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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Der Held von Graudenz

Vierzig Murr des Bataillons Borel während des Gefechts zum Feind über,
und die Wachtmannschaft auf Lünette Ur, 2, in der Stärke von dreißig Mann,
fesselte den wachthabenden Offizier, den Fähnrich von Goulard, vom Regiment
von Manstein, an Händen und Füßen mit seiner eignen Schärpe und knebelte
ihn mit dem eignen Taschentuche, worauf sie mit allen Waffen desertierte.
Mehrere Stunden war deshalb die Festung einem feindlichen Überfall offen,
und die Wache wurde erst wieder besetzt, als der inspizierende Oberst von
Obernitz die Sache entdeckte.

Inzwischen waren die Franzosen unaufgehalten vorgerückt, und der pol¬
nische Aufstand begann, sich nach Westpreußen hinüberzuziehn. Am 11. No¬
vember wußte man in Graudenz, daß die Franzosen in Bromberg, am 14., daß
sie in Schwetz angelangt seien. Am 15. November wurde in der Stadt Alarm
geschlagen, und die Garnison trat unter die Waffen. Eine Abteilung preußischer
Reiter hatte vom jenseitigen Weichselufer zwei gefangne französische Husaren
eingebracht, wobei einige Schüsse gefallen waren. Der Wirrwarr in der Stadt
war groß; überall herrschte unter der Einwohnerschaft Furcht und Bangigkeit.
Der König war zum letztenmal nach der Festung geritten und sah selbst den
Feind am jenseitigen Ufer, blieb aber mit der Königin noch in Graudenz, um
die Einwohner zu beruhigen. Am 16. November reiste der Hof mit Tages¬
anbruch nach Osterode ab, und bald darauf überbrachte ein französischer Oberst
vom Lannesschen Korps ein Schreiben. Der Major von Ziethen fuhr hinüber
und nahm es entgegen. Es war natürlich eine Aufforderung zur Übergabe
der Festung. Courbiere beantwortete sie dadurch, daß er den sogenannten
Schanzenberg, oberhalb des Zugangs zu der hart bei der Stadt liegenden
Weichselbrücke, stark mit Geschützen zu besetzen und die Brücke zu zerstören
befahl. Man hieb die Ankertaue am jenseitigen Ufer durch, ließ die los¬
gerissenen Brückenteile mit dem Strome treiben und die stehn gebliebner in
Brand stecken. Man rettete selbst von dem Brückenmaterial, was zu retten
möglich war; zwei Pontons und vierzig Ankertaue wurden eingebracht, und der
Artillerie wurden 1100 Bohlen zu Bettungen überwiesen. Das Korps des
Generals von L'Estocq, das am jenseitigen Ufer stand, um die Festungsarbeiten
zu decken, mußte am 5. Dezember die Verteidigung der Weichsel aufgeben und
nach Osterode abmarschieren, um dort den Anschluß an andre Überreste des
preußischen Heeres zu suchen. Bald darauf fielen mit der Stadt Thorn auch
die dort liegenden großen Magazine in französische Hände. Nun kamen die
Franzosen auch in die Nähe von Graudenz. Schon am 4. Dezember hatten
die.Husarenpatrouillen mit französischen Chasseurs auf der nach Kulm führenden
Straße ein Scharmützel gehabt, und am 12. Dezember waren die in der Stadt
Graudenz gebliebner Truppen, verstärkt durch ein Kommando von Jägern und
Husaren aus der Festung, in der Nähe des Gutes Rondsen, etwa fünf Kilo¬
meter von Graudenz, den ganzen Tag am Feinde gewesen.

(Fortsetzung folgt)




Der Held von Graudenz

Vierzig Murr des Bataillons Borel während des Gefechts zum Feind über,
und die Wachtmannschaft auf Lünette Ur, 2, in der Stärke von dreißig Mann,
fesselte den wachthabenden Offizier, den Fähnrich von Goulard, vom Regiment
von Manstein, an Händen und Füßen mit seiner eignen Schärpe und knebelte
ihn mit dem eignen Taschentuche, worauf sie mit allen Waffen desertierte.
Mehrere Stunden war deshalb die Festung einem feindlichen Überfall offen,
und die Wache wurde erst wieder besetzt, als der inspizierende Oberst von
Obernitz die Sache entdeckte.

