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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

ein wirklicher Dichter ist. Nur muß man unter Dichten nicht Erfinden sondern
Abbilden versteh", wie es ja unsre heutigen Realisten wollen. Das Abbilden ist
weder das Einzige noch das Höchste in der Poesie, aber einer ihrer notwendigen
Bestandteile, und wessen Auge, Ohr und Hirn keinen guten photographischen
Apparat ausmachen, der kann kein großer Dichter werden. Diesem Karl Fischer,
so heißt der Mann, ist es gegeben, alles, was ihm vorkommt, treu und vollständig
in sich aufzunehmen, zeitlebens festzuhalten und schlicht aber deutlich wiederzugeben;
auch das, was ihn selbst betrifft, so objektiv, als wenn er einen Gegenstand be¬
schriebe, der ihn nichts anginge. Natürlich unbeholfen und in meist schlechtem
Deutsch. Das gehört zu einer Volksdichtung. Die sogenannten Volksepen sind
selbstverständlich Kunstdichtungen, denn der einzelne Mann aus dem Volke kann
weder Hexameter noch künstliche Strophen bauen, und zu glauben, daß das Volk
als ganzes dichten könne, ist Unsinn. Also dieses Buch gibt ein Lebensbild aus
dem Volke; das Lebensbild eines Mannes, der in der Kindheit und in der Jugend
Schreckliches erduldet hat, und dem, weil er nichts Ordentliches hat lernen können,
das spätere Leben schwer geworden ist, der aber trotzdem weder zu den Sozial¬
demokraten gegangen ist noch seinen (evangelischen) Glauben verloren hat. Und der
Einblick in ein solches Leben, wie es deren Hunderttausende gibt, ein Einblick, so
vollständig und tief, wie ihn weder die flüchtige persönliche Berührung mit Leuten
der untern Schichten noch ein andres der mir bekannten Bücher gewährt, ist nun
zugleich im höchsten Grade lehrreich, darum ist das Buch Eltern, Lehrern, Geist¬
lichen, allen, die sich für soziale Fragen interessieren, dringend zu empfehlen. Eine
Probe! Zwölfjährig wird er in den Konfirmandenunterricht geschickt. "Da bin
ich denn ernst und mit allem möglichen Respekt vor der Sache hingegangen. Und
so gerne, und mit aller Lust wie nur irgendeiner, und so unbefangen bin ich
dahin gegangen. Aber das hat nicht lange gedauert, da hatte mich der Pastor
ganz scheu gemacht. Wenn ich dann so ruhig dasaß, und den Pastor ansah, und
aufmerksam seinen Worten lauschte, dann rief er mit einemmale mir zu: Du, wie
sitzt du denn da! Ja, es verging doch kein einziger Unterricht, wo ich das nicht
zu hören kriegte. Und wenn er diese Worte dann noch höhnisch drehte, und aus¬
rief: Du sitzt ja da, wie wenn du in Grünberg wärst! Oder: du sitzt ja da, als
wen" du die Schafe hütest! Oder: du sitzt ja da, wie auf einem Fuder Heu! dann
lachten die andern Jungen mich laut aus, und das war mir ungeheuer zuwider.
