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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Pessimismus und Hiobdichtung

Die Direktive, die darin für die Beurteilung der Äußerungen des Haupt¬
helden vorgezeichnet ist, leuchtet jedem von selbst entgegen: Weder die Äußerungen,
die Hiob unter dem Ansturm des physischen Schmerzes ausstößt, noch die Sätze,
die ihm vom psychologisch erklärlichen Oppvsitionsstreben des Menschen entlockt
werden, überhaupt aber nicht die ersten, sondern die spätern Sentenzen des
Haupthelden sollen für seine Gesamtwürdigung maßgebend sein. Also auch wenn
Hiobs Stellung zu dem großen Leidensproblem beurteilt werden soll, ist haupt¬
sächlich auf die Worte zu lauschen, die der Dichter ihn in ruhiger Einkehr
bei sich selbst und als die im Feuer der Läuterung gereinigte Persönlichkeit
aussprechen läßt. Nach diesen Äußerungen aber trifft, wie wir gezeigt haben,
der göttliche Zorn auch in Hiobs Person nicht einen wirklich Unschuldigen, und
die Gottheit bleibt die letzte Instanz der Weltgerechtigkeit.

Folglich hat der Autor der Hiobdichtung in dem Träger der Titelrolle
uns keine Persönlichkeit dargestellt, die "bezüglich ihrer ganzen Lebensauffassung
zu dem düstersten Pessimismus geführt" wurde. Nein, er zeichnet uns einen
Menschen, der, wenn die Nacht der Trübsal ihn umhüllt und menschliche Hilfe
gänzlich versagt, mit siegesgewisser Hand hinauf in die Sternenwelt greift, um
von dort her Licht und Trost zu holen. Wir hören ja, wie der Dichter die
Hauptfigur seines großen Seelengemäldes immer kühner zu der Erkenntnis vor¬
dringen läßt (31, 35 bis 37), daß die letzte Antwort auf die Leidensfrage von
dem Weltgeiste kommen muß. Wir vernehmen ja auch, daß der Autor schließlich
die Ideen, die einst den Weltplan ausmachten und im Universum gleichsam
gebunden wurden, vor dem Geistesauge seines Haupthelden wieder lebendig
werden (38,1 ff.) und folgende -- keineswegs pessimistische -- Schlußsentenz
in ihm aufleuchten ließ: Richtet der Mensch seinen Blick auf das Weltall, so
findet er in diesem eine große Zahl von Punkten, bei denen er vor Verwundrung
stillstehen und die alles überragende Intelligenz des Weltendenkers anerkennen
muß. Hat er daraus also nicht den Schluß zu ziehen, daß diese Intelligenz
das Universum in allen Beziehungen durchwaltet? Muß er ihr nicht einen
vernünftigen Zweck auch bei der kleinen Dosis von Weltbestandteilcn zutrauen,
die nach des Menschen Empfinden als Übel zu betrachten sind? Wird er ferner
nicht auch zu dem Urteil gedrängt, daß die Weltgeschichte mit ihren Wellen¬
bergen und Wellentälern von ebenderselben überragenden Intelligenz schließlich
doch zu einer lichten Höhe geleitet werden wird?

So klingt die Hiobdichtung -- diese in dem ursprünglichen Umfang genommen,
wie sie von der jetzigen Literarkritik fast einstimmig abgegrenzt wird -- keines¬
wegs in den "düstersten Pessimismus" oder einen lähmenden Weltschmerz aus.
Nein, die Dominante, die sich aus dem fugenartigen Stimmengewirr dieser Poesie
endlich siegreich emporringe, ist das aus weitesten Geistesblick hervorblitzende
und mit allem Tapfern in der Menschenbrust zusammenstimmende: "Dennoch
bleib ich stets an dir, o Gott," das, um mit Goethe zu sprechen, die Zeiten
des Glaubens zu den größten in der Weltgeschichte gemacht hat.




Pessimismus und Hiobdichtung

Die Direktive, die darin für die Beurteilung der Äußerungen des Haupt¬
helden vorgezeichnet ist, leuchtet jedem von selbst entgegen: Weder die Äußerungen,
die Hiob unter dem Ansturm des physischen Schmerzes ausstößt, noch die Sätze,
die ihm vom psychologisch erklärlichen Oppvsitionsstreben des Menschen entlockt
werden, überhaupt aber nicht die ersten, sondern die spätern Sentenzen des
Haupthelden sollen für seine Gesamtwürdigung maßgebend sein. Also auch wenn
Hiobs Stellung zu dem großen Leidensproblem beurteilt werden soll, ist haupt¬
sächlich auf die Worte zu lauschen, die der Dichter ihn in ruhiger Einkehr
bei sich selbst und als die im Feuer der Läuterung gereinigte Persönlichkeit
aussprechen läßt. Nach diesen Äußerungen aber trifft, wie wir gezeigt haben,
der göttliche Zorn auch in Hiobs Person nicht einen wirklich Unschuldigen, und
die Gottheit bleibt die letzte Instanz der Weltgerechtigkeit.

