Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.Zwei Lecken nieder, und jeder erfüllt seinen Zweck. Aber sie rinnen so leise und in solcher Ich muß gestehn, daß ich mir ein größeres Maß von tiefer Christlichkeit Es ist etwas Seltsames um ein unbekanntes Buch. Da liegt es in seinem Wilhelm Specks Buch gehört zu den letzten, die Freunde und Begleiter Zwei Lecken nieder, und jeder erfüllt seinen Zweck. Aber sie rinnen so leise und in solcher Ich muß gestehn, daß ich mir ein größeres Maß von tiefer Christlichkeit Es ist etwas Seltsames um ein unbekanntes Buch. Da liegt es in seinem Wilhelm Specks Buch gehört zu den letzten, die Freunde und Begleiter <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0346" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/293965"/> <fw type="header" place="top"> Zwei Lecken</fw><lb/> <p xml:id="ID_1491" prev="#ID_1490"> nieder, und jeder erfüllt seinen Zweck. Aber sie rinnen so leise und in solcher<lb/> Verborgenheit, daß der, auf dessen Seele sie fallen, es kaum merkt, wie sich<lb/> rings um ihn her das Erdreich löst." Ist es möglich, sich solcher Poesie zu<lb/> entziehn? Springen da nicht auch in uns Brunnen auf, die verschlossen waren,<lb/> regt sich nicht in verborgnen Tiefen Kindessehnsucht und ein schluchzendes Lächeln?<lb/> Tönen nicht Fragen wieder an, auf die wir nimmer Antwort fanden, und drängt<lb/> es uns nicht, sie auch dem Lichte hinzuhalten, das „über die Höhen der Mensch¬<lb/> heit wandelt"?</p><lb/> <p xml:id="ID_1492"> Ich muß gestehn, daß ich mir ein größeres Maß von tiefer Christlichkeit<lb/> im Bunde mit einem überaus verfeinerten Blick für die Welt und verklärt durch<lb/> reife Künstlerschaft kaum vorstellen, Beispiele für ein gleiches schwer finden kann.<lb/> Dabei ist von Jesus Christus selten die Rede, von seiner Lehre hier und da.<lb/> Aber der Geist des ganzen Buches, der Ton der Dichtung ist so ganz auf ver¬<lb/> stehendes Christentum gestimmt, daß sich die Dinge, auch die trüben, schmutzigen,<lb/> von einem Goldgrunde abzuheben scheinen, wie denn wohl italienische Meister<lb/> gelegentlich das Christkind so gut wie das Vieh im Stalle vor einem golden<lb/> schimmernden Hintergrunde malten. Es ist die verständnisvolle Liebe in diesem<lb/> Werk, die des Verlornen Sohnes Vater dem Heimkehrenden zeigt, und die den<lb/> braven Daheimgebliebnen in solches Erstaunen versetzt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1493"> Es ist etwas Seltsames um ein unbekanntes Buch. Da liegt es in seinem<lb/> frischen Gewände vor uns. Noch schweigen seine Lettern. Was willst du von<lb/> mir? Was tust du für mich? Kommst du, eine müßige Stunde zu kürzen und<lb/> dann vergessen zu werden? Oder willst du mich narren, indem dein Titel<lb/> etwas verspricht, was dein Inhalt nicht leistet? Willst du mich an der einen oder<lb/> der andern Stelle ergreifen, sonst aber langweilen oder abstoßen und dann auf<lb/> Nimmerwiedersehen weggelegt werden? Oder kannst du mehr? Kannst du mich<lb/> bewegen, mich aufrütteln oder mich lächeln machen? Kannst du mir ein Freund<lb/> sein, zu dem ich wieder flüchte, den ich nicht vergesse?</p><lb/> <p xml:id="ID_1494" next="#ID_1495"> Wilhelm Specks Buch gehört zu den letzten, die Freunde und Begleiter<lb/> werden können und auch wohl wollen. Wollen auch? Freilich — und das<lb/> ist ein weiterer Vorzug der Dichtung — von pädagogischen Wünschen und<lb/> Mahnen ist gar nichts darin. Speck stellt seinen Bildersaal hin und sagt:<lb/> Schau! Ob du was annimmst, ist deine Sache. Ich gebe dir, wozu der Gott<lb/> in meiner Brust mich treibt. Specks Dichtung ist kein Werk der sogenannten<lb/> Heimatkunst. Es spielt irgendwo in Mitteldeutschland — Leipzig ist der einzige<lb/> vorkommende Ortsname —, dann weiter südlich in Bayern und in einem<lb/> Alpendörfchen. „Lokaltöne" und dergleichen fehlen. Das freut mich. Denn es<lb/> zeigt, daß der deutsche Geist zu vielseitig ist, als daß er sich immer wieder in<lb/> das Joch irgend einer „Richtung" spannen ließe. Und insbesondre die als<lb/> Mittel zur „Gesundung" empfohlne Heimatkunst ist nichts als eine an sich<lb/> völlig nichtssagende Redensart. Denn Gerhart Hauptmann war Heimatkünstler,<lb/> als er seine ersten naturalistischen Dramen schrieb, und blieb es in der „Ver-<lb/> sunknen Glocke," deren Stil und „Richtung" so weit vom „Sonnenaufgang"<lb/> abliegt. Fontane war es in seinen Berliner Romanen, Liliencron ists in vielen<lb/> seiner Balladen und Novellen, und auch Stephan George kann den katholischen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0346]
Zwei Lecken
nieder, und jeder erfüllt seinen Zweck. Aber sie rinnen so leise und in solcher
Verborgenheit, daß der, auf dessen Seele sie fallen, es kaum merkt, wie sich
rings um ihn her das Erdreich löst." Ist es möglich, sich solcher Poesie zu
entziehn? Springen da nicht auch in uns Brunnen auf, die verschlossen waren,
regt sich nicht in verborgnen Tiefen Kindessehnsucht und ein schluchzendes Lächeln?