Und Wie erschreckte ich mich jedesmal, und kam ganz aus dem Texte, und verlor
den Zusammenhang und die Andacht von seinem Vortrage." Er hat sich seitdem
vor den Geistlichen gefürchtet und sie nicht leiden können. Er hatte dagesessen, wie
er zuhause sitzen mußte, wenn er nicht Prügel haben wollte. Die kriegte er freilich
auch, wenn er sich mit allen Kräften bemühte, es dem Vater recht zu machen. Auch
die Bibel, die der Knabe anfänglich von Herzen gern las und lernte, diente ihm
der Vater, ein anfangs angesehener Bäckermeister und nicht ungebildeter Mann,
mit Prügeln ein. Diese ewigen Prügel und die Vernichtung jeder harmlosen
Kinder- und Jugendfreude zermalmten aber seine Seele noch nicht in dem Grade
wie die Behandlung, die seine Mutter, eine gebildete Frau, die Tochter eines
Gutsbesitzers, erduldete. Es war furchtbar für ihn, ansehen und anhören zu müssen,
wenn der Mann mit einem beliebigen Scheit Holz die Mutter zerdrasch, wie ein
roher Fuhrknecht sein Pferd, und das meist ohne jeden Anlaß. Die Mutter, schreibt
er u. a., "war meinem Vater sein Geselle, und sein Knecht, und sein Lehrjunge,
und seine Laden- und Marktfrau, und seine Dienst- und Kindermagd, und seine
Wahns- und Scheuerfrau, und sein Flickschneider und was weiß ich noch; aber sie
stand weit uuter diesen allen in der Behandlung, und sie bekam weiter nichts dafür,
als das bißchen kärgliche Futter, und mehr als einmal wußte es mein Vater so
einzurichten, daß sie das zu Mittag auch noch nicht bekam." Mit vierzehn Jahren
nimmt ihn der Vater in die "Lehre," in der er aber kein belehrendes Wort zu
hören, sondern nur Prügel bekommt, so oft er etwas falsch macht. Die letzten Tage
und Nächte vor der Gesellenprüfung verlebt er in Todesangst, weil der Vater den


Maßgebliches und Unmaßgebliches

ein wirklicher Dichter ist. Nur muß man unter Dichten nicht Erfinden sondern
Abbilden versteh«, wie es ja unsre heutigen Realisten wollen. Das Abbilden ist
weder das Einzige noch das Höchste in der Poesie, aber einer ihrer notwendigen
Bestandteile, und wessen Auge, Ohr und Hirn keinen guten photographischen
Apparat ausmachen, der kann kein großer Dichter werden. Diesem Karl Fischer,
so heißt der Mann, ist es gegeben, alles, was ihm vorkommt, treu und vollständig
in sich aufzunehmen, zeitlebens festzuhalten und schlicht aber deutlich wiederzugeben;
auch das, was ihn selbst betrifft, so objektiv, als wenn er einen Gegenstand be¬
schriebe, der ihn nichts anginge. Natürlich unbeholfen und in meist schlechtem
Deutsch. Das gehört zu einer Volksdichtung. Die sogenannten Volksepen sind
selbstverständlich Kunstdichtungen, denn der einzelne Mann aus dem Volke kann
weder Hexameter noch künstliche Strophen bauen, und zu glauben, daß das Volk
als ganzes dichten könne, ist Unsinn. Also dieses Buch gibt ein Lebensbild aus
dem Volke; das Lebensbild eines Mannes, der in der Kindheit und in der Jugend
Schreckliches erduldet hat, und dem, weil er nichts Ordentliches hat lernen können,
das spätere Leben schwer geworden ist, der aber trotzdem weder zu den Sozial¬
demokraten gegangen ist noch seinen (evangelischen) Glauben verloren hat. Und der
Einblick in ein solches Leben, wie es deren Hunderttausende gibt, ein Einblick, so
vollständig und tief, wie ihn weder die flüchtige persönliche Berührung mit Leuten
der untern Schichten noch ein andres der mir bekannten Bücher gewährt, ist nun
zugleich im höchsten Grade lehrreich, darum ist das Buch Eltern, Lehrern, Geist¬
lichen, allen, die sich für soziale Fragen interessieren, dringend zu empfehlen. Eine
Probe! Zwölfjährig wird er in den Konfirmandenunterricht geschickt. „Da bin
ich denn ernst und mit allem möglichen Respekt vor der Sache hingegangen. Und
so gerne, und mit aller Lust wie nur irgendeiner, und so unbefangen bin ich
dahin gegangen. Aber das hat nicht lange gedauert, da hatte mich der Pastor
ganz scheu gemacht. Wenn ich dann so ruhig dasaß, und den Pastor ansah, und
aufmerksam seinen Worten lauschte, dann rief er mit einemmale mir zu: Du, wie
sitzt du denn da! Ja, es verging doch kein einziger Unterricht, wo ich das nicht
zu hören kriegte. Und wenn er diese Worte dann noch höhnisch drehte, und aus¬
rief: Du sitzt ja da, wie wenn du in Grünberg wärst! Oder: du sitzt ja da, als
wen» du die Schafe hütest! Oder: du sitzt ja da, wie auf einem Fuder Heu! dann
lachten die andern Jungen mich laut aus, und das war mir ungeheuer zuwider.
