäten ein und magyarisierten sich gern und freudig; hauptsächlich die „rückständigen" sächsischen Bauern widerstrebten. Ein organischer Völkerbildungsprozeß sei im Gange. Die Regierung tue wenig dazu und könne wenig tun. Ehedem sei, zum Schmerz aller patriotischen Ungarn, das Magyarische von den die Schulen autonom beherrschenden Konfessionen aus dem Unterricht ver¬ bannt gewesen, und die Schule zum Tummelplatz einer staatsfeindlichen Agitation gemacht worden; erst 1879 habe die Regierung angeordnet, daß in allen Schulen die ungarische Sprache in wöchentlich zwei Stunden als Lehrgegenstand behandelt werden solle, und auch jetzt beschränke sie sich auf sehr bescheidne Forderungen. Von Zwangsmagycirisierung, von Gewaltmaßregeln sei keine Rede. Am wenigsten hätten die 200000 Sachsen Grund zu Beschwerden, die sechzehn Abgeordnete in den Reichstag schickten, während im Durchschnitt auf 35000 Einwohner ein Ab¬ geordneter falle. „Es ist eine böswillige Unterstellung, wenn man unsern Wider¬ stand gegen das Schreckbild der Germanisation als Deutschenhaß denunziert. Wir hassen nicht die Deutschen, wir bekämpfen und fürchten nur die Germanisation." Die amtlichen Kreise Deutschlands verhielten sich zwar untadlig korrekt und loyal, aber da sie die pangermanische Agitation nicht einzudämmen vermöchten, so bleibe den Ungarn nichts übrig, als sich ihrer Haut zu wehren und die Agitatoren zu bestrafen, wie sie es verdienen. Wenn die Reichsdeutschen über alle Deutschen auf dem Erdenrund eine Schutzherrschaft ausüben wollen, so stellten sie damit einen revolutionären Grundsatz von unberechenbarer Tragweite auf, und auch solche, die das Alldeutschtum formell ablehnten, schienen diesem Grundsatze, zu huldigen. Von allen Gegnern sei den Ungarn Professor Hasse der liebste; man wisse bei ihm doch, wie und wo; er spreche offen, ohne Hehl und Zweideutigkeit. Das alles klingt sehr plausibel; man muß es dem Verfasser lassen: er argu¬ mentiert vom magyarischen Standpunkt aus vernünftig, beinahe überzeugend, und er spricht im anständigsten Tone. Ob alles einzelne, was er anführt, genau der Wahrheit entspricht, mögen die Landeskundigen entscheiden. Im Reichstage machen die Ungarn nicht den Eindruck so sanftmütiger, gutherziger, weichmtttiger Lämmer, als die sie Rado darstellt. Das ist jedoch ebenso Nebensache wie die nicht immer besonders kluge altdeutsche Agitation. Die Frage ist, ob es einen Sinn hat, auf der heutigen Stufe des Weltverkehrs eine neue Nationalität mit einer barbarischen, dem indogermanischen Sprachstämme fremden Sprache schaffen zu wollen. In Nordamerika sehen wir eine neue Nationalität entstehn, aber die spricht eine Welt¬ sprache. Die Ungarn selbst müssen deutsch sprechen und schreiben, wenn sie über ihren kleinen Staat hinaus verstanden werden wollen, und der gebildete Rumäne, der Kroate, der Slowake muß also, vom Englischen und Französischen abgesehen, zwei neuere Sprachen lernen, die magyarische und die deutsche. Das ist ein bißchen viel und wird auf die Dauer unbequem werden. Vielleicht werden die Magyaren selbst, obwohl sie immer noch besser daran sind als ihre Slawen, zu allererst die Unbequemlichkeit empfinden und sich fragen, ob sie nicht klüger getan hätten, bei der Praxis ihrer Großväter zu bleiben, die, wenn sie nicht gerade mit ihren Bauern redeten, sich entweder der deutschen oder der lateinischen Sprache bedienten. Falls einmal große historische Strömungen den Ungarnstaat wegschwemmen sollten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/730>, abgerufen am 25.07.2024.