Tönen nicht Fragen wieder an, auf die wir nimmer Antwort fanden, und drängt
es uns nicht, sie auch dem Lichte hinzuhalten, das „über die Höhen der Mensch¬
heit wandelt"?
Ich muß gestehn, daß ich mir ein größeres Maß von tiefer Christlichkeit
im Bunde mit einem überaus verfeinerten Blick für die Welt und verklärt durch
reife Künstlerschaft kaum vorstellen, Beispiele für ein gleiches schwer finden kann.
Dabei ist von Jesus Christus selten die Rede, von seiner Lehre hier und da.
Aber der Geist des ganzen Buches, der Ton der Dichtung ist so ganz auf ver¬
stehendes Christentum gestimmt, daß sich die Dinge, auch die trüben, schmutzigen,
von einem Goldgrunde abzuheben scheinen, wie denn wohl italienische Meister
gelegentlich das Christkind so gut wie das Vieh im Stalle vor einem golden
schimmernden Hintergrunde malten. Es ist die verständnisvolle Liebe in diesem
Werk, die des Verlornen Sohnes Vater dem Heimkehrenden zeigt, und die den
braven Daheimgebliebnen in solches Erstaunen versetzt.
Es ist etwas Seltsames um ein unbekanntes Buch. Da liegt es in seinem
frischen Gewände vor uns. Noch schweigen seine Lettern. Was willst du von
mir? Was tust du für mich? Kommst du, eine müßige Stunde zu kürzen und
dann vergessen zu werden? Oder willst du mich narren, indem dein Titel
etwas verspricht, was dein Inhalt nicht leistet? Willst du mich an der einen oder
der andern Stelle ergreifen, sonst aber langweilen oder abstoßen und dann auf
Nimmerwiedersehen weggelegt werden? Oder kannst du mehr? Kannst du mich
bewegen, mich aufrütteln oder mich lächeln machen? Kannst du mir ein Freund
sein, zu dem ich wieder flüchte, den ich nicht vergesse?
Wilhelm Specks Buch gehört zu den letzten, die Freunde und Begleiter
werden können und auch wohl wollen. Wollen auch? Freilich — und das
ist ein weiterer Vorzug der Dichtung — von pädagogischen Wünschen und
Mahnen ist gar nichts darin. Speck stellt seinen Bildersaal hin und sagt:
Schau! Ob du was annimmst, ist deine Sache. Ich gebe dir, wozu der Gott
in meiner Brust mich treibt. Specks Dichtung ist kein Werk der sogenannten
Heimatkunst. Es spielt irgendwo in Mitteldeutschland — Leipzig ist der einzige
vorkommende Ortsname —, dann weiter südlich in Bayern und in einem
Alpendörfchen. „Lokaltöne" und dergleichen fehlen. Das freut mich. Denn es
zeigt, daß der deutsche Geist zu vielseitig ist, als daß er sich immer wieder in
das Joch irgend einer „Richtung" spannen ließe. Und insbesondre die als
Mittel zur „Gesundung" empfohlne Heimatkunst ist nichts als eine an sich
völlig nichtssagende Redensart. Denn Gerhart Hauptmann war Heimatkünstler,
als er seine ersten naturalistischen Dramen schrieb, und blieb es in der „Ver-
sunknen Glocke," deren Stil und „Richtung" so weit vom „Sonnenaufgang"
abliegt. Fontane war es in seinen Berliner Romanen, Liliencron ists in vielen
seiner Balladen und Novellen, und auch Stephan George kann den katholischen
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