Und Wie erschreckte ich mich jedesmal, und kam ganz aus dem Texte, und verlor
den Zusammenhang und die Andacht von seinem Vortrage." Er hat sich seitdem
vor den Geistlichen gefürchtet und sie nicht leiden können. Er hatte dagesessen, wie
er zuhause sitzen mußte, wenn er nicht Prügel haben wollte. Die kriegte er freilich
auch, wenn er sich mit allen Kräften bemühte, es dem Vater recht zu machen. Auch
die Bibel, die der Knabe anfänglich von Herzen gern las und lernte, diente ihm
der Vater, ein anfangs angesehener Bäckermeister und nicht ungebildeter Mann,
mit Prügeln ein. Diese ewigen Prügel und die Vernichtung jeder harmlosen
Kinder- und Jugendfreude zermalmten aber seine Seele noch nicht in dem Grade
wie die Behandlung, die seine Mutter, eine gebildete Frau, die Tochter eines
Gutsbesitzers, erduldete. Es war furchtbar für ihn, ansehen und anhören zu müssen,
wenn der Mann mit einem beliebigen Scheit Holz die Mutter zerdrasch, wie ein
roher Fuhrknecht sein Pferd, und das meist ohne jeden Anlaß. Die Mutter, schreibt
er u. a., „war meinem Vater sein Geselle, und sein Knecht, und sein Lehrjunge,
und seine Laden- und Marktfrau, und seine Dienst- und Kindermagd, und seine
Wahns- und Scheuerfrau, und sein Flickschneider und was weiß ich noch; aber sie
stand weit uuter diesen allen in der Behandlung, und sie bekam weiter nichts dafür,
als das bißchen kärgliche Futter, und mehr als einmal wußte es mein Vater so
einzurichten, daß sie das zu Mittag auch noch nicht bekam." Mit vierzehn Jahren
nimmt ihn der Vater in die „Lehre," in der er aber kein belehrendes Wort zu
hören, sondern nur Prügel bekommt, so oft er etwas falsch macht. Die letzten Tage
und Nächte vor der Gesellenprüfung verlebt er in Todesangst, weil der Vater den


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[0611] Maßgebliches und Unmaßgebliches ein wirklicher Dichter ist. Nur muß man unter Dichten nicht Erfinden sondern Abbilden versteh«, wie es ja unsre heutigen Realisten wollen. Das Abbilden ist weder das Einzige noch das Höchste in der Poesie, aber einer ihrer notwendigen Bestandteile, und wessen Auge, Ohr und Hirn keinen guten photographischen Apparat ausmachen, der kann kein großer Dichter werden. Diesem Karl Fischer, so heißt der Mann, ist es gegeben, alles, was ihm vorkommt, treu und vollständig in sich aufzunehmen, zeitlebens festzuhalten und schlicht aber deutlich wiederzugeben; auch das, was ihn selbst betrifft, so objektiv, als wenn er einen Gegenstand be¬ schriebe, der ihn nichts anginge. Natürlich unbeholfen und in meist schlechtem Deutsch. Das gehört zu einer Volksdichtung. Die sogenannten Volksepen sind selbstverständlich Kunstdichtungen, denn der einzelne Mann aus dem Volke kann weder Hexameter noch künstliche Strophen bauen, und zu glauben, daß das Volk als ganzes dichten könne, ist Unsinn. Also dieses Buch gibt ein Lebensbild aus dem Volke; das Lebensbild eines Mannes, der in der Kindheit und in der Jugend Schreckliches erduldet hat, und dem, weil er nichts Ordentliches hat lernen können, das spätere Leben schwer geworden ist, der aber trotzdem weder zu den Sozial¬ demokraten gegangen ist noch seinen (evangelischen) Glauben verloren hat. Und der Einblick in ein solches Leben, wie es deren Hunderttausende gibt, ein Einblick, so vollständig und tief, wie ihn weder die flüchtige persönliche Berührung mit Leuten der untern Schichten noch ein andres der mir bekannten Bücher gewährt, ist nun zugleich im höchsten Grade lehrreich, darum ist das Buch Eltern, Lehrern, Geist¬ lichen, allen, die sich für soziale Fragen interessieren, dringend zu empfehlen. Eine Probe! Zwölfjährig wird er in den Konfirmandenunterricht geschickt. „Da bin ich denn ernst und mit allem möglichen Respekt vor der Sache hingegangen. Und so gerne, und mit aller Lust wie nur irgendeiner, und so unbefangen bin ich dahin gegangen. Aber das hat nicht lange gedauert, da hatte mich der Pastor ganz scheu gemacht. Wenn ich dann so ruhig dasaß, und den Pastor ansah, und aufmerksam seinen Worten lauschte, dann rief er mit einemmale mir zu: Du, wie sitzt du denn da! Ja, es verging doch kein einziger Unterricht, wo ich das nicht zu hören kriegte. Und wenn er diese Worte dann noch höhnisch drehte, und aus¬ rief: Du sitzt ja da, wie wenn du in Grünberg wärst! Oder: du sitzt ja da, als wen» du die Schafe hütest! Oder: du sitzt ja da, wie auf einem Fuder Heu! dann lachten die andern Jungen mich laut aus, und das war mir ungeheuer zuwider. Und Wie erschreckte ich mich jedesmal, und kam ganz aus dem Texte, und verlor den Zusammenhang und die Andacht von seinem Vortrage." Er hat sich seitdem vor den Geistlichen gefürchtet und sie nicht leiden können. Er hatte dagesessen, wie er zuhause sitzen mußte, wenn er nicht Prügel haben wollte. Die kriegte er freilich auch, wenn er sich mit allen Kräften bemühte, es dem Vater recht zu machen. Auch die Bibel, die der Knabe anfänglich von Herzen gern las und lernte, diente ihm der Vater, ein anfangs angesehener Bäckermeister und nicht ungebildeter Mann, mit Prügeln ein. Diese ewigen Prügel und die Vernichtung jeder harmlosen Kinder- und Jugendfreude zermalmten aber seine Seele noch nicht in dem Grade wie die Behandlung, die seine Mutter, eine gebildete Frau, die Tochter eines Gutsbesitzers, erduldete. Es war furchtbar für ihn, ansehen und anhören zu müssen, wenn der Mann mit einem beliebigen Scheit Holz die Mutter zerdrasch, wie ein roher Fuhrknecht sein Pferd, und das meist ohne jeden Anlaß. Die Mutter, schreibt er u. a., „war meinem Vater sein Geselle, und sein Knecht, und sein Lehrjunge, und seine Laden- und Marktfrau, und seine Dienst- und Kindermagd, und seine Wahns- und Scheuerfrau, und sein Flickschneider und was weiß ich noch; aber sie stand weit uuter diesen allen in der Behandlung, und sie bekam weiter nichts dafür, als das bißchen kärgliche Futter, und mehr als einmal wußte es mein Vater so einzurichten, daß sie das zu Mittag auch noch nicht bekam." Mit vierzehn Jahren nimmt ihn der Vater in die „Lehre," in der er aber kein belehrendes Wort zu hören, sondern nur Prügel bekommt, so oft er etwas falsch macht. Die letzten Tage und Nächte vor der Gesellenprüfung verlebt er in Todesangst, weil der Vater den

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/611>, abgerufen am 25.07.2024.