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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Die Rlabunkerstraße

11. Lügen wie gedruckt.

Diese volksmäßige Vergleichung führt Wnst-
marm mit Recht auf die unzuverlässigen, oft unwahr aufgebauschten Zeitungs¬
berichte zurück. Bald aber findet sich der Ausdruck ganz allgemein auf das
geduldige Papier angewandt. Die Formel "gedruckte Lügen" begegnet uns
zum Beispiel schon in Gottscheds Gedichten (1736) S. 205 und kehrt darauf
bei Lessing, Kotzebue usw. wieder. Ebenso wird schon in den "Beiträgen zur
deutschen Sprachkunde" (1794) S. 254 gebucht: "Jemandem die Haut voll
lügen, du lügst es in deinen Hals; Er lügt, als wenn es gedruckt wäre." Auch
die Wendung "gelogen wie telegraphiert" soll schon vor Bismarck der
Politische Schriftsteller Karl Heinzen nach der Angabe von Johannes Scherr
gebraucht haben.


12. Schweigetaler.

Das Wort ist sonderbarerweise im Deutschen Wörter¬
buche ganz Übergängen worden. Nur das farblose "Schweigegeld" wird
notiert, aber ohne Beispiel. Auch Sanders läßt im Stich. Dennoch hat diese
volkstümliche Prägung anscheinend eine interessante Vergangenheit. Hoffmann
von Fallersleben bezeichnet ein vom 9. Juni 1843 datiertes Gedicht mit dieser
Überschrift, die er aber in einer besondern Anmerkung eigens begründet (Aus¬
gabe von Gerstenberg IV, 301): "Jochmanns Reliquien von Zschokke III, 232
(1833): In der guten Stadt Ulm kam -- und kommt vielleicht noch jetzt --
von den neun dasigen Stadtgeistlichen jede Woche einer an die Reihe, sämtliche
im Laufe dieser Woche vorkommenden Leichen von Stande zu bepredigen.
Wollten die Erben des Verstorbnen dem ehemaligen Beichtvater desselben, auch
wenn an diesem die Reihe nicht war, den Vorzug geben, so mußten sie vor
allen Dingen dem Wöchner einen Taler abreichen. Das hieß: der Schweige¬
taler. Der Ausdruck, ungeachtet seiner beschränkten örtlichen Bedeutung, ist
vielleicht einer allgemeinern Anwendung fähig und wert. Schriftstellerpensionen
zum Beispiel, ließen sie sich treffender bezeichnen als durch diesen -- Schweige¬
taler?" Und so hat er deun in der Tat den Ausdruck als satirische Bezeich¬
nung für die von König Friedrich Wilhelm dem Vierten ausgesetzten Jahres¬
gehälter für loyale Dichter in Umlauf gesetzt und eingebürgert. Heute ist er
besonders geläufig als Ausdruck für kleine Abfindungen und Durchstechereien.


V. L.


Die Klabunkerstraße
Lharlotte Niese Roman von
(Fortsetzung)

> er glücklichste Mensch auf dem Dovenhof war Alois Heinemmm. Ihm
leuchtete die Seligkett aus den Augen, und wenn er mit Melitta durch
den Garten ging, küßte er sie zaghaft und flüsterte ihr zu, wie er sie
liebe, und wie er Nachts aufwache, um Gott zu denken für sein Glück.
I Sie lachte über ihn und hörte ihm zu. Aber sie ermahnte ihn zum
"^l^So^it Fleiß, und er mußte täglich viele Stunden malen, und eines Tags,
"is er von einer Waldecke gesprochen hatte, die sich besonders malerisch mit alten
Eichen in eine Wiese hineinschob, da schickte Melitta ihn weg, daß er sofort eine


Grenzboten I 1904 70
Die Rlabunkerstraße

11. Lügen wie gedruckt.

Diese volksmäßige Vergleichung führt Wnst-
marm mit Recht auf die unzuverlässigen, oft unwahr aufgebauschten Zeitungs¬
berichte zurück. Bald aber findet sich der Ausdruck ganz allgemein auf das
geduldige Papier angewandt. Die Formel „gedruckte Lügen" begegnet uns
zum Beispiel schon in Gottscheds Gedichten (1736) S. 205 und kehrt darauf
bei Lessing, Kotzebue usw. wieder. Ebenso wird schon in den „Beiträgen zur
deutschen Sprachkunde" (1794) S. 254 gebucht: „Jemandem die Haut voll
lügen, du lügst es in deinen Hals; Er lügt, als wenn es gedruckt wäre." Auch
die Wendung „gelogen wie telegraphiert" soll schon vor Bismarck der
Politische Schriftsteller Karl Heinzen nach der Angabe von Johannes Scherr
gebraucht haben.


