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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Die allgemeine Fortbildungsschule und die
Hozialdemokratie

on hoher Stelle soll bekanntlich einmal das Wort gebraucht worden
sein, die Sozialdemokratie sei eine vorübergehende Erscheinung.
Wenn man damit hat sagen wollen, daß die Sozialdemokratie,
wie alles Irdische, vergänglich sei und über kurz oder lang neuen
Erscheinungsformen werde Platz machen müssen, so wird man
dem selbstverständlich beitreten können. Es wird dann aber mit dem Worte
nichts neues, nicht besondres gesagt, nichts, was dem Politiker eine Grund¬
lage gäbe für seine Stellung gegenüber der Sozialdemokratie. Wenn man
aber damit hat sagen wollen, die Sozialdemokratie werde binnen kurzem, das
heißt vielleicht binnen einem Jahrzehnt oder höchstens einem Menschenalter,
verschwunden oder so verwandelt sein, daß sie für den Staat keine Gefahr
mehr bedeute, so werden dem heute nur noch wenige beistimmen. Wenn auch
die Sozialdemokratie sich in den letzten Jahren nicht mehr wie früher auf
den rein negativen Standpunkt gestellt, sondern an der positiven Gesetzesarbeit
teilgenommen und namentlich für die Arbeiterschutzgesetze und die verschiednen
Novellen der Arbeiterversicherungsgesetze gestimmt hat, so hat sich damit der
revolutionäre Charakter der Partei doch nicht im mindesten geändert. Für
den, der hierüber noch im Zweifel war, wird der Dresdner Parteitag die
nötige Aufklärung gebracht haben. Die sogenannten Revisionisten sind dort,
wie immer, schimpflich unterlegen, und wenn man auch den gewaltigen Sieg
der Gegner vor allem dem übermächtigen Einfluß eines Mannes, des alten
Bebel, zuschreiben muß, so darf man doch nicht außer acht lassen, daß durch
einen Mann wie Bebel das Wesen der Sozialdemokratie verkörpert wird.
Wenn er einmal nicht mehr ist, so wird das zwar für die Partei einen großen
Verlust bedeuten, aber unersetzlich ist niemand, und am wenigsten ein Bebel.
Leidenschaftliche, herrschsüchtige Führer, die das Empfinden der Massen ver¬
steh" und demnach die Massen zu leiten und zu lenken vermögen, wird
die Sozialdemokratie immer hervorbringen, und immer werden sie über
sogenannte Revisionisten den Sieg davontragen, wenn sich nicht das Wesen
der untern Schichten unsers Volkes verändert.

Man sagt zwar, die Sozialdemokratie sei gar keine Partei des großen
Volkes, sie sei eigentlich nur eine Partei der Führer, denn nur diese Hütten
die politische Einsicht, beurteilen zu können, was das sozialdemokratische
Programm bedeute, und nur sie seien gewillt, aus diesem Programm im
Ernstfalle die äußersten Konsequenzen zu ziehn. Das mag schon richtig
sein, aber dennoch wird man anerkennen müssen, daß die sozialdemokratische
Partei die Partei der großen Massen ist. Das beweisen weniger die Millionen
von sozialdemokratischen Stimmen bei den Reichstagswahlen -- die könnten




Die allgemeine Fortbildungsschule und die
Hozialdemokratie

on hoher Stelle soll bekanntlich einmal das Wort gebraucht worden
sein, die Sozialdemokratie sei eine vorübergehende Erscheinung.
Wenn man damit hat sagen wollen, daß die Sozialdemokratie,
wie alles Irdische, vergänglich sei und über kurz oder lang neuen
Erscheinungsformen werde Platz machen müssen, so wird man
dem selbstverständlich beitreten können. Es wird dann aber mit dem Worte
nichts neues, nicht besondres gesagt, nichts, was dem Politiker eine Grund¬
lage gäbe für seine Stellung gegenüber der Sozialdemokratie. Wenn man
aber damit hat sagen wollen, die Sozialdemokratie werde binnen kurzem, das
heißt vielleicht binnen einem Jahrzehnt oder höchstens einem Menschenalter,
verschwunden oder so verwandelt sein, daß sie für den Staat keine Gefahr
mehr bedeute, so werden dem heute nur noch wenige beistimmen. Wenn auch
die Sozialdemokratie sich in den letzten Jahren nicht mehr wie früher auf
den rein negativen Standpunkt gestellt, sondern an der positiven Gesetzesarbeit
teilgenommen und namentlich für die Arbeiterschutzgesetze und die verschiednen
Novellen der Arbeiterversicherungsgesetze gestimmt hat, so hat sich damit der
revolutionäre Charakter der Partei doch nicht im mindesten geändert. Für
den, der hierüber noch im Zweifel war, wird der Dresdner Parteitag die
nötige Aufklärung gebracht haben. Die sogenannten Revisionisten sind dort,
wie immer, schimpflich unterlegen, und wenn man auch den gewaltigen Sieg
der Gegner vor allem dem übermächtigen Einfluß eines Mannes, des alten
Bebel, zuschreiben muß, so darf man doch nicht außer acht lassen, daß durch
einen Mann wie Bebel das Wesen der Sozialdemokratie verkörpert wird.
Wenn er einmal nicht mehr ist, so wird das zwar für die Partei einen großen
Verlust bedeuten, aber unersetzlich ist niemand, und am wenigsten ein Bebel.
Leidenschaftliche, herrschsüchtige Führer, die das Empfinden der Massen ver¬
steh« und demnach die Massen zu leiten und zu lenken vermögen, wird
die Sozialdemokratie immer hervorbringen, und immer werden sie über
sogenannte Revisionisten den Sieg davontragen, wenn sich nicht das Wesen
der untern Schichten unsers Volkes verändert.

