Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.Über die Nebenwirkungen der großen sozialen Gesetze Novelle keine sogenannte ..Berufsinvalidität" anerkennt, sondern eine Rente Ich habe mir Mühe gegeben, in den vorstehenden kurzen Darlegungen alle ^,... Grenzboten 1 1904
Über die Nebenwirkungen der großen sozialen Gesetze Novelle keine sogenannte ..Berufsinvalidität" anerkennt, sondern eine Rente Ich habe mir Mühe gegeben, in den vorstehenden kurzen Darlegungen alle ^,... Grenzboten 1 1904
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0643" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/293440"/> <fw type="header" place="top"> Über die Nebenwirkungen der großen sozialen Gesetze</fw><lb/> <p xml:id="ID_3640" prev="#ID_3639"> Novelle keine sogenannte ..Berufsinvalidität" anerkennt, sondern eine Rente<lb/> nur dem gewährt, der auf dem ganzen Arbeitsmarkt mit einer seinen körperlichen<lb/> und geistigen Fähigkeiten entsprechenden Arbeit nicht mehr em Drittel des von<lb/> einer gesunden Person derselben Art verdienten Lohnes gewinnen kann. kann<lb/> sehr leicht vorkommen, daß ein sonst noch durchaus rüstiger Mensch durch irgend<lb/> einen Fehler an der Ausübung gerade seines Berufs verhindert wird, aber nicht<lb/> die Tatkraft hat. sich einen andern für ihn passenden, ihm auch dasselbe Ein¬<lb/> kommen verschaffenden Beruf zuzuwenden, und nun alle Mittel anwendet, um<lb/> sich fälschlich als invalide im Sinne des Gesetzes darzustellen. Es muß an.<lb/> erkannt werden, daß bei dem in der Regel niedrigen Bildungsstande der in<lb/> Frage kommenden Personen das Gesetz hier etwas sehr Schweres verlangt, und<lb/> man könnte meines Erachtens die Unehrlichkeiten, wie sie eben geschildert worden<lb/> sind, am besten dadurch verhindern, daß man die Berufsinvalidität als Grund-<lb/> lage nähme, aber den sonst noch rüstigen Verufsinvaliden eine Teilrente gäbe,<lb/> die ihnen den Übergang in die neuen Verhältnisse dauernd erleichterte.</p><lb/> <p xml:id="ID_3641"> Ich habe mir Mühe gegeben, in den vorstehenden kurzen Darlegungen alle<lb/> die Umstände hervorzuheben, die geeignet sind, die infolge der Nentengier auf¬<lb/> tretenden häßlichen Erscheinungen zu mildern, aber es bleibt dennoch so viel übrig,<lb/> daß meine im Anfang des Aufsatzes aufgestellte Behauptung, diese Erscheinungen<lb/> stellten eine Schädigung der Volksmoral dar. bestätigt wird. Es ist em Gluck<lb/> daß die Zeugen in dem Rennverfahren nur in ganz seltnen Fallen vereidet<lb/> werden. Es würden in sicher bei eidlicher Vernehmung viele Aussagen unter¬<lb/> bleiben, aber es würde sich unzweifelhaft auch die Zahl der Meineide, und zwar<lb/> der um Lappalie», steigern. Anzeigen wegen Betrugs von solchen dle und<lb/> Recht oder Unrecht der Ansicht sind, daß eine Person die Reute unrechtmäßiger¬<lb/> weise bekomme, finden sich mit oder ohne Namensunterschrift genug in den<lb/> Akten. Wie muß auch der Neid angestachelt werden, wenn es die Haus¬<lb/> bewohner, die unter denselben Umstünden leben, mit ansehen müssen, wie em<lb/> Hausgenosse, von dem sie ganz genau wissen, daß er nicht mehr oder nicht<lb/> weniger einer Invalidenrente bedürftig ist. als sie selbst, fertig bekommen hat,<lb/> Arzt und Behörden zu täuschen, um sich in den Besitz der von allen ersehnten<lb/> Rente zu setzen! Und wie werden diese Erfahrungen durch Belehrungen der<lb/> noch Unschuldigen ausgenutzt! Jeder Sachkenner weiß Beispiele in Menge, daß<lb/> Leute, die bei der Schlußuntersuchung vor der Entlassung aus der Behandlung in<lb/> der Freude über die mehr oder weniger wiedererlangte Gesundheit tadellos der<lb/> Wahrheit entsprechende Angaben machen, diese nach kurzer Zeit aber bei un¬<lb/> verändertem objektivem Befund widerrufen — sie sind eben in der Zwischenzeit<lb/> log gemacht worden. Daß die Leute, die auf diesem Gebiet unehrlich suo.<lb/> Mf allen andern Gebieten des wirtschaftlichen Lebens tadellos sem °^r tuewen<lb/> sollten, darf man nicht annehmen, und so dehnt sich die von dem Gesetzge<lb/> nicht gewollte. aber unvermeidliche Schädigung der Moral auch noch weit uver<lb/> die ursprünglichen Kreise aus. ..</p><lb/> <p xml:id="ID_3642" next="#ID_3643"> ^,...<lb/> Wenn dem Idealisten auf sozialem Gebiet, und zu diesen zahlt sich der<lb/> Verfasser trotz seiner Erfahrungen auch, vorstehende Darlegungen wenig gefallen<lb/> werden, so ist einerseits aber auch die Kenntnis der Schattenseiten zur Be-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten 1 1904</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0643]