Inzwischen waren die Franzosen unaufgehalten vorgerückt, und der pol¬
nische Aufstand begann, sich nach Westpreußen hinüberzuziehn. Am 11. No¬
vember wußte man in Graudenz, daß die Franzosen in Bromberg, am 14., daß
sie in Schwetz angelangt seien. Am 15. November wurde in der Stadt Alarm
geschlagen, und die Garnison trat unter die Waffen. Eine Abteilung preußischer
Reiter hatte vom jenseitigen Weichselufer zwei gefangne französische Husaren
eingebracht, wobei einige Schüsse gefallen waren. Der Wirrwarr in der Stadt
war groß; überall herrschte unter der Einwohnerschaft Furcht und Bangigkeit.
Der König war zum letztenmal nach der Festung geritten und sah selbst den
Feind am jenseitigen Ufer, blieb aber mit der Königin noch in Graudenz, um
die Einwohner zu beruhigen. Am 16. November reiste der Hof mit Tages¬
anbruch nach Osterode ab, und bald darauf überbrachte ein französischer Oberst
vom Lannesschen Korps ein Schreiben. Der Major von Ziethen fuhr hinüber
und nahm es entgegen. Es war natürlich eine Aufforderung zur Übergabe
der Festung. Courbiere beantwortete sie dadurch, daß er den sogenannten
Schanzenberg, oberhalb des Zugangs zu der hart bei der Stadt liegenden
Weichselbrücke, stark mit Geschützen zu besetzen und die Brücke zu zerstören
befahl. Man hieb die Ankertaue am jenseitigen Ufer durch, ließ die los¬
gerissenen Brückenteile mit dem Strome treiben und die stehn gebliebner in
Brand stecken. Man rettete selbst von dem Brückenmaterial, was zu retten
möglich war; zwei Pontons und vierzig Ankertaue wurden eingebracht, und der
Artillerie wurden 1100 Bohlen zu Bettungen überwiesen. Das Korps des
Generals von L'Estocq, das am jenseitigen Ufer stand, um die Festungsarbeiten
zu decken, mußte am 5. Dezember die Verteidigung der Weichsel aufgeben und
nach Osterode abmarschieren, um dort den Anschluß an andre Überreste des
preußischen Heeres zu suchen. Bald darauf fielen mit der Stadt Thorn auch
die dort liegenden großen Magazine in französische Hände. Nun kamen die
Franzosen auch in die Nähe von Graudenz. Schon am 4. Dezember hatten
die.Husarenpatrouillen mit französischen Chasseurs auf der nach Kulm führenden
Straße ein Scharmützel gehabt, und am 12. Dezember waren die in der Stadt
Graudenz gebliebner Truppen, verstärkt durch ein Kommando von Jägern und
Husaren aus der Festung, in der Nähe des Gutes Rondsen, etwa fünf Kilo¬
meter von Graudenz, den ganzen Tag am Feinde gewesen.

(Fortsetzung folgt)




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[0286] Der Held von Graudenz Vierzig Murr des Bataillons Borel während des Gefechts zum Feind über, und die Wachtmannschaft auf Lünette Ur, 2, in der Stärke von dreißig Mann, fesselte den wachthabenden Offizier, den Fähnrich von Goulard, vom Regiment von Manstein, an Händen und Füßen mit seiner eignen Schärpe und knebelte ihn mit dem eignen Taschentuche, worauf sie mit allen Waffen desertierte. Mehrere Stunden war deshalb die Festung einem feindlichen Überfall offen, und die Wache wurde erst wieder besetzt, als der inspizierende Oberst von Obernitz die Sache entdeckte. Inzwischen waren die Franzosen unaufgehalten vorgerückt, und der pol¬ nische Aufstand begann, sich nach Westpreußen hinüberzuziehn. Am 11. No¬ vember wußte man in Graudenz, daß die Franzosen in Bromberg, am 14., daß sie in Schwetz angelangt seien. Am 15. November wurde in der Stadt Alarm geschlagen, und die Garnison trat unter die Waffen. Eine Abteilung preußischer Reiter hatte vom jenseitigen Weichselufer zwei gefangne französische Husaren eingebracht, wobei einige Schüsse gefallen waren. Der Wirrwarr in der Stadt war groß; überall herrschte unter der Einwohnerschaft Furcht und Bangigkeit. Der König war zum letztenmal nach der Festung geritten und sah selbst den Feind am jenseitigen Ufer, blieb aber mit der Königin noch in Graudenz, um die Einwohner zu beruhigen. Am 16. November reiste der Hof mit Tages¬ anbruch nach Osterode ab, und bald darauf überbrachte ein französischer Oberst vom Lannesschen Korps ein Schreiben. Der Major von Ziethen fuhr hinüber und nahm es entgegen. Es war natürlich eine Aufforderung zur Übergabe der Festung. Courbiere beantwortete sie dadurch, daß er den sogenannten Schanzenberg, oberhalb des Zugangs zu der hart bei der Stadt liegenden Weichselbrücke, stark mit Geschützen zu besetzen und die Brücke zu zerstören befahl. Man hieb die Ankertaue am jenseitigen Ufer durch, ließ die los¬ gerissenen Brückenteile mit dem Strome treiben und die stehn gebliebner in Brand stecken. Man rettete selbst von dem Brückenmaterial, was zu retten möglich war; zwei Pontons und vierzig Ankertaue wurden eingebracht, und der Artillerie wurden 1100 Bohlen zu Bettungen überwiesen. Das Korps des Generals von L'Estocq, das am jenseitigen Ufer stand, um die Festungsarbeiten zu decken, mußte am 5. Dezember die Verteidigung der Weichsel aufgeben und nach Osterode abmarschieren, um dort den Anschluß an andre Überreste des preußischen Heeres zu suchen. Bald darauf fielen mit der Stadt Thorn auch die dort liegenden großen Magazine in französische Hände. Nun kamen die Franzosen auch in die Nähe von Graudenz. Schon am 4. Dezember hatten die.Husarenpatrouillen mit französischen Chasseurs auf der nach Kulm führenden Straße ein Scharmützel gehabt, und am 12. Dezember waren die in der Stadt Graudenz gebliebner Truppen, verstärkt durch ein Kommando von Jägern und Husaren aus der Festung, in der Nähe des Gutes Rondsen, etwa fünf Kilo¬ meter von Graudenz, den ganzen Tag am Feinde gewesen. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/286>, abgerufen am 24.08.2024.