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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Wanderbettelei

willige unschuldig verurteilt werden, so ergibt sie sich auch aus der Tatsache,
daß im Winter den Arbeiterkolonien so viel Menschen zuströmen, trotzdem sie
dort gewiß nicht auf Rosen gebettet sind. Die große Mehrzahl der Kolonisten
muß Meliorationsarbeiten forse- und landwirtschaftlicher Art bei jeder Witterung
verrichten und dabei viel mehr Schweiß vergießen als der Zuchthäusler.
Dazu wird die strenge Hausordnung befolgt, kein Schnaps getrunken; Kost,
Lagerstatt und sonstige Leibespslege sind selbst nach Angabe der leitenden
Persönlichkeiten kaum besser als in Strafanstalten, besonders weil noch die
viel härtere Arbeit hinzukommt. Und der Eintritt ist, wie der Austritt, frei¬
willig! Wenn sich trotzdem solche Massen in -die Kolonien drängen, und
unter ihnen sehr viel Bestrafte, so ist es doch klar, daß die der Sozialpolitik
gestellte Aufgabe nur sein kann, die Menschen nicht erst auf die Landstraße
zu stoßen, sie nicht erst immer wieder schuldig werden zu lassen."

Diese Aufgabe kann aber nach des Verfassers Ansicht überhaupt nicht mit
dem Herbergwesen und den Arbeiterkolonien gelöst werden, sondern nur durch
die Organisation des Arbeitnachweises und der Versicherung gegen Arbeit-
losigkeit. Was die erste betrifft, so bezeichnet er die süddeutschen unparteiischen,
meist kommunalen Einrichtungen als mustergiltig, die in den Regierungs¬
bezirken Düsseldorf und Liegnitz, die innere Mission spielen wollten, als
bedenklich. Von der Arbeitlosenversicherung seien in der gewerkschaftlichen
Unterstützung der arbeitlosen Mitglieder schon Anfänge vorhanden; sie bis zu
einer durchgreifenden Versicherung auszugestalten und an die übrigen Zweige
der Arbeiterversicherung anzuschließen, werde zwar schwierig sein, aber unmög¬
lich sei es nicht. Vorläufig ist die gewerkschaftliche Arbeitlosenunterstützung,
die größtenteils in der Form einer Wanderunterstützung gezahlt wird, sehr
unvollständig und sehr ungleich. Die Metallarbeiter z. V. zahlen im Jahres¬
durchschnitt 101000 Mark, jedes Mitglied opfert 50 Pfennige; die Buch¬
drucker 92323 (jedes Mitglied 6,93 Mark); dagegen haben die Former bis
jetzt im Jahre durchschnittlich nur 365 Mark aufgebracht; der Jahresbeitrag
des Mitgliedes betrug nur 20 Pfennige. Die höchsten Beiträge, 8,79 Mark,
haben die Bildhauer, die nächst höchsten: 8,25 Mark, die Hutmacher geleistet-
Durch organische Verknüpfung mit dem Arbeitnachweise würde die Arbeit¬
losenversicherung im allgemeinen den Charakter der Reiscunterstützung verlieren-
Jeder würde sie an seinem bisherigen Wohnorte beziehen, bis ihm eine Stelle
nachgewiesen würde, und wäre diese an einem andern Orte, so würde er auf
der Eisenbahn hinfahren. Es ist klar, daß mit einer solchen Organisation,
wenn sie sich durchführen ließe, und abgesehen von den oben angedeuteten
zwei Hauptschwierigkeiten, gründlich geholfen wäre; bis zu ihrer Verwirklichung
werden wohl die Verpflegungsstationen, deren Zahl übrigens, weil sie die er¬
wartete Abhilfe nicht bewirkt haben, fortwährend abnimmt, die Herbergen zur
Heimat und die Arbeiterkolonien als Notbehelfe bestehn bleiben müssen-




Wanderbettelei

willige unschuldig verurteilt werden, so ergibt sie sich auch aus der Tatsache,
daß im Winter den Arbeiterkolonien so viel Menschen zuströmen, trotzdem sie
dort gewiß nicht auf Rosen gebettet sind. Die große Mehrzahl der Kolonisten
muß Meliorationsarbeiten forse- und landwirtschaftlicher Art bei jeder Witterung
verrichten und dabei viel mehr Schweiß vergießen als der Zuchthäusler.
Dazu wird die strenge Hausordnung befolgt, kein Schnaps getrunken; Kost,
Lagerstatt und sonstige Leibespslege sind selbst nach Angabe der leitenden
Persönlichkeiten kaum besser als in Strafanstalten, besonders weil noch die
viel härtere Arbeit hinzukommt. Und der Eintritt ist, wie der Austritt, frei¬
willig! Wenn sich trotzdem solche Massen in -die Kolonien drängen, und
unter ihnen sehr viel Bestrafte, so ist es doch klar, daß die der Sozialpolitik
gestellte Aufgabe nur sein kann, die Menschen nicht erst auf die Landstraße
zu stoßen, sie nicht erst immer wieder schuldig werden zu lassen."