Folglich hat der Autor der Hiobdichtung in dem Träger der Titelrolle
uns keine Persönlichkeit dargestellt, die „bezüglich ihrer ganzen Lebensauffassung
zu dem düstersten Pessimismus geführt" wurde. Nein, er zeichnet uns einen
Menschen, der, wenn die Nacht der Trübsal ihn umhüllt und menschliche Hilfe
gänzlich versagt, mit siegesgewisser Hand hinauf in die Sternenwelt greift, um
von dort her Licht und Trost zu holen. Wir hören ja, wie der Dichter die
Hauptfigur seines großen Seelengemäldes immer kühner zu der Erkenntnis vor¬
dringen läßt (31, 35 bis 37), daß die letzte Antwort auf die Leidensfrage von
dem Weltgeiste kommen muß. Wir vernehmen ja auch, daß der Autor schließlich
die Ideen, die einst den Weltplan ausmachten und im Universum gleichsam
gebunden wurden, vor dem Geistesauge seines Haupthelden wieder lebendig
werden (38,1 ff.) und folgende — keineswegs pessimistische — Schlußsentenz
in ihm aufleuchten ließ: Richtet der Mensch seinen Blick auf das Weltall, so
findet er in diesem eine große Zahl von Punkten, bei denen er vor Verwundrung
stillstehen und die alles überragende Intelligenz des Weltendenkers anerkennen
muß. Hat er daraus also nicht den Schluß zu ziehen, daß diese Intelligenz
das Universum in allen Beziehungen durchwaltet? Muß er ihr nicht einen
vernünftigen Zweck auch bei der kleinen Dosis von Weltbestandteilcn zutrauen,
die nach des Menschen Empfinden als Übel zu betrachten sind? Wird er ferner
nicht auch zu dem Urteil gedrängt, daß die Weltgeschichte mit ihren Wellen¬
bergen und Wellentälern von ebenderselben überragenden Intelligenz schließlich
doch zu einer lichten Höhe geleitet werden wird?

So klingt die Hiobdichtung — diese in dem ursprünglichen Umfang genommen,
wie sie von der jetzigen Literarkritik fast einstimmig abgegrenzt wird — keines¬
wegs in den „düstersten Pessimismus" oder einen lähmenden Weltschmerz aus.
Nein, die Dominante, die sich aus dem fugenartigen Stimmengewirr dieser Poesie
endlich siegreich emporringe, ist das aus weitesten Geistesblick hervorblitzende
und mit allem Tapfern in der Menschenbrust zusammenstimmende: „Dennoch
bleib ich stets an dir, o Gott," das, um mit Goethe zu sprechen, die Zeiten
des Glaubens zu den größten in der Weltgeschichte gemacht hat.




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[0292] Pessimismus und Hiobdichtung Die Direktive, die darin für die Beurteilung der Äußerungen des Haupt¬ helden vorgezeichnet ist, leuchtet jedem von selbst entgegen: Weder die Äußerungen, die Hiob unter dem Ansturm des physischen Schmerzes ausstößt, noch die Sätze, die ihm vom psychologisch erklärlichen Oppvsitionsstreben des Menschen entlockt werden, überhaupt aber nicht die ersten, sondern die spätern Sentenzen des Haupthelden sollen für seine Gesamtwürdigung maßgebend sein. Also auch wenn Hiobs Stellung zu dem großen Leidensproblem beurteilt werden soll, ist haupt¬ sächlich auf die Worte zu lauschen, die der Dichter ihn in ruhiger Einkehr bei sich selbst und als die im Feuer der Läuterung gereinigte Persönlichkeit aussprechen läßt. Nach diesen Äußerungen aber trifft, wie wir gezeigt haben, der göttliche Zorn auch in Hiobs Person nicht einen wirklich Unschuldigen, und die Gottheit bleibt die letzte Instanz der Weltgerechtigkeit. Folglich hat der Autor der Hiobdichtung in dem Träger der Titelrolle uns keine Persönlichkeit dargestellt, die „bezüglich ihrer ganzen Lebensauffassung zu dem düstersten Pessimismus geführt" wurde. Nein, er zeichnet uns einen Menschen, der, wenn die Nacht der Trübsal ihn umhüllt und menschliche Hilfe gänzlich versagt, mit siegesgewisser Hand hinauf in die Sternenwelt greift, um von dort her Licht und Trost zu holen. Wir hören ja, wie der Dichter die Hauptfigur seines großen Seelengemäldes immer kühner zu der Erkenntnis vor¬ dringen läßt (31, 35 bis 37), daß die letzte Antwort auf die Leidensfrage von dem Weltgeiste kommen muß. Wir vernehmen ja auch, daß der Autor schließlich die Ideen, die einst den Weltplan ausmachten und im Universum gleichsam gebunden wurden, vor dem Geistesauge seines Haupthelden wieder lebendig werden (38,1 ff.) und folgende — keineswegs pessimistische — Schlußsentenz in ihm aufleuchten ließ: Richtet der Mensch seinen Blick auf das Weltall, so findet er in diesem eine große Zahl von Punkten, bei denen er vor Verwundrung stillstehen und die alles überragende Intelligenz des Weltendenkers anerkennen muß. Hat er daraus also nicht den Schluß zu ziehen, daß diese Intelligenz das Universum in allen Beziehungen durchwaltet? Muß er ihr nicht einen vernünftigen Zweck auch bei der kleinen Dosis von Weltbestandteilcn zutrauen, die nach des Menschen Empfinden als Übel zu betrachten sind? Wird er ferner nicht auch zu dem Urteil gedrängt, daß die Weltgeschichte mit ihren Wellen¬ bergen und Wellentälern von ebenderselben überragenden Intelligenz schließlich doch zu einer lichten Höhe geleitet werden wird? So klingt die Hiobdichtung — diese in dem ursprünglichen Umfang genommen, wie sie von der jetzigen Literarkritik fast einstimmig abgegrenzt wird — keines¬ wegs in den „düstersten Pessimismus" oder einen lähmenden Weltschmerz aus. Nein, die Dominante, die sich aus dem fugenartigen Stimmengewirr dieser Poesie endlich siegreich emporringe, ist das aus weitesten Geistesblick hervorblitzende und mit allem Tapfern in der Menschenbrust zusammenstimmende: „Dennoch bleib ich stets an dir, o Gott," das, um mit Goethe zu sprechen, die Zeiten des Glaubens zu den größten in der Weltgeschichte gemacht hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/292>, abgerufen am 24.08.2024.