Über die Nebenwirkungen der großen sozialen Gesetze
Novelle keine sogenannte ..Berufsinvalidität" anerkennt, sondern eine Rente
nur dem gewährt, der auf dem ganzen Arbeitsmarkt mit einer seinen körperlichen
und geistigen Fähigkeiten entsprechenden Arbeit nicht mehr em Drittel des von
einer gesunden Person derselben Art verdienten Lohnes gewinnen kann. kann
sehr leicht vorkommen, daß ein sonst noch durchaus rüstiger Mensch durch irgend
einen Fehler an der Ausübung gerade seines Berufs verhindert wird, aber nicht
die Tatkraft hat. sich einen andern für ihn passenden, ihm auch dasselbe Ein¬
kommen verschaffenden Beruf zuzuwenden, und nun alle Mittel anwendet, um
sich fälschlich als invalide im Sinne des Gesetzes darzustellen. Es muß an.
erkannt werden, daß bei dem in der Regel niedrigen Bildungsstande der in
Frage kommenden Personen das Gesetz hier etwas sehr Schweres verlangt, und
man könnte meines Erachtens die Unehrlichkeiten, wie sie eben geschildert worden
sind, am besten dadurch verhindern, daß man die Berufsinvalidität als Grund-
lage nähme, aber den sonst noch rüstigen Verufsinvaliden eine Teilrente gäbe,
die ihnen den Übergang in die neuen Verhältnisse dauernd erleichterte.
Ich habe mir Mühe gegeben, in den vorstehenden kurzen Darlegungen alle
die Umstände hervorzuheben, die geeignet sind, die infolge der Nentengier auf¬
tretenden häßlichen Erscheinungen zu mildern, aber es bleibt dennoch so viel übrig,
daß meine im Anfang des Aufsatzes aufgestellte Behauptung, diese Erscheinungen
stellten eine Schädigung der Volksmoral dar. bestätigt wird. Es ist em Gluck
daß die Zeugen in dem Rennverfahren nur in ganz seltnen Fallen vereidet
werden. Es würden in sicher bei eidlicher Vernehmung viele Aussagen unter¬
bleiben, aber es würde sich unzweifelhaft auch die Zahl der Meineide, und zwar
der um Lappalie», steigern. Anzeigen wegen Betrugs von solchen dle und
Recht oder Unrecht der Ansicht sind, daß eine Person die Reute unrechtmäßiger¬
weise bekomme, finden sich mit oder ohne Namensunterschrift genug in den
Akten. Wie muß auch der Neid angestachelt werden, wenn es die Haus¬
bewohner, die unter denselben Umstünden leben, mit ansehen müssen, wie em
Hausgenosse, von dem sie ganz genau wissen, daß er nicht mehr oder nicht
weniger einer Invalidenrente bedürftig ist. als sie selbst, fertig bekommen hat,
Arzt und Behörden zu täuschen, um sich in den Besitz der von allen ersehnten
Rente zu setzen! Und wie werden diese Erfahrungen durch Belehrungen der
noch Unschuldigen ausgenutzt! Jeder Sachkenner weiß Beispiele in Menge, daß
Leute, die bei der Schlußuntersuchung vor der Entlassung aus der Behandlung in
der Freude über die mehr oder weniger wiedererlangte Gesundheit tadellos der
Wahrheit entsprechende Angaben machen, diese nach kurzer Zeit aber bei un¬
verändertem objektivem Befund widerrufen — sie sind eben in der Zwischenzeit
log gemacht worden. Daß die Leute, die auf diesem Gebiet unehrlich suo.
Mf allen andern Gebieten des wirtschaftlichen Lebens tadellos sem °^r tuewen
sollten, darf man nicht annehmen, und so dehnt sich die von dem Gesetzge
nicht gewollte. aber unvermeidliche Schädigung der Moral auch noch weit uver
die ursprünglichen Kreise aus. ..
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Wenn dem Idealisten auf sozialem Gebiet, und zu diesen zahlt sich der
Verfasser trotz seiner Erfahrungen auch, vorstehende Darlegungen wenig gefallen
werden, so ist einerseits aber auch die Kenntnis der Schattenseiten zur Be-
Grenzboten 1 1904
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