Diese Aufgabe kann aber nach des Verfassers Ansicht überhaupt nicht mit
dem Herbergwesen und den Arbeiterkolonien gelöst werden, sondern nur durch
die Organisation des Arbeitnachweises und der Versicherung gegen Arbeit-
losigkeit. Was die erste betrifft, so bezeichnet er die süddeutschen unparteiischen,
meist kommunalen Einrichtungen als mustergiltig, die in den Regierungs¬
bezirken Düsseldorf und Liegnitz, die innere Mission spielen wollten, als
bedenklich. Von der Arbeitlosenversicherung seien in der gewerkschaftlichen
Unterstützung der arbeitlosen Mitglieder schon Anfänge vorhanden; sie bis zu
einer durchgreifenden Versicherung auszugestalten und an die übrigen Zweige
der Arbeiterversicherung anzuschließen, werde zwar schwierig sein, aber unmög¬
lich sei es nicht. Vorläufig ist die gewerkschaftliche Arbeitlosenunterstützung,
die größtenteils in der Form einer Wanderunterstützung gezahlt wird, sehr
unvollständig und sehr ungleich. Die Metallarbeiter z. V. zahlen im Jahres¬
durchschnitt 101000 Mark, jedes Mitglied opfert 50 Pfennige; die Buch¬
drucker 92323 (jedes Mitglied 6,93 Mark); dagegen haben die Former bis
jetzt im Jahre durchschnittlich nur 365 Mark aufgebracht; der Jahresbeitrag
des Mitgliedes betrug nur 20 Pfennige. Die höchsten Beiträge, 8,79 Mark,
haben die Bildhauer, die nächst höchsten: 8,25 Mark, die Hutmacher geleistet-
Durch organische Verknüpfung mit dem Arbeitnachweise würde die Arbeit¬
losenversicherung im allgemeinen den Charakter der Reiscunterstützung verlieren-
Jeder würde sie an seinem bisherigen Wohnorte beziehen, bis ihm eine Stelle
nachgewiesen würde, und wäre diese an einem andern Orte, so würde er auf
der Eisenbahn hinfahren. Es ist klar, daß mit einer solchen Organisation,
wenn sie sich durchführen ließe, und abgesehen von den oben angedeuteten
zwei Hauptschwierigkeiten, gründlich geholfen wäre; bis zu ihrer Verwirklichung
werden wohl die Verpflegungsstationen, deren Zahl übrigens, weil sie die er¬
wartete Abhilfe nicht bewirkt haben, fortwährend abnimmt, die Herbergen zur
Heimat und die Arbeiterkolonien als Notbehelfe bestehn bleiben müssen-




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[0564] Wanderbettelei willige unschuldig verurteilt werden, so ergibt sie sich auch aus der Tatsache, daß im Winter den Arbeiterkolonien so viel Menschen zuströmen, trotzdem sie dort gewiß nicht auf Rosen gebettet sind. Die große Mehrzahl der Kolonisten muß Meliorationsarbeiten forse- und landwirtschaftlicher Art bei jeder Witterung verrichten und dabei viel mehr Schweiß vergießen als der Zuchthäusler. Dazu wird die strenge Hausordnung befolgt, kein Schnaps getrunken; Kost, Lagerstatt und sonstige Leibespslege sind selbst nach Angabe der leitenden Persönlichkeiten kaum besser als in Strafanstalten, besonders weil noch die viel härtere Arbeit hinzukommt. Und der Eintritt ist, wie der Austritt, frei¬ willig! Wenn sich trotzdem solche Massen in -die Kolonien drängen, und unter ihnen sehr viel Bestrafte, so ist es doch klar, daß die der Sozialpolitik gestellte Aufgabe nur sein kann, die Menschen nicht erst auf die Landstraße zu stoßen, sie nicht erst immer wieder schuldig werden zu lassen." Diese Aufgabe kann aber nach des Verfassers Ansicht überhaupt nicht mit dem Herbergwesen und den Arbeiterkolonien gelöst werden, sondern nur durch die Organisation des Arbeitnachweises und der Versicherung gegen Arbeit- losigkeit. Was die erste betrifft, so bezeichnet er die süddeutschen unparteiischen, meist kommunalen Einrichtungen als mustergiltig, die in den Regierungs¬ bezirken Düsseldorf und Liegnitz, die innere Mission spielen wollten, als bedenklich. Von der Arbeitlosenversicherung seien in der gewerkschaftlichen Unterstützung der arbeitlosen Mitglieder schon Anfänge vorhanden; sie bis zu einer durchgreifenden Versicherung auszugestalten und an die übrigen Zweige der Arbeiterversicherung anzuschließen, werde zwar schwierig sein, aber unmög¬ lich sei es nicht. Vorläufig ist die gewerkschaftliche Arbeitlosenunterstützung, die größtenteils in der Form einer Wanderunterstützung gezahlt wird, sehr unvollständig und sehr ungleich. Die Metallarbeiter z. V. zahlen im Jahres¬ durchschnitt 101000 Mark, jedes Mitglied opfert 50 Pfennige; die Buch¬ drucker 92323 (jedes Mitglied 6,93 Mark); dagegen haben die Former bis jetzt im Jahre durchschnittlich nur 365 Mark aufgebracht; der Jahresbeitrag des Mitgliedes betrug nur 20 Pfennige. Die höchsten Beiträge, 8,79 Mark, haben die Bildhauer, die nächst höchsten: 8,25 Mark, die Hutmacher geleistet- Durch organische Verknüpfung mit dem Arbeitnachweise würde die Arbeit¬ losenversicherung im allgemeinen den Charakter der Reiscunterstützung verlieren- Jeder würde sie an seinem bisherigen Wohnorte beziehen, bis ihm eine Stelle nachgewiesen würde, und wäre diese an einem andern Orte, so würde er auf der Eisenbahn hinfahren. Es ist klar, daß mit einer solchen Organisation, wenn sie sich durchführen ließe, und abgesehen von den oben angedeuteten zwei Hauptschwierigkeiten, gründlich geholfen wäre; bis zu ihrer Verwirklichung werden wohl die Verpflegungsstationen, deren Zahl übrigens, weil sie die er¬ wartete Abhilfe nicht bewirkt haben, fortwährend abnimmt, die Herbergen zur Heimat und die Arbeiterkolonien als Notbehelfe bestehn bleiben müssen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/564>, abgerufen am 04.07.2024.