12. Schweigetaler.

Das Wort ist sonderbarerweise im Deutschen Wörter¬
buche ganz Übergängen worden. Nur das farblose „Schweigegeld" wird
notiert, aber ohne Beispiel. Auch Sanders läßt im Stich. Dennoch hat diese
volkstümliche Prägung anscheinend eine interessante Vergangenheit. Hoffmann
von Fallersleben bezeichnet ein vom 9. Juni 1843 datiertes Gedicht mit dieser
Überschrift, die er aber in einer besondern Anmerkung eigens begründet (Aus¬
gabe von Gerstenberg IV, 301): „Jochmanns Reliquien von Zschokke III, 232
(1833): In der guten Stadt Ulm kam — und kommt vielleicht noch jetzt —
von den neun dasigen Stadtgeistlichen jede Woche einer an die Reihe, sämtliche
im Laufe dieser Woche vorkommenden Leichen von Stande zu bepredigen.
Wollten die Erben des Verstorbnen dem ehemaligen Beichtvater desselben, auch
wenn an diesem die Reihe nicht war, den Vorzug geben, so mußten sie vor
allen Dingen dem Wöchner einen Taler abreichen. Das hieß: der Schweige¬
taler. Der Ausdruck, ungeachtet seiner beschränkten örtlichen Bedeutung, ist
vielleicht einer allgemeinern Anwendung fähig und wert. Schriftstellerpensionen
zum Beispiel, ließen sie sich treffender bezeichnen als durch diesen — Schweige¬
taler?" Und so hat er deun in der Tat den Ausdruck als satirische Bezeich¬
nung für die von König Friedrich Wilhelm dem Vierten ausgesetzten Jahres¬
gehälter für loyale Dichter in Umlauf gesetzt und eingebürgert. Heute ist er
besonders geläufig als Ausdruck für kleine Abfindungen und Durchstechereien.


V. L.


Die Klabunkerstraße
Lharlotte Niese Roman von
(Fortsetzung)

> er glücklichste Mensch auf dem Dovenhof war Alois Heinemmm. Ihm
leuchtete die Seligkett aus den Augen, und wenn er mit Melitta durch
den Garten ging, küßte er sie zaghaft und flüsterte ihr zu, wie er sie
liebe, und wie er Nachts aufwache, um Gott zu denken für sein Glück.
I Sie lachte über ihn und hörte ihm zu. Aber sie ermahnte ihn zum
«^l^So^it Fleiß, und er mußte täglich viele Stunden malen, und eines Tags,
"is er von einer Waldecke gesprochen hatte, die sich besonders malerisch mit alten
Eichen in eine Wiese hineinschob, da schickte Melitta ihn weg, daß er sofort eine


Grenzboten I 1904 70
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[0545] Die Rlabunkerstraße 11. Lügen wie gedruckt. Diese volksmäßige Vergleichung führt Wnst- marm mit Recht auf die unzuverlässigen, oft unwahr aufgebauschten Zeitungs¬ berichte zurück. Bald aber findet sich der Ausdruck ganz allgemein auf das geduldige Papier angewandt. Die Formel „gedruckte Lügen" begegnet uns zum Beispiel schon in Gottscheds Gedichten (1736) S. 205 und kehrt darauf bei Lessing, Kotzebue usw. wieder. Ebenso wird schon in den „Beiträgen zur deutschen Sprachkunde" (1794) S. 254 gebucht: „Jemandem die Haut voll lügen, du lügst es in deinen Hals; Er lügt, als wenn es gedruckt wäre." Auch die Wendung „gelogen wie telegraphiert" soll schon vor Bismarck der Politische Schriftsteller Karl Heinzen nach der Angabe von Johannes Scherr gebraucht haben. 12. Schweigetaler. Das Wort ist sonderbarerweise im Deutschen Wörter¬ buche ganz Übergängen worden. Nur das farblose „Schweigegeld" wird notiert, aber ohne Beispiel. Auch Sanders läßt im Stich. Dennoch hat diese volkstümliche Prägung anscheinend eine interessante Vergangenheit. Hoffmann von Fallersleben bezeichnet ein vom 9. Juni 1843 datiertes Gedicht mit dieser Überschrift, die er aber in einer besondern Anmerkung eigens begründet (Aus¬ gabe von Gerstenberg IV, 301): „Jochmanns Reliquien von Zschokke III, 232 (1833): In der guten Stadt Ulm kam — und kommt vielleicht noch jetzt — von den neun dasigen Stadtgeistlichen jede Woche einer an die Reihe, sämtliche im Laufe dieser Woche vorkommenden Leichen von Stande zu bepredigen. Wollten die Erben des Verstorbnen dem ehemaligen Beichtvater desselben, auch wenn an diesem die Reihe nicht war, den Vorzug geben, so mußten sie vor allen Dingen dem Wöchner einen Taler abreichen. Das hieß: der Schweige¬ taler. Der Ausdruck, ungeachtet seiner beschränkten örtlichen Bedeutung, ist vielleicht einer allgemeinern Anwendung fähig und wert. Schriftstellerpensionen zum Beispiel, ließen sie sich treffender bezeichnen als durch diesen — Schweige¬ taler?" Und so hat er deun in der Tat den Ausdruck als satirische Bezeich¬ nung für die von König Friedrich Wilhelm dem Vierten ausgesetzten Jahres¬ gehälter für loyale Dichter in Umlauf gesetzt und eingebürgert. Heute ist er besonders geläufig als Ausdruck für kleine Abfindungen und Durchstechereien. V. L. Die Klabunkerstraße Lharlotte Niese Roman von (Fortsetzung) > er glücklichste Mensch auf dem Dovenhof war Alois Heinemmm. Ihm leuchtete die Seligkett aus den Augen, und wenn er mit Melitta durch den Garten ging, küßte er sie zaghaft und flüsterte ihr zu, wie er sie liebe, und wie er Nachts aufwache, um Gott zu denken für sein Glück. I Sie lachte über ihn und hörte ihm zu. Aber sie ermahnte ihn zum «^l^So^it Fleiß, und er mußte täglich viele Stunden malen, und eines Tags, "is er von einer Waldecke gesprochen hatte, die sich besonders malerisch mit alten Eichen in eine Wiese hineinschob, da schickte Melitta ihn weg, daß er sofort eine Grenzboten I 1904 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/545>, abgerufen am 22.07.2024.