Man sagt zwar, die Sozialdemokratie sei gar keine Partei des großen
Volkes, sie sei eigentlich nur eine Partei der Führer, denn nur diese Hütten
die politische Einsicht, beurteilen zu können, was das sozialdemokratische
Programm bedeute, und nur sie seien gewillt, aus diesem Programm im
Ernstfalle die äußersten Konsequenzen zu ziehn. Das mag schon richtig
sein, aber dennoch wird man anerkennen müssen, daß die sozialdemokratische
Partei die Partei der großen Massen ist. Das beweisen weniger die Millionen
von sozialdemokratischen Stimmen bei den Reichstagswahlen — die könnten


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[0766] [Abbildung] Die allgemeine Fortbildungsschule und die Hozialdemokratie on hoher Stelle soll bekanntlich einmal das Wort gebraucht worden sein, die Sozialdemokratie sei eine vorübergehende Erscheinung. Wenn man damit hat sagen wollen, daß die Sozialdemokratie, wie alles Irdische, vergänglich sei und über kurz oder lang neuen Erscheinungsformen werde Platz machen müssen, so wird man dem selbstverständlich beitreten können. Es wird dann aber mit dem Worte nichts neues, nicht besondres gesagt, nichts, was dem Politiker eine Grund¬ lage gäbe für seine Stellung gegenüber der Sozialdemokratie. Wenn man aber damit hat sagen wollen, die Sozialdemokratie werde binnen kurzem, das heißt vielleicht binnen einem Jahrzehnt oder höchstens einem Menschenalter, verschwunden oder so verwandelt sein, daß sie für den Staat keine Gefahr mehr bedeute, so werden dem heute nur noch wenige beistimmen. Wenn auch die Sozialdemokratie sich in den letzten Jahren nicht mehr wie früher auf den rein negativen Standpunkt gestellt, sondern an der positiven Gesetzesarbeit teilgenommen und namentlich für die Arbeiterschutzgesetze und die verschiednen Novellen der Arbeiterversicherungsgesetze gestimmt hat, so hat sich damit der revolutionäre Charakter der Partei doch nicht im mindesten geändert. Für den, der hierüber noch im Zweifel war, wird der Dresdner Parteitag die nötige Aufklärung gebracht haben. Die sogenannten Revisionisten sind dort, wie immer, schimpflich unterlegen, und wenn man auch den gewaltigen Sieg der Gegner vor allem dem übermächtigen Einfluß eines Mannes, des alten Bebel, zuschreiben muß, so darf man doch nicht außer acht lassen, daß durch einen Mann wie Bebel das Wesen der Sozialdemokratie verkörpert wird. Wenn er einmal nicht mehr ist, so wird das zwar für die Partei einen großen Verlust bedeuten, aber unersetzlich ist niemand, und am wenigsten ein Bebel. Leidenschaftliche, herrschsüchtige Führer, die das Empfinden der Massen ver¬ steh« und demnach die Massen zu leiten und zu lenken vermögen, wird die Sozialdemokratie immer hervorbringen, und immer werden sie über sogenannte Revisionisten den Sieg davontragen, wenn sich nicht das Wesen der untern Schichten unsers Volkes verändert. Man sagt zwar, die Sozialdemokratie sei gar keine Partei des großen Volkes, sie sei eigentlich nur eine Partei der Führer, denn nur diese Hütten die politische Einsicht, beurteilen zu können, was das sozialdemokratische Programm bedeute, und nur sie seien gewillt, aus diesem Programm im Ernstfalle die äußersten Konsequenzen zu ziehn. Das mag schon richtig sein, aber dennoch wird man anerkennen müssen, daß die sozialdemokratische Partei die Partei der großen Massen ist. Das beweisen weniger die Millionen von sozialdemokratischen Stimmen bei den Reichstagswahlen — die könnten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/766>, abgerufen am 22.07.2024.